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Denise Peikert

Bürgermeister

Was sie antreibt, wer sie umtreibt


Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2020 Kommunal- und Schul-Verlag GmbH & Co. KG · Wiesbaden

Alle Rechte vorbehalten ·

Umschlag: Guido Klütsch

ISBN 978-3-8293-1489-3

eISBN 978-3-8293-1630-9

Inhalt

Zu Beginn – ein Vorwort

Hinweis

Detlef Ebert, Löcknitz

Plötzlich Speckgürtel

Henriette Reker, Köln

Die Eskalation ganz normaler Leute

Am Rande I – Keiner will’s machen

Claus Ruhe Madsen, Rostock

Nee, komm!

Thorsten Krüger, Geestland

Cola Zero Schulden

Susanna Tausendfreund, Pullach

Grüner wird’s wirklich nicht

Am Rande II – Ministerpräsident, wie war’s im Rathaus?

Marion Prange, Ostritz

Die kommen, die Nazis

Am Rande III – Das fehlt: Frauen

Ashok Sridharan, Bonn

Wie Davos, nur ganzjährig

Daniel Schultheiß, Ilmenau

Das Ende der Wurstigkeit

Am Rande IV – Erst, wenn’s weh tut

Thomas Herker, Pfaffenhofen

Nun holt’s halt zu Fuß die Semmeln

Karola Voß, Ahaus

iKleinstadt

Dank

Zu Beginn – ein Vorwort

Das Handeln von Menschen hat Ursachen oder es verfolgt Ziele, meistens jedenfalls. Wir essen, weil wir Hunger haben, und wir ziehen eine dicke Jacke an, damit wir nicht frieren. Gelegentlich tun wir auch etwas „nur so“, aber selten. Warum oder wozu aber schlagen sich erwachsene, vernünftig denkende Zeitgenossen Abende in Gemeinderatssitzungen um die Ohren, um sich wie der Bürgermeister von Löcknitz den Vorwurf anzuhören, die von der Stadt gerade erst gepflanzten Bäume seien kahl? Warum sind sie am Wochenende nicht bei ihren Familien oder Freunden, sondern diskutieren auf Bezirksparteitagen endlos im Kreis oder eröffnen das x-te Volksfest, natürlich immer bestens vorbereitet und glänzend aufgelegt? Warum sitzen sie am Wochenende nicht „draußen in der Sonne“, wie es sich der inzwischen pensionierte Bürgermeister von Neulewin jahrelang erträumte, sondern im Feuerwehrgerätehaus, wo sie sich die immer gleichen Grußworte anhören und verdiente Mitglieder ehren? Warum erträgt es eine Bürgermeisterin in Brandenburg, nachts um halb zwei von einem wütenden Mitbürger angerufen zu werden, der nicht schlafen kann, weil irgendwo ein Hund bellt? Weil es Ruhm oder Geld verspricht oder wenigstens die Eitelkeit befriedigt?

Fragen, denen Denise Peikert in diesem Buch nachgeht. Sie hat mit Bürgermeistern und Oberbürgermeisterinnen gesprochen. Sie spürt der verborgenen Kraft nach, die sie antreibt. Die muss es geben, denn niemand wird zur Kommunalpolitik gezwungen oder als Stadtdirektorin geboren. Glamour als Triebfeder scheidet aus, denn der Bürgermeisterposten einer 3.000-Einwohner-Gemeinde bringt den Amtsinhaber selten ins Fernsehen, macht aber wie die Kunst viel Arbeit (frei nach Karl Valentin). Eine gewisse Popularität genießen Oberbürgermeister von Großstädten, aber auch die wird außerhalb der jeweiligen Gemarkungsgrenze stark überschätzt: Die Kenntnis der Namen der Rathauschefs von Dresden, Stuttgart, Frankfurt am Main und Düsseldorf dürfte in einer Fernseh-Quizsendung jedenfalls für eine fünfstellige Gewinnsumme reichen. Und dass selbst lokale Berühmtheit nicht immer glanzvoll ist, illustriert der Baudezernent einer hessischen Großstadt so: Er sitzt mit seiner Familie im Wirtshaus beim Essen, ist also erkennbar privat, da tritt ein Mitbürger an den Tisch, zieht einen Stuhl heran und sagt: „Herr Stadtrat, Sie haben doch sicher zehn Minuten Zeit für mich …“

Dabei ist das, wovon dieser Dezernent berichtet, zwar lästig, aber doch noch ein fast wertschätzendes Zugehen auf Lokalpolitiker. Was wir viel häufiger beobachten, ist das Gegenteil: Geringschätzung, Häme, Verächtlichmachung bis hin zu blankem Hass, ja bis zur Gewalt, wie die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker sie erlitten hat, und nicht nur sie. Im Sommer 2019 lud Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier 15 Bürgermeister ein, um mit ihnen über Bedrohungen, Anfeindungen und Gewalt zu sprechen, denen Kommunalpolitiker landauf, landab ausgesetzt sind.

Zwar klagte schon Thomas Jefferson über den Volkssport der Bürger, ihre Volksvertreter und Regierenden lächerlich zu machen, neu sind allerdings Maßlosigkeit und Vulgarität der Hetze. Man findet sie nicht nur in den sogenannten bildungsfernen Schichten, sondern auch in den angeblich besseren Kreisen. „Was die Bürgermeister vor allem umtreibt, ist die inzwischen ganz normale Eskalation ganz normaler Leute“, schreibt Denise Peikert. Dass jemand, dem eine Baugenehmigung versagt wurde, Nägel in die Einfahrt zum Privathaus des Bürgermeisters legt, ist zwar nicht an der Tagesordnung, es sind aber auch nicht mehr nur einzelne Durchgeknallte, die so oder so ähnlich reagieren. Es ist auch nicht das Prekariat, das Maß und Mitte verliert und vorübergehende, gerichtlich überprüfbare Pandemie-Vorsichtsregeln in einem Rechtsstaat mit dem Alltag in einer Diktatur gleichsetzt, es sind Hochschullehrer darunter. Und wer kennt nicht die großen und kleinen Wirtschaftskapitäne, die auf IHK-Empfängen abfällig äußern, sie würden den politischen Laden, diese Schwatzbude von Ahnungslosen, schon auf Vordermann bringen, wenn man sie nur ließe?

Aus welchen Denkfiguren speist sich der Affekt? Die einen meinen, Politik sei eine Art Theater, um das Volk bei Laune zu halten und es glauben zu machen, im Bundestag oder im Rathaus würden tatsächlich Entscheidungen getroffen. Wie naiv! In Wirklichkeit habe die Politik doch gar nichts mehr zu melden, die eigentliche Macht liege in den Händen von Lobbygruppen, von anonymen Märkten, der Globalisierung, des Finanzkapitals, der Amerikaner, der jüdischen Weltverschwörung. Die Reihe der finsteren Mächte ließe sich fast beliebig fortsetzen, die Begründungen sind auch Moden unterworfen.

Was kann man darauf antworten? Vermutlich nur, dass die Welt und die Politik scheußlich komplex sind, komplexer jedenfalls, als es sich die Vertreter der schlichten Handlanger-Theorie vorstellen. Außerdem gibt es in der Welt da draußen keine verborgenen, objektiv „richtigen“ Lösungen, die man nur erkennen und durchsetzen muss, was angeblich jeder Stammtischstratege oder Wutbürger kann, nur eben die bekanntlich unfähigen Politiker nicht. Schön wär’s, kann man nur sagen. Und ja, Lobbygruppen gibt es, sie haben auch Einfluss, aber das ist in offenen Gesellschaften nicht unmoralisch – zumal nicht nur die Automobilwirtschaft und die Energieerzeuger Einflussagenten haben, sondern auch Gewerkschaften, Umweltverbände und Naturschützer.

Ein anderer Topos lautet, in der Politik gehe es längst nicht mehr um „die Sache“ – wobei in der Regel offenbleibt, welche Sache gemeint ist –, sondern nur um Pöstchen und Wiederwahl. Ja, darum geht es auch. So wie in Sportvereinen, in Schulelternbeiräten und in Entwicklungshilfe-NGOs ebenfalls. Die Politik ist nämlich kein Philosophenhügel, auf dem nur die Kraft der Argumente zählt. In der Politik geht es um Interessen, um Einfluss, auch um Imponiergehabe. Kurzum: Es geht zu wie im richtigen Leben.

Häufig ist auch das Ressentiment zu hören, „die im Rathaus“ oder „die in Berlin“ wüssten ja gar nicht mehr, was „uns“ bedrücke, weil sie in ihrer eigenen Welt lebten. Mehr als ein Drittel der Bürger fühle sich durch die Politik nicht mehr vertreten, referiert Denise Peikert eine Studie von 2019. Das sollte zumal Kommunalpolitiker aufhorchen lassen. In einem Stadtteil von Frankfurt am Main kam es im Frühjahr 2020 zu einem tödlichen Unfall an einem Bahnübergang. Jahrelang hatten Anwohner auf die Gefahrenstelle hingewiesen, im Rathaus, im Ortsbeirat, bei der Bahn. Geschehen war – nichts. Es ist jener Frankfurter Bezirk, in dem die AfD bei der hessischen Kommunalwahl im März 2016 den höchsten Anteil in der ganzen Stadt bekam. Auf der Suche nach Erklärungen bekamen Lokaljournalisten schon seinerzeit immer wieder diesen Bahnübergang zu hören, viel häufiger als „die Flüchtlinge“, als Beispiel für die Entfremdung der Stadtverwaltung vom Lebensalltag der Bürger, für das verbitterte Gefühl, in einem abgehängten Stadtteil zu leben.

Und dennoch: Die große Mehrheit der Kommunalpolitiker – viele von ihnen arbeiten ehrenamtlich –, die sich für oder gegen eine Umgehungsstraße, für oder gegen ein Gewerbegebiet einsetzen, weil ihre Gemeinde ihnen am Herzen liegt, hat es weder verdient noch nötig, sich als ahnungslose, abgehobene, postengierige, lobbyhörige Clique abkanzeln zu lassen. Auch dafür liefert Denise Peikerts Buch reichlich Anschauung. Wer es liest, versteht, wovon Kommunalpolitiker sich leiten lassen, was sie antreibt und warum sie am Wochenende vielleicht auch lieber in der Sonne säßen, es aber für ihre staatsbürgerliche Pflicht halten, der freiwilligen Feuerwehr die Ehre zu erweisen.

Eine Pflicht übrigens, die sie aus eigenem Entschluss übernommen haben, weil sie wissen, dass Demokratie und Bürgergesellschaft in nicht geringem Maße von der freiwilligen Übernahme von Verantwortung leben. Frei nach Ernst-Wolfgang Böckenförde: Der freiheitliche Staat kann politische Teilnahme nicht erzwingen, sonst gäbe er seinen freiheitlichen Charakter auf, deshalb kennen wir beispielsweise auch keine Wahlpflicht. Wenn aber niemand mehr aus freien Stücken Verantwortung übernimmt, wenn alle zwar Radfahren wollen, aber niemand mehr bereit ist, Planfeststellungsbeschlüsse für neue Radwege zu erarbeiten – ja, das macht Arbeit bis spät in die Nacht –, dann sägen wir am Ast, auf dem wir sitzen. Erst wenn die letzte Bürgermeisterin und der letzte Stadtrat resigniert aufgegeben haben, werden die Pöbler und die Nägelausleger merken, dass Wutbürger keine Schulhäuser sanieren und keine Neubaugebiete ausweisen.

Vielleicht stellt ja die Corona-Krise die Verhältnisse vom Kopf auf die Füße. Eine Forsa-Umfrage von Ende Mai 2020 lässt den Schluss zu, dass unter dem Eindruck des von den meisten als umsichtig und angemessen empfundenen Handelns von Bund, Ländern und Kommunen das Vertrauen in die politischen Institutionen wieder wächst – bei allem berechtigten Dissens im Einzelnen. Mehr als die Hälfte der Deutschen und damit wieder mehr als zuvor vertrauen ihren Bürgermeistern und Oberbürgermeistern (58 Prozent), den Gemeindevertretungen (57 Prozent) und den Stadtverwaltungen (56 Prozent). Wer weiß, vielleicht müssen die Neulewiner demnächst ja nicht mehr so lange darauf warten, dass sich jemand bereitfindet, das Bürgermeisteramt zu übernehmen.

Werner D‘Inka Autor und ehemaliger Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

Hinweis

Die Texte in diesem Buch berücksichtigen beide Geschlechter. Das bedeutet auch, mit alten Sprach- und Schreibgewohnheiten zu brechen. Deshalb werden im Folgenden männliche und weibliche Form personenbezogener Substantive und Pronomen bis auf wenige Ausnahmen abgewechselt. Ein Beispiel: Sind sowohl männliche als auch weibliche Amtspersonen gemeint, ist an einer Stelle von „den Bürgermeistern“ die Rede – und an anderer Stelle von „den Bürgermeisterinnen“.

Detlef Ebert, Löcknitz
Plötzlich Speckgürtel

Löcknitz an der polnischen Grenze wächst seit Jahren. Bauflächen für Eigenheime mussten her, Schulen; die Supermärkte haben jetzt sonntags offen. Detlef Ebert ist ehrenamtlicher Bürgermeister in dem Dorf.

Er verwaltet den Boom in seiner Freizeit.


In der großen Weite zwischen Berlin und Rostock, in einem Landstrich wie dampfgewalzt, ist die Löcknitzer Burg nicht etwa weithin zu sehen, thronend auf einem Hügel, sondern sie fällt eigentlich nur denen auf, die direkt davorstehen. Der Burgturm erreicht mit Mühe die Höhe eines mittelgroßen Hauses, und im Halbdunkel daneben frieren und schweigen an einem Abend im Oktober 2019 Grüppchen von Menschen. Dann, es ist sechs Minuten vor 19 Uhr, biegt Detlef Ebert in den Burghof ein. Links trägt er seine Aktentasche, mit rechts schüttelt er allen die Hände. Danach schließt er die Tür zu einem flachen Nebengebäude des Turms auf, sein Schlüsselbund von Hausmeister-Dimension klimpert, und so hört Ebert sie nicht, zum Glück vielleicht nicht, die genervte Empörung einer Frau: „Der mit dem Schlüssel kommt zuletzt, so schnapp ab.“

Denn zu dem Zeitpunkt hat Detlef Ebert, 54 Jahre alt und der Bürgermeister von Löcknitz, schon einen ziemlich vollen Tag hinter sich. Er saß schon in seinem eigentlichen Büro in der Wohnungsbaugenossenschaft von Löcknitz, deren Vorstandsvorsitzender er ist. Dort hat er Leute empfangen, die wegen eines Rohrbruchs immer noch kein warmes Wasser haben. Das ist sein Job, damit verdient er sein Geld. Danach ist Ebert in sein zweites Büro gefahren, in das Bürgermeisterbüro in der alten Schule in Löcknitz. Dort hat er Sprechstunde, immer dienstags zwischen 16 und 18 Uhr, und dort schlich von Punkt vier an die Frau vom Arbeitslosentreff herum, die Ebert jede Woche mit Kaffee und Kuchen versorgt. Fünf nach vier, zehn nach vier – immer noch kein Bürgermeister da. Als er dann kam, 20 Minuten zu spät, wegen der Rohrbruch-Leute, balancierte Ebert Apfelkuchen, Kaffee und Aktenkoffer zu seinem Tisch. Dann hat er eilig zwei Männer empfangen, die in der Gegend Windräder bauen und Leitungen verlegen wollen. Weitergebracht, sagt er, hat ihn das Gespräch nicht, die Verhandlungen stünden wieder ganz am Anfang. Danach kam jemand, der sich mit ihm über illegales Parken am Löcknitzer See unterhalten wollte. Dann rief Eberts Lebensgefährtin an, wo er denn bleibe. Dass er gleich komme, hat Ebert ins Telefon gesagt, und dass er natürlich den Sohn vorher noch abhole.

Als Ebert auf den Burghof einbiegt, ist das Gespräch mit seiner Lebensgefährtin 40 Minuten her. 40 Minuten, in denen Ebert tatsächlich irgendwann aus dem Bürgermeister-Büro aufgebrochen ist, seinen acht Jahre alten Sohn abgeholt und nach Hause gefahren hat, zwei Bissen gegessen hat. Nun führt er den kleinen Tross vom Burghof die Treppen hoch in den Gemeindesaal, macht das Licht an, stellt die Stühle herunter, zieht die Funktionsjacke aus, legt seinen Aktenordner auf den Tisch. 19 Uhr, Sitzung der Gemeindevertretung.

Löcknitz liegt in Mecklenburg-Vorpommern an der polnischen Grenze. 3.200 Einwohner hat er Ort, Tendenz steigend. Außerdem drei Supermärkte, vier Schulen, zwei Kindergärten, mehrere Ärzte, zwei Apotheken, ein Bahnhofsgebäude mit Gastwirtschaft und ein Park-Leitsystem. Löcknitz ist, so kann man das sagen, Boom-Town. Und Detlef Ebert verwaltet den Boom in seiner Freizeit, jedenfalls theoretisch. Er ist Bürgermeister im Ehrenamt.

Im Gemeindesaal in Löcknitz geht es an diesem Oktoberabend erst um die richtige Positionierung von Bushaltestellen an der Schule, um verwitternde Kriegsgräber auf dem Friedhof und um die Sache mit den Windrädern. Jetzt kommt die Einwohnerfragestunde, es fragt: Bürgerin Frau Schröder, die, wie sie sagt „in Löcknitz geboren und alt geworden ist.“ Frau Schröder ist diejenige, die bemängelt hatte, wie spät Detlef Ebert mit dem Schlüssel gekommen sei, und hat, das stellt sich nun heraus, noch viel mehr zu bemängeln: Dass die Teiche in Löcknitz zugewuchert seien. Dass manch neu gepflanzter Baum keine Blätter trage. Dass die Mitarbeiter auf dem Friedhof die Grabsteine „mit den Händen“ hinlegen müssen, statt, wie Frau Schröder es angemessen fände, einen Bagger zu benutzen. Überhaupt, der Friedhof: Im Fernsehen, findet Frau Schröder, zeigen sie immer so schöne Friedhöfe, und in Löcknitz, da wachsen die Misteln in den Bäumen und keiner entferne sie. „Was hier los ist in Löcknitz“, ruft Frau Schröder, und macht vor lauter Entflammtheit einen kleinen Schritt nach vorn bei dem Satz, „also man schämt sich.“ Zweimal, sagt Frau Schröder noch, sei sie schon bei Herrn Ebert gewesen wegen der Misteln, „und Sie haben mir keine richtige Antwort gegeben.“

An diesem Abend, in der Gemeindevertretung sagt Detlef Ebert nichts zu Frau Schröder. Er lässt seine Kollegen sprechen. Hinterher, als Frau Schröder längst gegangen ist, erzählt er, dass Freunde und sogar entfernte Bekannte ihn schon manchmal fragen, warum er eigentlich so doof sei, sich diesen Job anzutun.

Ja, warum eigentlich?

Tausende Bürgermeisterinnen in Deutschland machen ihre Arbeit ehrenamtlich. Oft sind die Gemeinden, in denen sie gebraucht werden, klein und in immer mehr von ihnen, findet sich niemand, der den Job noch machen will. Um das Bürgermeister-Ehrenamt und wie es gefördert werden soll, gibt es deshalb immer wieder Diskussionen: Ist es angemessen, einen Ort ehrenamtlich zu führen? Ist es andererseits angemessen, dem Bürgermeister ein Gehalt zu zahlen, was dann fehlt, um Schlaglöcher zu stopfen oder eine Bank aufzustellen? Und wer bitte, soll das alles überhaupt noch machen, wenn das Geld weder für einen selbst reicht noch dafür, ein Schlagloch zu reparieren oder eine Bank aufzustellen?

In Löcknitz stellen sich all diese Fragen auf eine besondere Weise, denn Löcknitz ist ein Paradox. Den bloßen Koordinaten nach nämlich sollte der Ort ein abgehängtes Stück Land sein: ein kleines Dorf am östlichsten Rand von Mecklenburg-Vorpommern, nahe der Grenze zu Brandenburg, in einer der am dünnsten besiedelten Regionen Deutschlands. Die Autobahn 20, die nach der Wiedervereinigung gebaut worden ist, befahren auf ihrem östlichsten Teil, der nach Löcknitz führt, gerade einmal so viele Autos wie normalerweise auf einer gut frequentierten Kreisstraße unterwegs sind. Weit und breit gibt es hier keinen großen Arbeitgeber. Eine klassische Wegzug-Region also und ein Ort, von dem selbst der Bürgermeister sagt: „Eigentlich wäre das hier eine sehr, sehr traurige Ecke.“

Die Geschichte davon, warum das nicht so ist, beginnt im Jahr 2004. In einem Jahr, in dem in Löcknitz rund sechs Prozent der Wohnungen leer standen und manche Häuser schon seit zehn Jahren. Die Zahl der Einwohner war seit 1990 stetig gefallen. Kurz darauf, das würde sich bald herausstellen, sollte bei der Einwohnerzahl in Löcknitz die Talsohle erreicht werden, sollte es wieder bergauf gehen, denn 2004 war auch das Jahr, in dem Polen der Europäischen Union beigetreten ist. Bis zur Grenze sind es von Löcknitz aus elf Kilometer, das Zentrum der Großstadt Stettin erreicht man mit dem Auto in einer guten halben Stunde. Stettin prosperierte nach dem Fall des Eisernen Vorhangs schnell – die Werft half dabei mit, die Hochschulen, der Tourismus. Nun, da Polen zur EU gehörte und seit Ende 2007 auch zum Schengenraum, wurde Löcknitz plötzlich Speckgürtel von Stettin.

Da war es also, das historische Momentum, aber zunächst sah es so aus, als würde es an einer Idee zerschellen, die nicht funktionierte. Zwar machten Vertreter der Wohnungswirtschaft aus dem Landkreis Uecker-Randow, zu dem Löcknitz damals noch gehörte (er ging später auf im heutigen Kreis Vorpommern-Greifswald), ein Büro in Stettin auf. Sie versuchten, Stettiner Studenten zu überreden, statt in der polnischen Stadt auf dem flachen vorpommerschen Land zu wohnen. „Das ging total in die Hose“, sagt Ebert. „Soweit mir bekannt ist, sollen wohl fünf Studenten tatsächlich gekommen sein.“ Statt der Studenten aber, die natürlich lieber in der Stadt leben wollten, kamen polnische Familienväter und -mütter in das Büro und fragten: Können wir eine Wohnung mieten? Können wir Land kaufen? Können wir bei euch ein Konto eröffnen? Plötzlich wurden auf deutscher Seite seit Jahren leerstehende Häuser wieder interessant und Orte wie Löcknitz wiesen Bauland aus. „Uns war es natürlich egal, ob da ein Pole baute oder ein Deutscher – Hauptsache jemand baute“, sagt Ebert.

Heute stammen etwa 600 der 3.200 Löcknitzer aus Polen. Gekommen sind vor allem gut situierte Menschen, die weiter in Stettin arbeiten, aber ihre Kinder in Löcknitz zur Schule schicken, in den Supermärkten einkaufen, zu den Ärzten gehen. Gekommen sind Menschen wie Bogdan Wernecki, Chef einer Firma für Zugelektronik. Er hat sogar seinen Firmensitz in eine der vielen leerstehenden Lagerhallen in Löcknitz verlegt. Über ihn sagt Ebert, das habe er gemacht, weil sein Sohn an der Schule in Löcknitz gleichzeitig ein deutsches und ein polnisches Abitur machen könne. 500 Kinder gehen auf das in den Neunzigern entstandene deutsch-polnische Gymnasium des Ortes, gerade entsteht für elf Millionen Euro ein weiterer Schulcampus. Nachmittags staut sich der Verkehr vor dem 2011 eröffneten und kreisrund gebauten deutsch-polnischen Kindergarten so sehr, dass ein Vater seinen gelben Skoda nur so halb in zweiter Reihe parken kann. An heißen Sommertagen ist in Löcknitz ein Parkleitsystem in Betrieb, damit das nicht in allen Straßen so aussieht – dann kommen schon mal 1.500 Menschen zum Baden an den Löcknitzer See, noch einmal halb so viele also, wie der Ort Einwohner hat.

So gesehen ist Löcknitz eine kleine paneuropäische Erfolgsgeschichte. Es gibt aber ein Thema, das man nur kurz anzureißen braucht, da sinken bei Detlef Ebert schon die Schultern zusammen. 2009 hat die NPD in Löcknitz mit Plakaten geworben, auf denen stand: „Polen-Invasion stoppen“. Bei der Landtagswahl 2006 gewann die NPD in dem Ort mehr als 20 Prozent der Stimmen, „genauso viele wie wir“, sagt Ebert, der Mitglied der CDU ist. 2009 und 2014 konnte die rechtsextreme Partei zwei Mandate in der Löcknitzer Gemeindevertretung erlangen, „aber seit 2019 spielen die keine Rolle mehr“, sagt Ebert. Der Löcknitzer Bürgermeister ist ein pragmatischer Mann. Einer, der sein Handy in einer Tasche am Gürtel trägt, zwei Kulis in der Brusttasche des orangenen Hemdes und sein dichtes, dunkelblondes Haar in einer unfrisierten Welle. Er ist froh, sagt er, dass aus den zwei NPDlern in der Gemeindevertretung heute Reichsbürger geworden seien, „die können ja nun nicht mehr antreten.“ Und er sagt, wenn er über die Neonazis in seinem Ort reden soll, Sätze wie diesen hier: „Inzwischen hat sich das ganz gut reguliert.“

Wie unübersichtlich die Gemengelage in Löcknitz inzwischen manchmal ist, zeigt eine Begebenheit aus dem April 2016. Damals hatte eine regionale Organisation für Demokratieförderung zu einem Infoabend in Löcknitz geladen. Es sollte um die Integration von Flüchtlingen gehen, und die Veranstaltung richtete sich ausdrücklich an die Polen im Ort, sie sollte auch auf polnisch abgehalten werden. Vor Beginn waren zwei NPD-Politiker zu der Veranstaltung gekommen. Der Projektleiter des Veranstalters sagte später, die Männer hätten Gäste mit den Worten „keine Volksdeutschen hier, alles Parasiten und polnischer Pöbel“ beleidigt – er warf sie unter Zuhilfenahme der Polizei raus. Der Fall kam vor Gericht – und dort zeigte eine polnische Referentin des Abends kein Verständnis für den Rauswurf: Sie habe sich schon an dem Abend dafür ausgesprochen, dass die beiden Gäste doch bleiben mögen, man hätte für sie sogar ins Deutsche übersetzt.

Detlef Ebert ist seit 2014 Bürgermeister in Löcknitz. Vor seiner Wiederwahl 2019 hat er sich sein Programm vom ersten Wahlkampf noch einmal angesehen und sich gedacht: „Eigentlich war das ein Todesurteil.“ Denn Ebert hatte sich für seine erste Amtszeit viel vorgenommen: Die Feuerwehr sollte ein neues Gebäude bekommen, eine neue Grundschule sollte entstehen, eine Regionalschule. „Und das als kleine Gemeinde, da haben die Leute gesagt, du bist ja nicht ganz dicht“, erzählt Ebert. Aber die Feuerwehr und die Grundschule, das hat Ebert wirklich geschafft in seiner ersten Amtszeit. „Vier Millionen Euro hat die Schule gekostet, so viel Geld auf einmal hatte in der Verwaltungsgemeinschaft, zu der Löcknitz gehört, noch keiner bewegt“, sagt Ebert. An der Regionalschule auf dem neuen Schulcampus wird noch gebaut. Der soll 2022 fertig sein, „aber ich sag mal“, sagt Ebert, „wenn der erste Spatenstich gemacht ist, dann ist die Arbeit als Bürgermeister eigentlich getan. Klar, die Einweihung noch, aber dann hast du das Geld besorgt, das Baurecht geschaffen, Baugenehmigung – das ist uns gut geglückt, da sind wir eigentlich stolz drauf.“ „Wir“, sagt er, und „eigentlich“. Dabei ist es natürlich nur er, der in die Landeshauptstadt nach Schwerin fährt, um dort um Geld für ein neues Feuerwehrgebäude zu bitten. Es ist eigentlich nur er, der sagt, dass es vieles gebe, „was du auch mal so schnell klären musst, was du nicht so auf die lange Bank schieben kannst, bis du wieder deine zwei Stunden Sprechstunde hast in der Woche.“ Es ist er, der 20 Stunden in der Woche für die Bürgermeisterei aufwendet und sagt, dass das natürlich eigentlich kein Ehrenamt mehr sei und er ja schon gar nicht jeden Termin wahrnehme, den er gerne wahrnehmen würde. Er erledigt die Dinge dann eben abends oder unterbricht seinen Brotjob, um die Brotjob-Dinge dann noch abends zu erledigen. Und es ist natürlich auch er, Ebert, zu dem sein acht Jahre alter Sohn manchmal sagt: „Papa, ich wähl dich nicht, dann bis du öfter da.“

Für sein Bürgermeistersein hat Ebert lange 1.250 Euro Aufwandsentschädigung im Monat bekommen, seit Ende 2019 sind es 1.800. Mit allen Abzügen bleibt davon vielleicht die Hälfte übrig. Reicht das?

Im Juni 2019 hat das Land Mecklenburg-Vorpommern neue Grenzen für die Entschädigungen in der Kommunalpolitik festgelegt. Im Vergleich zur Zeit davor können Bürgermeister wie Detlef Ebert nun teilweise fast 50 Prozent mehr Gehalt bekommen. Einer, der dafür lange gekämpft hat, ist Klaus-Michael Glaser vom Städte- und Gemeindetag in Mecklenburg-Vorpommern. Er erlebt, wie manche Orte ewig suchen und diskutieren müssen, bis sich überhaupt jemand für das Bürgermeisteramt zur Verfügung stellt. Er erlebt, wie gerade im Osten lange Jahre Frührentner oder Arbeitslose den Bürgermeister-Job gemacht haben, Menschen also, die nach der Wende ihre Arbeit verloren hatten. So konnten sie so viel Zeit in das Bürgermeister-Amt stecken, dass ihre Leistung potenzielle Nachfolger nun abschreckt. „Aber die Generation, die sich aufopfert für die Gemeinde, die gibt es eben nicht mehr oder nicht mehr lange“, sagt Glaser. Die Aufopferung, findet er, die müsse so auch gar nicht sein. „Wir kämpfen dafür, die Leute mit guten Stellvertretern zu unterstützen und so zu ermutigen, sich zu engagieren – und im Zweifel auch mal nein zu sagen und sich nicht alles aufzuhalsen.“

Das Problem wäre wohl keins oder jedenfalls ein kleineres, gebe es mehr hauptamtliche Bürgermeisterinnen. In Mecklenburg-Vorpommern können Gemeinden mit einer eigenen Verwaltung einen hauptamtlichen Bürgermeister stellen. Löcknitz hat keine eigene Verwaltung, aber Löcknitz ist mit mehr als 3.000 Einwohnerinnen dennoch größer als viele Orte in Deutschland, die ganz selbstverständlich einen hauptamtlichen Bürgermeister beschäftigen. In Baden-Württemberg ist das schon in Orten mit mehr als 2.000 Einwohnern erlaubt und üblich. Klaus-Michael Glaser hat vor Jahren mal in einer Entschädigungskommission gesessen, in der man auch für Mecklenburg-Vorpommern befand: Ab 3.000 Einwohnern sollte es eigentlich ein Hauptamtlicher machen, auch, wenn es keine eigene Verwaltung gibt. „Denn ab der Größe erwarten die Bürger, dass der Bürgermeister zu Terminen kommt, auch tagsüber, und nicht irgendein Verwaltungsmitarbeiter“, sagt Glaser. Für ihn ist Löcknitz ein klarer Fall dafür, dass ein Bürgermeister im Ehrenamt eigentlich nicht ausreicht. „Aber die Regelung“, sagt Glaser, „ist halt nicht gekommen.“

In einem Nachbarort von Löcknitz wurde die Aufwandsentschädigung für den Bürgermeister kürzlich ebenfalls erhöht, von 700 auf 1000 Euro. Eine Frechheit sei das, fanden manche Gemeindevertreterinnen. Davon, dass der Bürgermeister „kassiere“, war die Rede. Dabei, sagt Ebert, stünden die Bürgermeister ja nicht unbedingt Schlange, auch in kleineren Orten als Löcknitz nicht. Fragt man ihn, warum er eigentlich einst Bürgermeister geworden ist, findet er, dass das eine gute Frage sei. Im August 1989 ist Ebert in die CDU eingetreten. Damals war noch nicht einmal die Mauer gefallen, aber Ebert spekulierte darauf, dass sich irgendwas schon tun würde – und widerstand den Bitten, doch noch für den DDR-Kreistag zu kandidieren. „Da hab‘ ich gesagt, da geh‘ ich nicht rein, da ist ja alles vorgefertigt, da hat man ja gar keine Gestaltungsmöglichkeiten.“ Mit den ersten freien Kommunalwahlen 1990 ließ er sich dann aufstellen und ist seitdem ununterbrochen in der Kommunalpolitik. Man kann das kaum anders erklären als mit dem unscharfen, aber eben hier wirklich zutreffenden Wort von der Leidenschaft. Ebert macht Politik aus Leidenschaft. Zweimal schon war er vor seiner Bürgermeister-Zeit stellvertretender Bürgermeister. Er habe also, sagt er, gewusst worauf er sich einlasse, „und wenn man was bewegen kann, dann ist das doch schön.“

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