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Henriette Reker, Köln
Die Eskalation ganz normaler Leute

Am Tag vor ihrer Wahl zur Kölner Oberbürgermeisterin überlebte Henriette Reker einen Messerangriff. Wenn jetzt Kollegen bei ihr anrufen und wegen Morddrohungen um Rat fragen, dann sagt sie: Ich bin da nicht die Richtige.


Henriette Reker tut so, als wisse sie nicht, wo der Schlüssel ist, aber jeder im Saal kann sehen, wie sie ihn hinter ihrem Rücken verborgen hält. Denn der Schlüssel ist ein besonderes Exemplar, aus Pappe und so lang wie ein Kleinkind groß ist. Die Szene spielt sich ab auf der Bühne in der zum Saal umbestuhlten Mensa der Carl-von-Ossietzky-Gesamtschule in Köln, die heute, endlich, mit jahrelanger Verspätung, eröffnet wird, und ist als Sketch angekündigt worden. „Wo ist der Schlüssel?“ heißt die Aufführung und besteht schlicht daraus, dass die Schulleiterin auf der Bühne nach dem Schlüssel sucht und Reker, die Oberbürgermeisterin der Stadt Köln, so tut, als hätte sie keinen Schimmer.

Es kann sein, dass einem das vor allem deswegen auffällt, weil natürlich jeder weiß, dass Henriette Reker vor ihrer Wahl zur Kölner Oberbürgermeisterin einen Messerangriff nur knapp überlebt hat, aber es ist tatsächlich nicht zu übersehen: Reker ist eine besonders offene, besonders zugewandte Frau. Sie ist sich nicht zu fein für den Schlüsselspaß, obwohl sie ihren Job als Stadtoberhaupt an diesem Samstagvormittag eigentlich auch mit ihrem Grußwort, einem frei und emotional gehaltenen, als getan betrachten könnte. Als der Festakt vorbei ist, lässt sich Reker ein gelbes Mottoshirt um die Schultern hängen, herzt Umstehende, ist lange im Gespräch. Sie ist in etwa so, wie man sich eine Oberbürgermeisterin in der Stadt Köln, wo den Menschen Offenheit und Herzlichkeit nachgesagt werden, vorstellen würde. Aber auch genau so, wie man es sich bei dieser Kölner Oberbürgermeisterin eben doch nicht vorgestellt hätte. Nicht, wenn man die Vorgeschichte kennt und nicht, wenn man Köln in den ersten Wochen des Jahres 2020 besucht.

Drei Tage ist es an diesem Kölner Samstag erst her, dass Unbekannte auf das Bürgerbüro des Bundestagsabgeordneten Karamba Diaby in Halle geschossen haben. Gut eine Woche ist es her, dass die Nachricht die Runde machte, der Bürgermeister von Kamp-Lintfort, eine Autostunde von Köln entfernt, wolle zu seinem Schutz im Dienst eine Waffe tragen. Zwei Monate ist es her, dass die jahrelang angefeindete Bürgermeisterin in Arnsdorf in Sachsen zurückgetreten ist. Und ein gutes halbes Jahr ist es her, dass der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke auf seiner Terrasse erschossen worden ist.

Ist das also die Bestandsaufnahme viereinhalb Jahre nach dem Messerangriff auf Henriette Reker, der eine Welle des Schocks und der Solidarität mit der Politikerin über das Land, bis nach Großbritannien und in die USA gejagt hatte? Ist es wirklich so, wie es sich anfühlt, dass die Bedrohungslage für Politiker, vor allem im Kommunalen, seither noch sehr viel schlimmer geworden ist?

Henriette Reker ist die Frau, der man diese Fragen unbedingt stellen möchte, deren Antworten man hören möchte, zunächst aber der Status Quo: Seit 2016 werden politische motivierte Straftaten gegen Amts- und Mandatsträger gesondert erfasst. In jenem Jahr zählte das Bundeskriminalamt im ganzen Land 1.841 solcher Delikte. Danach ist die Zahl zunächst gesunken, dann wieder angestiegen. 2019 wurden 1.451 solcher Taten gezählt – weniger also als in den Jahren, als besonders viele Flüchtlinge nach Deutschland kamen, als die AfD erstmals Erfolge bei Landtagswahlen erzielen konnte. Die Bürgermeisterinnen selbst haben aber ganz und gar nicht den Eindruck, als entspanne sich ihre Situation. Die Zeitschrift „Kommunal“ hat im Frühjahr 2020 fast 2.500 Bürgermeister befragt. 64 Prozent von ihnen gaben an, schon einmal bedroht oder angegriffen worden zu sein. Im Sommer 2019 waren es noch weniger als die Hälfte der Befragten gewesen. Und als der Mitteldeutsche Rundfunk1, Anfang des Jahres 2020 alle Bürgermeisterinnen und Bürgermeister in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen gebeten hat, sich an einer Umfrage zu dem Thema zu beteiligen, kamen mehr Mails in der Redaktion an als gewöhnlich. Es klingelte auch häufiger das Telefon und in der Leitung waren Bürgermeister, die nur mal erzählen wollten, wie schlimm alles ist. Die Redebedarf hatten – selbst dann, wenn sie von sich sagten, „eigentlich nicht sehr“ betroffen zu sein.

Das Interessante und zugleich Beunruhigende an den Schilderungen der Bürgermeisterinnen im ganzen Land ist: Es gibt die Fälle von krasser, teilweise tödlicher Gewalt. Die Täter stehen dann – oft erwiesenermaßen, manchmal nur mutmaßlich – politisch extrem weit rechts oder extrem weit links. Das, was die Bürgermeister aber vor allem umtreibt, ist die inzwischen ganz normale Eskalation ganz normaler Leute. Da werden wegen einer Windpark-Erweiterung alle Zufahrtsstraßen eines 770-Einwohner-Orts mit Beschimpfungen gegen den Bürgermeister besprüht. Weil jemand eine Baugenehmigung nicht bekommt, legt er Nägel in die Einfahrt zum Privathaus des Bürgermeisters. Wegen einer umstrittenen Entscheidung im Stadtrat stehen Bürgerinnen plötzlich im Garten ihres Stadtoberhaupts und beschimpfen dort dessen Kinder. All das geschieht natürlich da, wo die Gesellschaft es vermutet: Im als besonders verroht verschrienem Osten Deutschlands und überall dort, wo es den Menschen nicht gut geht. Aber, und das macht das Bild endgültig so erschreckend: Es passiert auch da, wo der Osten weit weg und das Einkommen der Menschen hoch ist, in Baden-Württemberg zum Bespiel. Dort, so hat es ein junger Bürgermeister aus Südbaden der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ erzählt, haben Eltern die Stadtverwaltung monatelang traktiert und beschimpft, weil es in den Kitas kein stilles Heilwasser sondern nur Mineralwasser medium gibt.

Die Frage ist also längst nicht mehr, ob wir wirklich ein Problem haben. Die Frage ist: Was können wir dagegen tun?

Henriette Reker ist nach der der Schuleinweihung im Kölner Stadtteil Longerich zurück ins Zentrum der Stadt gefahren. Im Rathaus ist es so still heute am Samstag, dass es lange nachhallt, wenn eine Tür ins Schloss fällt. Reker, 63 Jahre alt, sitzt an dem runden Konferenztisch in ihrem Büro, in ihrem Rücken scheint die Sonne durch die Fensterfront, und sie will eigentlich nicht mehr reden über das, was ihr im Oktober 2015 passiert ist, deshalb hier in aller Kürze: Reker war 15 Jahre lang Sozialdezernentin gewesen, erst in Gelsenkirchen, dann in ihrer Heimatstadt Köln. Über den Sommer des Jahres 2015 war es auch ihre Aufgabe, Flüchtlinge in der Stadt unterzubringen. Gleichzeitig standen die Oberbürgermeister-Wahlen an in der Stadt, Reker war eine der Kandidatinnen, sie trat als Parteilose an, aufgestellt von den Grünen, unterstützt von einer breiten Koalition. Am letzten Tag vor der Wahl stand Reker auf einem Marktplatz, Wahlkampfendspurt. Dort stach ihr ein Mann ein Messer in den Hals. Reker kam ins Krankenhaus, Intensivstation, künstliches Koma, sie überlebte nur knapp. Am Tag nach der Tat wählten die Kölner sie zu ihrer Oberbürgermeisterin, mit etwas Verspätung trat sie ihr Amt an.

Zurück in die Gegenwart, in den Januar 2020, denn es gibt etwas, darüber möchte Henriette Reker schon reden, sehr gerne sogar, und das ist das, was seither passiert ist. „Als ich angegriffen wurde, war das noch ein ziemlicher Einzelfall“, sagt sie. „Aber inzwischen hat sich die Lage verschärft. In unserer Gesellschaft gibt es Tendenzen der Verrohung.“ Sie legt Wert, das sagt sie noch, auf das „in“ in diesem Satz, es ist ihr wichtig zu sagen, dass nicht etwa die ganze Gesellschaft verrohe. „Der Angriff auf mich war ganz klar motiviert und zielte auf mich ab – obwohl ich als Sozialdezernentin bei der Unterbringung von Flüchtlingen natürlich nur meinen Job gemacht habe. Jetzt ist es oft so, dass Menschen getroffen werden sollen, die zu bestimmten Gruppen gehören.“ Karamba Diaby meint sie damit, einen Politiker, der nicht in Deutschland geboren ist, dessen Hautfarbe schwarz ist und der deshalb von Rassisten abgelehnt wird. Aber auch heute sind es immer noch Leute wie sie, wie Reker, Kommunalpolitikerinnen und -politiker, die das Ziel von Anfeindungen und Gewalt werden. „Die Kommunen sind Reparaturbetrieb dessen, was in Land und Bund nicht funktioniert“, sagt Reker. „Die Menschen erleben die unmittelbare Begegnung mit der Politik in der Kommune.“

An der Universität Bielefeld arbeitet eine Forschungsgruppe, die regelmäßig hineinfühlt in die deutsche Bevölkerung. Sie befragt die Menschen. Wie sie zur Demokratie stehen, was sie von Asylbewerberinnen halten, was von Politikern. Die Studie am Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Uni heißt „Verlorene Mitte – Feindselige Zustände“ und wird regelmäßig im Auftrag der der SPD nahestehenden Friedrich-Ebert-Stiftung erstellt. Die Ergebnisse sind düster. So steigt der aktuellsten Auflage der Studie von 2019 zufolge das Misstrauen in die Demokratie. Mehr als ein Drittel der Befragten fühlt sich durch die Politik nicht mehr vertreten und nimmt sich selbst als politisch machtlos wahr. Jede zweite Person sagt, sie traue lieber ihrem eigenen Gefühl als dem, was Experten sagen. Dieses Gefühl, so die Studienautoren, entlädt sich oft lokal – wenn die Schulen marode sind, unpopuläre Entscheidungen gefällt werden oder einfach, weil die lokale Politik greifbar ist und der Zorn irgendwo hin muss.

Wenn es irgendwo in Deutschland wieder einmal so weit ist mit der Wut und dem Zorn, dann kommt es vor, dass bei Henriette Reker in Köln das Telefon klingelt. Dann ist eine Amtskollegin oder ein Amtskollege in der Leitung und braucht Rat. Weil er oder sie eine Morddrohung erhalten hat zum Beispiel. Weil es vielleicht schon einen Angriff gegeben hat. Reker sagt, dass sie sich eigentlich nicht zur Ratgeberin berufen fühlt. „Bei mir sind die Wunden verheilt. Aber ich finde es sehr schwierig, anderen dazu Ratschläge zu geben“, sagt sie. Gerade weil Reker so überzeugend sagt, sie habe das Attentat gut verarbeitet, kann man aber statt der Bitte um einen Rat eine andere Frage an sie richten: Wie geht sie selbst mit Hass und Anfeindungen um? „Ich spreche oft darüber“, sagt sie dann, denn es gehe um so viele Menschen mehr als nur die Bürgermeisterinnen: um Feuerwehrleute, Sanitäter, Menschen, die im Sozialamt arbeiten. „Wir müssen es zu schätzen wissen, was diese Menschen für unsere Gesellschaft tun und manchmal habe ich das Gefühl, das Gegenteil ist der Fall. Es gibt die Haltung, dass die Beschäftigten im öffentlichen Dienst von den Steuergeldern bezahlt werden und man deswegen mit ihnen umgehen könne, wie man wolle. Dabei ist das einfach nicht in Ordnung. Wo wäre unsere Gesellschaft denn ohne jene, die sich für das Allgemeinwohl einsetzen?“

Und sie selbst? Was ist das Rezept von Henriette Reker, die so maximal von dem betroffen war, was sie selbst Verrohung in der Gesellschaft nennt, was anderswo Hasskriminalität heißt? „Von Kommunalpolitikern“, sagt sie, „können Einwohnerinnen und Einwohner einer Stadt Nähe erwarten. Und Nähe ist ausgerechnet zu denen wichtig, die sich abgehängt fühlen. Wenn man sie ausschließt, dann laufen sie ja erst recht den Strömungen nach, die als populistisch oder als rechtsradikal bezeichnet werden.“ Für Reker bedeutet das schon mal, dass sie maskierte Störer auf Veranstaltungen bittet, auf die Bühne zu kommen und zu sagen, was sie denken. „Ich bespreche mit denen: Sie kriegen jetzt für fünf Minuten die Bühne und dann bin ich wieder dran. Aber ich würde deswegen nie so eine Veranstaltung abbrechen. Vielen ist das unangenehm, aber oft renkt sich das dann irgendwie wieder ein.“

Ausgerechnet die Frau also, die die Nähe zu den Bürgern, so sehr verletzt hat, setzt jetzt erst recht auf Nähe. Sie sucht die Gründe für die Wut, für das Gefühl, nicht dazu zu gehören, und vielleicht schafft sie es so wirklich, jeden dazu gehören zu lassen, der das will. Dem „Spiegel“ hat Reker einmal gesagt, sie glaube nicht, dass es schon einmal eine Oberbürgermeisterin gegeben habe, die soviel geküsst und geherzt wird, wie sie selbst. Für viele andere, die immer wieder beschimpft werden, deren Wohnhäuser Ziel rechtsextremer Demonstrationen werden, die Morddrohungen erhalten, funktioniert der Weg der absoluten Nähe nicht, sie haben andere Konsequenzen gezogen. Der Rücktritt des Bürgermeisters von Tröglitz in Sachsen-Anhalt, der Rücktritt der Bürgermeisterin von Arnsdorf in Sachsen, die beide wegen ihrer Haltung zur Versorgung von Flüchtlingen unter Feuer geraten waren, wurden bundesweit bekannt. Aber es passiert immer noch und es passiert meistens ohne den großen landesweiten Aufschrei. Anfang des Jahres ist etwa Arnd Focke, ehrenamtlicher Bürgermeister in Estorf in Niedersachsen, von seinem Amt zurückgetreten. Er hatte sich schon öfter kritisch zur AfD geäußert. Die auf sein Auto geschmierten Hakenkreuze, der nächtliche Telefonterror, die Zettel mit Morddrohungen im Briefkasten, all das begann aber erst, als im Dezember in Estorf die Grundsteuer erhöht worden war.

Anders als die Geschichte von Arnd Focke hat es die von Christoph Landscheidt in die Medien geschafft, oft und groß sogar, weil sie, jedenfalls bislang, einmalig ist. Der Bürgermeister von Kamp-Lintfort hatte nach vielen Drohungen einen Antrag gestellt, im Dienst eine Waffe tragen zu dürfen. Landscheidt war, und das zeigt, wie wenig der Hass Einiger mit der meist stillen Haltung Vieler zu tun hat, bei seiner letzten Wahl mit mehr als 87 Prozent der Stimmen im Amt bestätigt worden.

Die Politik und der Staat sind gewillt, das Problem anzugehen, jedenfalls und zuvorderst mit der Kraft der Worte und der Repräsentanz. Im Sommer 2019 waren 15 Bürgermeister bei Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier eingeladen, um über Bedrohungen, Hetze und Gewalt zu sprechen. Immer wieder fährt Steinmeier in Orte, in denen Bürgermeisterinnen sich Anfeindungen erwehren müssen. Ende vergangenen Jahres hat das Innenministerium in Berlin ein umfassendes Gesetzespaket zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Hasskriminalität auf den Weg gebracht, für das es inzwischen einen Entwurf der Regierung gibt. Unter anderem soll der Paragraf 188 des Strafgesetzbuches erweitert werden. Dieser bietet Bundes- und Landespolitikerinnenn besonderen Schutz gegen üble Nachrede und Verleumdung – und soll jetzt auf alle Mandatsträger, auch im Kommunalen, ausgeweitet werden.

Während die Politik also zumindest versucht, die Probleme per Ermahnung, Präsenz und Gesetz zu lösen, setzen die Polizisten vor Ort eher darauf, dass sich die Amtsträger selbst schützen. Das LKA Rheinland-Pfalz rät ihnen offiziell, keine Spaziergänge an abgelegenen Orten zu machen, den Terminkalender so zu verwalten, dass Dritte keinen Zugang haben, das Bremssystem und die Radmuttern des Autos regelmäßig zu überprüfen.

Solche Tipps der Polizei sind beinahe ebenso gruselig wie der Hass selbst, der zu den Ratschlägen führt. Beides zusammen drängt die Frage auf: Was treibt bedrohte Kommunalpolitiker an in ihrer Arbeit, was macht ihnen Freude, was ist es, das all den Hass und die Hetze aufwiegen kann?

Im Herbst 2020 sind Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen, und in dem Bundesland bedeutet das, dass auch die Bürgermeister in jeder Stadt neu gewählt werden. In Köln wird Henriette Reker wieder antreten. „Ich bin noch nicht da, wo ich gerne wäre“, sagt sie. Sie habe Oberbürgermeisterin werden wollen, weil ihr in ihrer Arbeit als Sozialdezernentin aufgefallen sei, wie schlecht die Verwaltung in Köln für die Zukunft aufgestellt ist. „Köln ist meine Heimatstadt und deswegen wollte ich noch mehr gestalten als diesen sozialen Bereich“, sagt Reker. Sie gilt als detailversessen, manche empfinden das als unangenehm. Reker beschreibt ihre Arbeitsweise so: Sie will gut drinstecken in den Themen, nicht nur Impulse geben, sondern selbst auch mal eine Vorlage für den Stadtrat schreiben, was für die Oberbürgermeisterin einer Stadt von der Größe Kölns durchaus bemerkenswert ist. In ihrer ersten Amtszeit hat Reker in Köln eine Verwaltungsreform angestoßen. Inzwischen, erzählt die Oberbürgermeisterin, ist der Haushalt der Stadt von Anfang des Jahres an gültig – während er früher immer erst im Herbst des Jahres, für das er gelten sollte, überhaupt beschlossen worden war. Bauanträge, das geht aus den Berichten der Stadt Köln zum Stand der Reform hervor, werden heute deutlich schneller bearbeitet als früher, es soll noch schneller werden. Reker findet, dass gerade für solche großen Veränderungsprozesse schon viel erreicht worden sei. Aber es dauere eben noch, sagt Reker, manchen Bürger dauere es sogar zu lange. Sie selbst, Reker, könne das verstehen. Auch deswegen, sagt sie, will sie weiter machen.

Reker tut das, was fast alle Bürgermeister tun, wenn man sie fragt, warum sie eigentlich ihren Job machen. Sie schwärmt davon, wie gut es sich anfühlt, mitzugestalten, Dinge voranzubringen. Sie betont die Verbindung zur Heimat, das Verantwortungsgefühl für die Gesellschaft. Und bei all dem werden ihre Sätze länger, ihre Ausführungen detaillierter – sie fühlt sich wohler, über das zu sprechen, was in Köln besser werden soll, als über das, was es für sie bedeutet, wenn wie nach dem Mord an Walter Lübcke frische Drohungen bei ihr im Postfach liegen. „Ich glaube, ohne den Angriff auf mich wäre ich da viel empfindlicher“, sagt Reker. „Aber ich weiß jetzt, was wirklich schlimm ist. Und das ist nicht schlimm. Das ist unschön und das ist lästig und ich ärgere mich auch manchmal, aber sehr angemessen. Ohne das, was passiert ist, wäre ich da viel emotionaler. Ich habe dadurch ein Stück Gelassenheit bekommen.“

Am Rande I – Keiner will’s machen

In Neulewin in Brandenburg wollte niemand Bürgermeister sein. Acht lange Monate war der Ort nach der Kommunalwahl kopflos. Aber ist das schlimm? Eine Rekonstruktion.


Es ist Donnerstagabend in Neulewin und draußen liegt das Land Brandenburg schon so dunkel, dass es Städter fast ein bisschen gruselt. Drinnen in dem niedrigen Gemeindesaal flimmert das Bild eines Beamers zwischen zwei Fenstern, am Rand verschwimmt es über einer Gardine. Gut 30 Zuhörer sind gekommen, auch Kerstin Herrlich ist da an diesem Abend Ende November 2019. Aber sie reagiert gar nicht, als sie zu Beginn des Vortrags als ehrenamtliche Bürgermeisterin von Neulewin begrüßt wird. Sie nickt nicht verbindlich in die Runde, wie man es von Talkshow-Gästen kennt, deren Namen genannt werden. Sie schüttelt auch nicht den Kopf, wie man es erwarten könnte, denn in Wahrheit ist Kerstin Herrlich gar nicht die ehrenamtliche Bürgermeisterin von Neulewin. Sie ist nur die, von der sich alle wünschen, sie wäre es. Und sie ist die, die selbst über das Amt sagt: Wäre schön, wenn das jemand machen würde. Denn einen Bürgermeister oder eben eine Bürgermeisterin haben sie hier nicht in Neulewin, schon seit Monaten nicht.

Der Ort ohne Bürgermeister liegt im Oderbruch direkt an der polnischen Grenze. Friedrich der Große hat die Gegend einst trockenlegen und von Kolonisten besiedeln lassen. Es entstanden kleine Orte nach dem Muster: zwei parallele Straßen, in der Mitte Kirche, Gasthof, Schule, und entlang der Straßen niedrige Fachwerkhäuser, dahinter Felder. Heute leben etwa 1.000 Menschen in Neulewin, es gibt einen großen Landwirtschaftsbetrieb, eine Kita, mehrere Friedhöfe, den Gasthof „Zum feuchten Willi“ und einen kleinen Laden, in dem man Kaffee kaufen und Pakete abgeben kann. Und es gibt Horst Wilke, der zum Gespräch in das Gemeindezentrum eines Ortsteils von Neulewin eingeladen hat und sich noch im Stehen dafür rechtfertigt, dass es hier gerade keinen Bürgermeister gibt. Wilke hat, je nach Sichtweise, am meisten Grund zu dieser Entschuldigungsrede oder am wenigsten: Er hat den Bürgermeister-Job die vergangenen 29 Jahre gemacht. Erst in seinem Dorf Neulietzegöricke, nach einer Gemeindefusion dann in Neulewin. Aber zur Kommunalwahl im Mai 2019 ist er nicht mehr als Bürgermeister angetreten. Er sei jetzt, sagt Wilke, 66 Jahre alt, seit vier Jahren Rentner, pendele regelmäßig zu seiner Partnerin nach Berlin und wolle einfach auch mal das machen, was man am Lebensabend so mache: draußen in der Sonne sein.

Und da, draußen in der Sonne, hat Wilke ja auch einiges bewegt. Er zeigt das Haus, in dem er 1977 geheiratet hat, und die Kirche, die sie 2012 sanieren konnten. Dann zeigt er noch dieses Fachwerkhaus und jenes da hinten, das sei besonders schön. Kassettentür mit Oberlicht, Fensterkreuze, alles hübsch. Nur wenn er so spaziere, sagt Wilke, dann falle ihm immer noch auf, was es alles so zu tun gebe. Das verfaulte Hinweisschild für Wanderer da zum Beispiel. In Wilkes Amtszeit wurden Straßen erneuert und die Friedhofsgebäude saniert. Er hat für abbruchreife Häuser Käufer gefunden und dank seines guten Drahts ins Verkehrsministerium konnten sie sich zur 250-Jahr-Feier einen Bungee-Jumping-Kran leisten. Das alles, sagt er, habe ihn in der Woche 20 bis 40 Stunden Arbeit gekostet. Wer ihn so reden hört über Haushalt, Steuern, Gebühren, über Gemeindevertretungssitzungen und Bürgermeisterberatungen, dem fällt es gar nicht so schwer, das zu glauben.

Bevor er Rentner wurde, war Wilke Fahrdienstleiter bei der Deutschen Bahn, und irgendwie bekam er beides parallel hin. „Die Schichtarbeit war ideal für das Amt“, sagt Wilke. „Da hat man auch mal vormittags frei oder überhaupt unter der Woche.“ Kurz bevor er sein Amt aufgab, fiel ihm noch auf, dass der Bitumenpreis gerade sehr günstig war – und man deshalb statt der geplanten 300 Meter Straße gleich 750 Meter neu decken lassen konnte.

20 bis 40 Wochenstunden Arbeit für ein Ehrenamt – könnte das schon die Erklärung dafür sein, dass niemand ihm nachfolgen will?

Es kommt vor, dass die Bürgermeisterwahl in kleinen Gemeinden ausfällt, weil sich niemand zur Wahl stellt, immer öfter sogar. In Brandenburg war das bei der Kommunalwahl im Mai 2019 in sieben Gemeinden so, in Mecklenburg-Vorpommern in 22 und in Rheinland-Pfalz sogar in 465 Orten. Soweit ist Neulewin also nichts Besonderes in einer Zeit, in der Angriffe auf Kommunalpolitikerinnen regelmäßig Schlagzeilen machen und in der die Politik darüber nachsinnt, wie Ehrenamtler besser unterstützt werden können. Meistens aber bleiben die betroffenen Orte nicht lange ohne Bürgermeisterin. Oft bestimmen etwa die Gemeinderäte nach der Wahl einen aus ihrer Mitte. So fanden auch fast alle Brandenburger Gemeinden nach und nach doch noch einen Bürgermeister. Nur in Neulewin ist das lange nicht gelungen.

Am 19. Juni 2019, 18 Uhr kam die Neulewiner Gemeindevertretung erstmals nach der Kommunalwahl im Mai zusammen. Für den Rat hatten sich genug Kandidaten gefunden, das Gremium hatte sich sogar verjüngt. Vier von zehn Mitgliedern machen in dieser Wahlperiode das erste Mal mit. Das ist schön, aber das ist auch ein Problem: Während die alten Leistungsträger um Horst Wilke die Verantwortung in der ersten Sitzung gerne abgeben wollten, waren die jungen noch nicht bereit, sie zu übernehmen. Dazwischen saß Kerstin Herrlich, 40 Jahre alt, Karnevalistin, angestellt in einer Apotheke und immerhin schon die zweite Amtsperiode in der Gemeindevertretung. Als sie gefragt wurde, ob sie nicht die Bürgermeisterin sein wolle, war ihre erste Reaktion, so erzählt sie es und erzählen es andere, die dabei waren: „Ich würde den, der es macht, voll unterstützen.“ Aber selber machen?

Kerstin Herrlich fährt jeden Tag eine halbe Stunde zur Arbeit hin und eine halbe Stunde wieder zurück, sie hat einen zwölf Jahre alten Sohn, einen Mann und ein Haus. Einen Abend in der Woche ist Vorstandssitzung beim Neulewiner Karnevalsverein, an einem anderen Abend leitet Herrlich das Tanztraining des Vereins. Wann eigentlich, fragte sie sich, soll sie noch Bürgermeisterin sein?

Nachts um halb zwei zum Beispiel, das ginge. Das ist die Zeit, in der bei Christine Reichmuth manchmal das Telefon geklingelt hat. Reichmuth war zehn Jahre lang selbst Bürgermeisterin, seit der Fusion ist sie Ortsvorsteherin im größten Teil der Gemeinde Neulewin, ingesamt macht sie seit 27 Jahren Kommunalpolitik in ihrer Heimat. Auch sie wollte eigentlich aufhören nach der Kommunalwahl, wie Ex-Bürgermeister Wilke. Sie hatte sogar T-Shirts drucken lassen. „Wir gehen in den“ stand vorne drauf, und hinten: „Ruhestand“. Aber Reichmuth hat sich überreden lassen, weiter zu machen. Und jetzt erzählt sie von dem einen Mal, als nachts ihr Telefon klingelte und ein Neulewiner sich beschwerte: Ein Hund belle so laut. „Da hab ich gefragt, ganz nett: Soll ich vorbeikommen und mit dem Hund reden?“ Reichmuth macht die Seniorenbetreuung in mehreren Ortsteilen von Neulewin, sie leitet den Heimatverein und jetzt, im Fontane-Jahr, „mach ich auch den Fontane“, sie geht also als Dichter verkleidet in den Kindergarten und liest vor. Für den Hund, der da bellte, sagt sie, sei sie nun nicht auch noch verantwortlich, und als Bürgermeisterin komme sie mit ihren 70 Jahren nun erst recht nicht mehr infrage. Deshalb sagt Reichmuth: „Wir müssen der Kerstin zureden.“

Die Kerstin ließ sich zureden, wenigstens ein bisschen: Im Juni 2019, zwei Monate nach der Wahl, ließ sie sich zur stellvertretenden Bürgermeisterin wählen. Damit fielen ihr von da an theoretisch alle Aufgaben zu, die die eigentliche Bürgermeisterin zu bewältigen hätte – denn die gibt es ja schließlich nicht. „Ich sehe das als eine Art Probezeit“, sagt Herrlich im November, als sie den Stellvertreter-Posten schon einige Monate lang inne hatte. Es sei bis jetzt „keine Sache, die ich ungern mache“. Aber ob sie es weiter macht?

Wer im Herbst 2019 nach Neulewin fährt und davon gehört hat, dass sie dort keinen Bürgermeister finden, der erwartet einen deprimierenden Flecken, in dem niemand Lust hat, auch nur einen Kuchen fürs Feuerwehrfest zu backen. Seltsamerweise ist aber das Gegenteil der Fall. Und es sind nicht nur Horst Wilke, Kerstin Herrlich und Christine Reichmuth, eine Handvoll Leute also, die sich für den Gang der Dinge in ihrem Dorf interessieren. Es sind auch die, die den Kulturverein gegründet haben und die Turnhalle bewirtschaften, seit es die Schule im Ort nicht mehr gibt. Es ist die Frau, die von der Gemeinde einen Raum gemietet hat und darin ein Café betreibt. Es sind, nur zum Beispiel, die 30 Leute, die an dem Donnerstagabend im November ins Neulewiner Gemeindehaus gekommen sind zu der Veranstaltung, auf der Kerstin Herrlich schon ganz selbstverständlich und ganz falsch als Bürgermeistern vorgestellt worden ist. Es soll an diesem Abend nicht etwa um ein Reizthema gehen wie die Frage, wo und ob Windräder gebaut werden sollen, um etwas also, bei dem die Bude automatisch voll wird. Nein, es soll um Blumen gehen. Neulewin will Blühwiesen anlegen, zum Schutz der Insekten. Schnell wird es engagiert im Gemeindesaal. Bürger erzählen, dass sie zwar die schon angepflanzten Disteln in der Gemeinde hässlich fänden, aber dass sich etwa Natternkopf, Leinkraut und Schlüsselblumen aus ihrer eigenen Gärtner-Erfahrung für die Böden im Oderbruch sehr gut eigneten. Man müsse, sagt eine Frau, „einfach nur aufhören, sich dauernd auf unseren Rasentrecker zu setzen, dann wächst da schon was.“ Ihre Rede gibt Applaus – und es wäre nicht verwunderlich, wenn die Leute im Saal gleich geschlossen zum Gärtnern loszögen.

Warum also wollte in so einem Ort so lange keiner der Anführer sein? Horst Wilke sagt, er sei überrascht gewesen, dass „Neulewin keinen Bürgermeister hervorbringt, denn es gibt genug kluge Köpfe.“ Gleichzeitig glaubt er, den Grund dafür zu kennen. Sieben Jahre lang, bis 2018, musste Neulewin ein Haushaltssicherungskonzept erarbeiten, was bedeutet: Der Ort hatte nicht genug Geld für all das, was er so oder so bezahlen musste. Und für all das, was er gerne bezahlen wollte, eine Tischtennisplatte am Spielplatz vielleicht oder die Heizung im Gemeindehaus, war dann natürlich erst recht kein Geld da. „Finanzknappheit“, sagt Horst Wilke, „erzeugt Frust im Ehrenamt.“

Noch vor der Fusion hatte Wilke für seine Gemeinde vor dem Verfassungsgericht des Landes Brandenburg gegen die schlechte finanzielle Ausstattung der Kommunen geklagt. Der kleine Ort mit damals gerade 240 Einwohnern holte einen Teilsieg: Das Land musste fortan auch solchen Gemeinden finanziell helfen, die zwar nicht zahlungsunfähig waren, die aber auch kein Geld übrighatten, um sich mal etwas zu leisten, einen neuen Fußweg zum Beispiel. Bis heute nutzt der Fonds, der wegen des als „Neulietzegöricke-Urteil“ bekannten Beschlusses eingerichtet werden musste, darbenden Kommunen. 2017 bekam allein Cottbus 7,9 Millionen Euro aus dem Fonds. Das kleine Neulewin hat also für ordentlich Tumult gesorgt in der großen Politik. Aber bis heute, sagt Horst Wilke, sei das Gefühl in der Gemeindevertretung etwa dieses: „Warum sitzen wir denn hier zusammen, wenn wir fast nichts entscheiden können?“

Wenn das stimmt, dann wollte also keiner Bürgermeister in Neulewin werden, weil man als Bürgermeister zwar zu allerlei Sitzungen laufen muss – dort aber über nichts wirklich entscheiden kann. Nur: Was ist dann eigentlich so schlimm daran, wenn es keinen Bürgermeister oder keine Bürgermeisterin gibt?

Neulewin gehört zum Amt Barnim-Oderbruch. Dort werden insgesamt sechs Gemeinden zentral verwaltet und dort gibt es alles, was man eben so braucht für eine Verwaltung. Es gibt eine Kämmerei, ein Bauamt, ein Ordnungsamt und es gibt Amtsdirektor Karsten Birkholz. Der ist vorsichtig bei der Frage, wie wichtig eigentlich so eine Bürgermeisterin in Neulewin ist. Einerseits will er nicht den Eindruck erwecken, als sei Neulewin über Monate ein Problemfall gewesen, so kopflos wie es war. „Es gab eine stellvertretende Bürgermeisterin und damit waren erst einmal alle Sitzungen abgedeckt, hatten wir als Verwaltung eine Ansprechpartnerin.“ Andererseits will Birkholz aber auch nicht sagen, dass in Neulewin in der Zeit alles in Ordnung war – denn das hieße ja, dass ein Neulewin ohne Bürgermeister in so einem zentral verwalteten Amt nicht einmal mehr ein Problemfall wäre, sondern irgendwie egal. „Natürlich ist das eine unschöne Situation für die Gemeinde, wenn sich da kein Fürsprecher findet“, sagt Birkholz. Denn das sei das wichtigste an dem Amt: Dass die Menschen vor Ort wüssten, an wen sie sich wenden könnten. Birkholz wünscht sich nur, dass sie sich dann doch nicht so oft und vor allem nicht mit jedem Anliegen an den ehrenamtlichen Bürgermeister wendeten. „Die sind oft Ansprechpartner für alle politischen Probleme – egal, ob es um die Straßenbeleuchtung geht oder die Flüchtlingspolitik“, sagt Birkholz. Diesen Spagat, zwischen der tatsächlichen Wirkmacht einer Bürgermeisterin und den Ansprüchen der Bürger, den trauten sich viele nicht zu. „Ich wünsche mir da mehr Verständnis, dass ein Bürgermeister nicht jedes politische Problem lösen kann – strukturell nicht und auch rein zeitlich nicht“, sagt Birkholz.

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