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RESPEKT UND GUTE MANIEREN

Doch so grau und einengend man sich den Alltag in einem katholischen Mädcheninternat mit Schuluniform, täglichem Messebesuch und Putzmittelkunde vorstellt, Gardi Hutter spricht auch positiv über ihre zwei Jahre in Stella Maris.

Mag die Bibliothek auch weitgehend so bestückt sein, dass es für brave katholische Mädchen passt, so gibt es hier immerhin viele Bücher: Neben den christlich-katholischen Lebensorientierungsbüchern oder Literatur zum Marienleben als vorbildhaftem Frauenleben stehen auch klassische und zeitgenössische Schriftsteller in den Gestellen, und Gardi darf lesen, so viel sie will. Es gilt als wertvoll und ist eine anerkannte Beschäftigung, nicht so wie daheim. Und so liest sich die wissbegierige junge Frau intensiv durch das Angebot des Hauses.

Die vielen Stunden in Hauswirtschaft, Handarbeit und Kochen missfallen ihr nicht. Sie arbeitet gerne mit den Händen, und auch der geregelte Alltag und die Disziplin, die verlangt werden, stören sie nicht besonders. «Dass es streng zu- und herging, machte mir nichts aus. Das kannte ich von zu Hause. Wichtiger war, dass man mir hier mit Respekt begegnete. Der Umgangston war anders. Ich war nicht das kleine Kind, das man herumkommandierte. Man nahm uns für voll und ging anständig mit uns um. Es gab jüngere Schwestern, die ich mochte und bewunderte, intelligente und engagierte Frauen, ganz anders als die überalterten Nonnen, die ich in Altstätten erlebt hatte. Die Frauen hier strahlten eine gewisse Würde aus, das faszinierte mich.»

Sie erinnert sich an eine Szene beim Völkerball. Eine der Nonnen spielt mit, und aus Versehen greift Gardi statt nach dem Ball nach deren Schleier und hält ihn in der Hand. Sie und die anderen Schülerinnen sind starr vor Schreck, weil die Klosterfrau plötzlich mit geschorenem Kopf entblösst vor ihnen steht. Es gibt keine Strafe, aber Gardi Hutter sagt, sie habe erst in diesem Moment bewusst realisiert, dass da eine ganz normale Frau vor ihr stand. Nur die Gewänder machten aus ihr dieses entrückte Wesen.

Wenn sie am Wochenende oder in den Ferien heimkommt, bemerkt sie nun die Unterschiede. Sie findet, dass es am Familientisch sehr grob zugeht. Angewidert betrachtet sie, wie die Brüder das Essen in sich hineinschaufeln und keine Ahnung von Tischmanieren haben. Sie hat mittlerweile gelernt, dass man gerade auf dem Stuhl sitzt und sich nicht anlehnt, denn im Rücken befindet sich ein Schutzengel, den darf man nicht zerquetschen. Also sitzt sie gerade. Ausserdem werden nur die Handgelenke auf dem Tisch aufgestützt. Ellenbogen und dergleichen haben dort nichts zu suchen, und den Löffel führt man zum Mund und nicht den Mund zum Löffel. Die drei Brüder amüsieren und ärgern sich über die neuen Allüren der wohlerzogenen Schwester, die sich aufspielt mit ihren Benimmregeln. Und nicht nur bei Tisch nervt sie die Geschwister. Alle finden, sie übertreibe, als sie auch noch ein eigenes Badetuch verlangt, so wie sie es aus dem Internat gewohnt ist.

An solchen Wochenenden in Altstätten gilt selbstverständlich weiterhin, dass sie mithelfen muss. Dazu gehören auch Reinigungsarbeiten im Haus. Die ganze Theorie dazu wird ihr in Stella Maris ja intensiv vermittelt, so kann sie das Gelernte nun praktisch üben. Sie muss aber nicht nur ihr eigenes Zimmer putzen, sondern auch die Zimmer der Brüder – in den Augen der Mutter eine selbstverständliche Vorbereitung auf das künftige Leben als Hausfrau. In den Augen von Gardi eine Demütigung, die dadurch verstärkt wird, dass sich die Brüder über die Schwester lustig machen, die deren Staub und Dreck entfernen muss. Bei Gardi trägt es zur Wut bei, die sich über die Jahre in ihr aufstaut.

ZWISCHEN DEN WELTEN

Die Entfernung zu ihrer Herkunft beginnt in der Internatszeit zu wachsen. Gardi Hutter verliert ihre Freundinnen aus der Primarschule und fühlt sich zu Hause nicht mehr wirklich wohl. Sie mag das Internat zwar, distanziert sich innerlich aber schleichend von den katholisch geprägten Inhalten und identifiziert sich auch nicht mit dem «Berufsziel» der guten Hausfrau. So wie es ihr schon als Kind auffiel, dass ihre Familie weder zu den Armen noch zu den Reichen gehörte, so wie sie sich nie für eine reine Mädchen- oder Bubenwelt entscheiden konnte, so empfindet sie sich nun als Teenager immer stärker als «Wanderin zwischen den Welten». Die grossen Fragen der Adoleszenz – wer bin ich, wer will ich sein, was interessiert mich, wohin gehöre ich – akzentuieren sich bei Gardi Hutter noch durch die seit ihrer Kindheit bestehenden Fremdheitsgefühle. Der in der Familie oft gehörte Satz «Gardi spinnt» sitzt tief und prägt sie bis heute. «Ich hatte und habe häufig das Gefühl, nicht ganz dazuzugehören, und habe früh gelernt, mit unterschiedlichsten Situationen und Umfeldern umzugehen. Das kommt mir als heutiger Berufsnomadin sehr zugute.»

Die Zusammenfassung der Internatszeit bleibt erstaunlich positiv: «Ich lernte gesellschaftlich anerkannte Benimmregeln und einen verfeinerten Umgangston. Weit wichtiger war aber, dass ich daheim als Mädchen immer in der Minderheit war, ‹die Andere›. Plötzlich war ich nur noch von Frauen und Mädchen umgeben. Ich war nicht mehr die Spinnerin, sondern so wie alle anderen und gehörte zu einer Gemeinschaft. Das hatte etwas Stärkendes.»

Doch so gut sie über das Internat berichtet, der gravierende Nachteil ist: Der Stundenplan ist mit seinem Fokus auf Sprachen und Hauswirtschaft nicht auf eine höhere Ausbildung ausgerichtet. Algebra und Geometrie fehlen im Lehrplan. Gardi Hutter würde aber gerne, so wie der ältere Bruder Fredi, die Mittelschule in St. Gallen besuchen, um die Matura zu machen. Gardis Noten sprechen weiterhin dafür. In der Tabelle über Schulbesuch, Fleiss und Leistungen von 1967/68 weist sie in praktisch allen Fächern Bestnoten auf.

Als sie den Wunsch zu Hause äussert, ist die Mutter zunächst dagegen – ausgerechnet sie, die in ihrer Jugend punkto Bildung auch ausgebremst wurde. Doch nun hat sie selbst das gesellschaftliche Vorurteil verinnerlicht, dass Mädchen nur auf dumme Gedanken kommen, wenn sie studieren. Erst ein Hausbesuch des Vikars, der Gardi als Leiterin bei den Pfadfindern sehr schätzt, stimmt die Eltern um. Sie soll es in St. Gallen versuchen.

Doch als sie sich an der Kantonsschule am Burggraben erkundigt, ob sie die Aufnahmeprüfung für die Mittelschule machen könne, wird die Anfrage wegen der fehlenden Algebra- und Geometriekenntnisse negativ beantwortet. Die auf Mädchen ausgerichtete Internatsausbildung hat sie in eine Sackgasse geführt.

Zumindest in der Diplomklasse der Handelsabteilung der Kantonsschule nimmt man sie auf. Sie wird dort nicht mit einer Matura abschliessen, sondern ein halbes Jahr früher mit einem Diplom. Die Eltern sind einverstanden mit dem Plan. Die Tochter ist zwar erst 15 Jahre alt, aber sie vertrauen darauf, dass sie im Internat genügend sittsam erzogen worden ist, um in der fernen Kantonshauptstadt nicht in die falschen Kreise zu geraten.

Gardi Hutter wüsste auch gar nicht, was falsche Kreise sind. Ausserdem ist sie vollkommen unaufgeklärt. Sie weiss gerade mal, dass Kinder nicht vom Storch kommen, sondern dass Frauen sie gebären. Den Weg dahin hat ihr nie jemand erklärt. Nicht einmal über die Menstruation hat die Mutter je mit ihr gesprochen. Als es bei Gardi so weit ist, lebt sie im Internat. Sie erschrickt sehr über das Blut in der Unterwäsche. Hat sie sich innerlich verletzt? Als es nicht aufhört, wendet sie sich an eine Schwester, die ihr ruhig erklärt, dass das normal sei und nun jeden Monat passieren werde. Weitere Erklärungen gibt es nicht, nur noch ein paar auswaschbare Binden, die man in die Unterhose knöpft.

Sexualität wird zu Hause ausschliesslich im Zusammenhang mit Verboten thematisiert. Vor der Internatszeit setzt sich die Mutter eines Abends an ihr Bett und erklärt ihr, dass sie sich auf keinen Fall «dort unten» anfassen dürfe. Das sei eine ganz schwere Sünde. Gardi nimmt es sich zu Herzen. Als sie älter wird, erklärt ihr die Mutter eindringlich, dass junge Männer von Natur aus triebhaft seien, doch junge Frauen, die mitmachten, seien «Büchsen», ein anderes Wort für Hure.

Die Abschirmung im Internat unter lauter Mädchen, die genauso wenig aufgeklärt wurden wie sie, und unterrichtet von Nonnen, die ein Keuschheitsgelübde abgelegt haben, all das bewirkt, dass die 15-jährige Gardi Stella Maris verlässt und von nichts eine Ahnung hat, was Sexualität und ihren eigenen Körper betrifft.

BERUFSZIEL CHEFSEKRETÄRIN

Im April 1968 beginnt Gardi Hutter die vierjährige Ausbildung an der Handelsabteilung der Kantonsschule am Burggraben in St. Gallen. Letztlich geht es hier weiter mit einer klassischen Mädchenausbildung. Der Fokus liegt auf Allgemeinbildung und Sprachen. Gardi lernt Stenografie, doppelte Buchhaltung, Schreibmaschine, soll aber auch über Literatur und Kunst sprechen können. «Das Berufsziel war gebildete Chefsekretärin. Rückblickend gesehen ist es doch verrückt, dass meine Mutter, die nicht Lehrerin werden durfte, mir letztlich eine höhere Bildung verweigerte.» Wobei das Wort «Verweigerung» wohl etwas zu hart ist. Ihrer Mutter ist vor allem die katholische Erziehung wichtig. Dass Gardi durch das Mädcheninternat der Weg zur Matura verbaut wurde, war kaum böse Absicht, sondern ein Nebeneffekt, der den Eltern nicht bewusst beziehungsweise auch nicht wichtig war. Sie hatten sich nie eingehender mit den Ausbildungsoptionen für ihre Kinder auseinandergesetzt.

Die Hutter-Kinder sind letztlich alle schulisch erfolgreich, aber die Ausbildungswege der Söhne ergeben sich anders als bei Gardi. Der drei Jahre ältere Fredi wird, wie erwähnt, von seinen Lehrern zur Mittelschulausbildung ermuntert. Er geht nach der Matura in St. Gallen an die ETH Zürich und macht dort einen Abschluss als Elektroingenieur. Der Vater wird ihn später als «den Ingenieur aus Zürich» bezeichnen. Der Jüngste, Gilbert, besucht noch die Sekundarschule in Altstätten, wird danach an die Mittelschule in Sargans wechseln und dort seine Matura machen. Er liebäugelt lange mit einem Theologiestudium – ein Pfarrer in der Familie, das hätte der Mutter gefallen –, wird dann aber Sekundarschullehrer. Erwin ist bereits zwanzig Jahre alt und hat seine Schneiderlehre abgeschlossen. Er wird dazu noch die höhere Fachprüfung als eidgenössisch diplomierter Kaufmann Detailhandel machen und als Nachfolger im Modehaus E. Hutter in die Fussstapfen der Eltern treten. Die drei Söhne sind bestens unterwegs. Die Tochter an und für sich auch. Die Eltern gehen davon aus, dass sie die Handelsmittelschule abschliessen, anschliessend eine Stelle als Sekretärin suchen, irgendwann den richtigen Mann finden, keusch in die Ehe gehen, eine Familie gründen und ihnen viele Enkel schenken wird. Doch ganz so einfach gestalten sich Lebenspläne im Jahr 1968 nicht mehr.

Die Welt ist daran, aus den Fugen zu geraten. Ein Teil der Jugend beginnt in diesem Frühling zu rebellieren – gegen den Mief, das Schweigen, die Verklemmtheit und Biederkeit der Elterngeneration. «Mai 68» steht als Begriff für die Rebellion der französischen Studenten, für Kapitalismus- und Vietnamkritik, für Aufbruch und Ausbruch und in der Folge auch für die sexuelle Revolution und die Forderungen der Frauenbewegung. Doch mag der Mai 1968 in Paris zeitlich auch mit Gardi Hutters Beginn an der Handelsmittelschule in St. Gallen zusammenfallen und die Welle der Empörung schon im Monat darauf mit dem Globuskrawall Zürich erreichen – die Ostschweiz muss sich noch etwas gedulden. Aber auch hier wird sich eine kleine, aktive Achtundsechziger-Gruppe bilden, und die neugierige, lebenshungrige Gardi Hutter wird in diese – nach elterlichen Massstäben – falschen Kreise geraten.

«Glücklicherweise war die Handelsmittelschule in St. Gallen» ist denn auch der erste Satz, den Gardi Hutter zur Fortsetzung ihrer Schulzeit fallen lässt. Das Wichtigste ist für sie der Abstand zum Elternhaus. Sie hat ihn schon in Rorschach genossen und will ihn nicht mehr aufgeben. Sie will raus aus der Enge daheim, weg von der sozialen Kontrolle im kleinen Altstätten. Nicht, dass sie das zu Hause offen thematisieren könnte oder würde, aber für sich selbst hat sie es beschlossen. Sie wird langsam erwachsen, und es wird ihr bewusst, dass es noch einiges anderes auf der Welt gibt als das, was ihr die Eltern vorleben.

Zunächst heisst es zwar wieder zu Hause wohnen. Aber sie kann mit dem drei Jahre älteren Bruder Fredi, der einen Führerschein hat und den alten Wagen der Eltern benutzen darf, die gute halbe Stunde Schulweg von Altstätten nach St. Gallen machen. Doch dann geschieht im Laufe des ersten Handelsschuljahres, bei schlechtem Wetter im St. Galler Tobel, ein Unfall. Das Auto gerät über die Strasse und rutscht einen Abhang hinunter. Fredi kann unverletzt aus dem Auto springen, Gardi landet leicht verletzt im Spital. Sie hat sich am eingebauten Radio das Knie aufgerissen und hat eine Gehirnerschütterung. Die Sache ist glimpflich ausgegangen, nur eine Narbe bleibt. Der Unfall hat jedoch eine unerwünschte Nebenwirkung. Die Eltern kommen ins Spital, und die Mutter stellt fest, dass Gardi im Auto nicht die adretten Kleider aus dem eigenen Geschäft trug, sondern in Hippieklamotten aus dem Brockenhaus unterwegs war. So entdeckt sie, dass die Tochter morgens das Elternhaus zwar ordentlich gekleidet verlässt, sich im Auto aber kurzerhand umzieht und in der Schule Sachen trägt, die sie cooler und bequemer findet. Wutentbrannt über das «textile Doppelleben» der Teenagerin nimmt die Mutter «die Lumpen» mit und verbrennt sie zu Hause im offenen Kamin. Diese Szene hat sich noch einige Male wiederholt.

Die nächste Episode dreht sich um eine Hose, die sie bei einem Aufenthalt in Domat/Ems von Rosalie Leupp geschenkt bekommen hat – für die Mutter der Inbegriff eines sündigen Kleidungsstücks. Gardi hält die kostbare Hose tief unten in ihrem Schrank versteckt, zieht sie dann aber eines Morgens an und rennt so schnell wie möglich aus dem Haus. «Ich weiss noch, wie das Fenster aufging und meine Mutter mir zornig nachrief: ‹Komm sofort zurück!›, aber ich bin damit zur Schule nach St. Gallen. Ich war 16, und es war ein hocherotischer Genuss, den ganzen Tag diese Hose um die Hüfte zu spüren.» Abends gibt es Prügel für Gardi, und die Hose landet im Kamin.

Doch die Zeiten ändern sich, und zwar schnell. Die Haare werden länger, die Röcke kürzer, und Frauenhosen werden Ende der 1960er-Jahre auch im Schweizer Alltag modern. Die Zeiten sind zu Ende, in denen man als Frau nur im Kleid auf die Strasse gehen konnte. In den 1970er-Jahren öffnet sich ein ganzes Hosenuniversum mit Jeans, Schlaghosen, Einteilern, sogenannten Jumpsuits, knallengen Hüfthosen und Hotpants. Es kommen Miniröcke dazu, Plateauschuhe, Tunikas, lockere weite Blusen und Kleider mit Blumenmustern und Kreisen, alles sehr bunt – es ist die Mode der Flowerpower-Kinder. Auch wenn davon nicht alles den Weg bis ins Modehaus findet, dem Trend können sich Gardi Hutters Eltern auf Dauer nicht entziehen, dafür sind sie auch viel zu geschäftstüchtig. Und so kann man Hosen für Frauen bald einmal auch in Altstätten kaufen, und nicht nur das. Irma Hutter beginnt, sie in den 1970er-Jahren sogar selbst zu tragen – und die sündige Freude daran zu entdecken.

DATTELN UND BANANEN IM EIGENEN ZIMMER

Gardi Hutter führt in jener Zeit nicht nur bezüglich Kleider ein Doppelleben. Sie sind nur der sichtbare Teil ihrer Rebellion. An der Handelsmittelschule in St. Gallen kommt sie nach und nach mit neuen Denkwelten in Kontakt. Sie fühlt sich von den rebellierenden Jugendlichen magisch angezogen, denjenigen, die Kleider mit Löchern tragen, sich die Haare wachsen lassen, alles infrage stellen und das Bürgerliche ablehnen. Die Eltern haben wenig Ahnung vom Freiheitsdrang und den neuen Interessen ihrer Tochter. Zu Hause setzt sie gezielt ihr schauspielerisches Talent ein und mimt die brave Gardi. Sie kann das gut. Und so haben die Eltern zunächst wenig Bedenken, als sie nach einem Jahr in St. Gallen darum bittet, ein Zimmer bei einer Schlummermutter nehmen zu dürfen. Gardi argumentiert, mit dem Zimmer vor Ort hätte sie mehr Zeit für Hausaufgaben und Prüfungsvorbereitungen. Das leuchtet den Eltern ein.

Die erste Schlummermutter ist katholisch, und Männerbesuche sind strikt verboten. Gardi findet den neuen Freiraum dennoch wundervoll. Ein Mansardenzimmer an der Lustgartenstrasse 12! Ihr eigenes Leben – grossartig, endlich. Sie kauft auf dem Flohmarkt und im Brockenhaus Kissen, mit denen sie sich auf dem Boden einrichtet. Und sie kann sich noch an ihre erste Mahlzeit erinnern: «Ich lag auf meinen Kissen, ass zu Mittag Datteln und Bananen und fand es unbeschreiblich herrlich. Die Vermieterin hat mich dann ziemlich bald rausgeschmissen, weil ich angeblich eine Sauordnung hatte.»

Mit der zweiten Vermieterin hat sie mehr Glück. Sie heisst Irma Hug, arbeitet im Büro und ist alleinerziehende Mutter eines Sohns, der etwas älter als Gardi ist. Als gläubige Katholikin war die Geburt des unehelichen Sohns eine Schande, aber sie liess sich nicht unterkriegen und führt ein selbstständiges Frauenleben. Gardi Hutter schildert sie als witzige, verständnisvolle und kluge Person. Gardi teilt ihr Zimmer mit Loni, einer Schulkollegin. Jede bezahlt zwanzig Franken im Monat, was auch damals wenig ist. Irma Hug schaut auf die beiden jungen Mädchen und führt eine offene, freundschaftliche Beziehung mit ihnen, die Gardi guttut. Die Wohnung ist einfach und liegt in einem unrenovierten Haus mitten in der Altstadt von St. Gallen, an der Spisergasse 15. Sie kostet nur 120 Franken, verfügt aber auch nur über kaltes Wasser und eine Toilette im Treppenhaus. Man wäscht sich am Schüttstein in der Küche, und wenn die Haare dran sind, muss erst einmal Wasser aufgekocht werden. Die Gasse liegt einen Steinwurf von der imposanten Klosterkirche entfernt, und zur Kantonsschule sind es nur ein paar Schritte.

Nach einem Jahr zieht Irma Hugs Sohn aus, und sie sucht sich eine andere Wohnung. Gardi und Loni können die günstige Altbauwohnung übernehmen. Jede bekommt ein eigenes Zimmer, und den dritten Raum vermieten sie an drei Mädchen aus Wil, die ihn nur tagsüber nutzen, um Hausaufgaben zu machen und einen Rückzugsort zu haben. Die drei Wilerinnen besuchen dieselbe Schule und sind wie Gardi auf der Suche nach alternativem Leben. Sie spielen alle Gitarre und singen rebellische Lieder. Auch Gardi spielt Gitarre. Nach langem Drängen durfte sie während der Primarschule Gitarrenstunden nehmen und hat ein paar Akkorde und Rhythmen gelernt, damals vor allem, um an Lagerfeuern Wanderlieder zu singen. Die Mädchen bringen sich gegenseitig neue Lieder bei oder hören stundenlang die gleiche Platte, um ein neues Lied zu lernen. Noten lesen kann keine – und Noten zu kaufen, kommt ihnen nicht in den Sinn.

Gardis neue Ikonen heissen Bob Dylan, Joan Baez, Buffy Sainte-Marie, Janis Joplin, Jimi Hendrix. Sie schafft sich das Buch «Protest-Lieder aus aller Welt» an. Und das Lied «Little Boxes» – 1962 von Malvina Reynolds geschrieben und von Pete Seeger bekannt gemacht – wird zum ständigen Begleiter in ihrem Leben. Der Text von «Little Boxes» mokiert sich über die Konformität der amerikanischen Mittelklasse.

Die Wohnung wird zu einem Treffpunkt für weitere Jugendliche, denn hier hat man eine elternfreie Zone. Wobei das mit der Elternfreiheit nicht ganz stimmt. Irma Hutter ist doch nicht ganz wohl beim Gedanken, dass die mittlerweile 17-jährige Gardi ohne erwachsene Aufsicht wohnt. Die Lösung sind unangemeldete mütterliche Kontrollgänge morgens um sieben Uhr an der Spisergasse. Die frühe Zeit hat zwei Vorteile. Die Mutter kann schauen, ob nicht unerwünschter Besuch in der Wohnung ist, und schafft es rechtzeitig zurück nach Altstätten, bevor das Geschäft öffnet. Wenn es also morgens um sieben Uhr klingelt, weiss Gardi Hutter, wer vor der Tür steht. Dann kommt die Mutter herein, kontrolliert, ob alles sauber und ordentlich ist, ob sich keine fremden Gestalten in der Wohnung befinden, und reist wieder ab.

Die Kontrolle von daheim wird auch monetär ausgeübt. Gardi erhält zwar monatlich Geld für Miete und Essen, aber der Betrag ist eher knapp bemessen, und die Zuwendung wird nicht etwa auf ein Konto überwiesen. «Ich ging immer Anfang Monat nach Altstätten, und ich erinnere mich, wie ich zum Vater ins Geschäft trat, verlegen danach fragte, und dann drückte er mir ebenso verlegen die paar Noten in die Hand.» Gardis Freiheitsdrang verlangt aber nach mehr Mitteln, und so geht sie in den Ferien arbeiten. Hinter dem Wohnhaus der Eltern steht die kleine Piz-Buin-Fabrik, in der Sonnencreme hergestellt wird. Gardi steht dort in den Ferien am Fliessband. In den Jahren darauf arbeitet sie an der OLMA, der grossen Ostschweizer Landwirtschaftsmesse, die jeweils im Oktober in St. Gallen stattfindet. Beim Bauernverband schenkt sie von morgens bis abends Kaffee aus und sinkt danach todmüde auf ihre Matratze in der Wohnung. Die eigenen Mittel reichen für die eine oder andere Ausgabe, von der die Eltern besser nichts erfahren.

3 830,35 ₽
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502 стр. 88 иллюстраций
ISBN:
9783039199679
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