Читать книгу: «Die neue Medizin der Emotionen», страница 5

Шрифт:

EIN TAG MIT CHARLES

Charles ist zwar erst vierzig, aber bereits Direktor eines Kaufhauses in Paris. Er beherrscht sein Metier meisterlich und ist schon etliche Male befördert worden. Doch jetzt leidet er seit Monaten unter starkem Herzklopfen. Das beunruhigt ihn sehr, und er hat deswegen bereits etliche Kardiologen aufgesucht. Diese konnten jedoch keinerlei Krankheit diagnostizieren. Mittlerweile ist er so weit, dass er aus Angst vor einem »Herzanfall«, der ihn wieder auf die Notfallstation brächte, den Sport aufgegeben hat und sich selber genau beobachtet, wenn er mit seiner Frau schläft. Seiner Einschätzung nach sind seine Arbeitsbedingungen »völlig normal« und auch »nicht anstrengender als anderswo«. Im Lauf unserer Sitzungen stellt sich jedoch heraus, dass er mit dem Gedanken spielt, seine Stelle – auch wenn sie ungemein prestigeträchtig ist – zu kündigen. Denn der Vorsitzende der Gruppe äußert sich oft geringschätzig und zynisch über ihn. Obwohl Charles schon länger in diesem aggressiven Klima arbeitet, ist er doch nach wie vor verletzlich und leidet unter den spitzen oder übertrieben kritischen Bemerkungen seines Chefs. Zudem setzt sich dessen Zynismus die gesamte Hierarchie hindurch fort, sodass Charles’ Kollegen im Marketing, der Öffentlichkeitsarbeit, der Finanzabteilung sich auch untereinander kühl behandeln und beißende Kommentare übereinander abgeben.

Auf meinen Rat hin stimmte Charles einer Aufzeichnung seiner Herzrhythmusschwankungen über vierundzwanzig Stunden zu. Um die Ergebnisse auswerten zu können, musste er seine verschiedenen Betätigungen im Lauf des Tages notieren. Die Interpretation der Kurve war nicht sonderlich schwierig. Um elf Uhr vormittags suchte er an seinem Schreibtisch ruhig, konzentriert und zügig Fotos für einen Katalog aus. Sein Puls war normal kohärent. Mittags tauchte sein Herz mit einer Beschleunigung um zwölf Pulsschläge pro Minute schlagartig ins Chaos ein. Zu genau diesem Zeitpunkt ging er zum Büro seines Chefs. Eine Minute später schlug sein Herz noch schneller, das Chaos war vollkommen. Dieser Zustand hielt zwei Stunden an: Er hatte sich sagen lassen müssen, sein Entwurf zur Entwicklungsstrategie, an dem er wochenlang gearbeitet hatte, tauge nichts, und es sei besser, wenn jemand anders sich darum kümmere; offenbar sei er selber nicht in der Lage, ihn klarer zu strukturieren. Beim Verlassen des Chefbüros hatte Charles einen seiner typischen Anfälle von Herzklopfen, so schlimm, dass er hinausgehen musste, um sich zu beruhigen.

Nachmittags fand eine Sitzung statt. Die Aufzeichnung zeigte erneut eine chaotische Phase, die über eine halbe Stunde andauerte. Als ich ihn fragte, konnte Charles sich zunächst nicht erinnern, was ihn so aufgebracht hatte, doch nach einigem Nachdenken fiel ihm ein, dass der Marketingdirektor, ohne ihn anzusehen, die Bemerkung ins Gespräch gestreut hatte, die Themen des Katalogs passten schlecht zu dem neuen Image, das man propagieren wolle. Bei der Rückkehr in sein Büro hatte das Chaos sich wieder gelegt, und an seine Stelle war eine relative Kohärenz getreten: Zu diesem Zeitpunkt war Charles damit beschäftigt, eine Produktionsplanung zu überarbeiten, von der er sehr viel hielt. Als er dann abends im Stau stand, schlug seine Nervosität sich unmittelbar in einer weiteren Chaosphase nieder. Nachdem er, zu Hause angekommen, seine Frau und seine Kinder begrüßt hatte, folgte erneut eine zehnminütige Kohärenz. Warum nur zehn Minuten? Weil er dann den Fernseher eingeschaltet hatte, um sich die Nachrichten anzusehen…

Verschiedene Untersuchungen ergaben, dass negative Gefühle – Zorn, Angst, Traurigkeit und selbst alltägliche Sorgen – starke Pulsschwankungen auslösen und unseren Körper ins Chaos stürzen.13 Umgekehrt zeigen andere Studien, dass positive Gefühle wie Freude, Dankbarkeit und vor allem Liebe die Kohärenz fördern. Binnen einiger Sekunden führen sie zu einer regelmäßigen Welle, die bei einer Aufzeichnung der Pulsfrequenz förmlich ins Auge sticht.14

Für Charles, wie für die meisten von uns, bedeuten die täglichen chaotischen Phasen einen veritablen Energieverlust. In einer Studie, die mehrere tausend leitende Angestellte einbezog, bezeichneten über 70 Prozent sich als »ein Gutteil der Zeit« – das heißt praktisch die ganze Zeit – »erschöpft«. Und 50 Prozent schätzten sich als eindeutig »ausgelaugt« ein!15 Wie können kompetente, engagierte Männern und Frauen, für die ihre Arbeit ein wesentlicher Bestandteil ihrer Identität ist, es so weit kommen lassen? Die Anhäufung chaotischer Phasen – die sie selber kaum bemerken –, die tagtäglichen Beeinträchtigungen ihrer emotionalen Ausgeglichenheit entziehen ihnen auf die Dauer Energie. Zu dem Zeitpunkt fangen wir dann an, von einer andere Stelle oder, im persönlichen Bereich, von einer anderen Familie, einem anderen Leben zu träumen.

Auf der anderen Seite durchleben wir aber auch Augenblicke der Kohärenz. Dies fällt uns ebenfalls nicht immer auf – es sind nicht unbedingt Entzückungsausbrüche oder ekstatische Momente. Josh, Sohn eines Ingenieurs, besucht oft seinen Vater und dessen Team in einem Labor in Kalifornien, das sich mit der Erforschung der Kohärenz beschäftigt. Stets begleitet ihn seine Labradorhündin Mabel. Eines Tages kamen die Ingenieure auf die Idee, die Herzkohärenz bei Josh und Mabel zu messen. Waren sie voneinander getrennt, war der Herzrhythmus bei beiden halb chaotisch, halb kohärent, völlig normal also. Sobald man sie jedoch zusammenließ, ging dieser Zustand in Kohärenz über. Trennte man sie wieder, verschwand diese beinahe augenblicklich. Bei Josh und Mabel führte die schlichte Tatsache des Zusammenseins zu Kohärenz. Das spürten sie offenbar instinktiv, denn sie waren unzertrennlich. Für sie war das Zusammensein gewiss keine außergewöhnliche Erfahrung, sondern etwas, das sie gefühlsmäßig schlicht brauchten. Etwas, das ihnen in jedem Moment gut tat. Josh fragte sich nie, ob er nicht lieber einen anderen Hund hätte, und Mabel wollte bestimmt kein anderes Herrchen. Ihre Beziehung bescherte ihnen innere Ausgeglichenheit und Kohärenz, war im Einklang mit ihrem Herzen.

Der Zustand der Kohärenz beeinflusst auch die anderen physiologischen Rhythmen; vor allem die natürlichen Schwankungen des Blutdrucks und der Atmung gleichen sich rasch der Herzkohärenz an, und alle drei Systeme stimmen sich aufeinander ab.

Es handelt sich hier um ein der »Phasenanpassung« von Lichtwellen in einem Laserstrahl vergleichbares, in diesem Fall tatsächlich als »Kohärenz« bezeichnetes Phänomen. Und eben diese Angleichung verleiht dem Laser seine Energie und Kraft. Dieselbe Energie in Form von Licht, das eine 100-Watt-Glühbirne ineffizient in alle Richtungen streut, reicht aus, um ein Loch in eine Metallplatte zu bohren, wenn sie durch Phasenangleichung kanalisiert wird. Entsprechend bedeutet Kohärenz für den Körper reine Energieeinsparung. Das war zweifelsohne der Grund, weshalb sich ein halbes Jahr nach einem Tag Kohärenztraining 80Prozent der bereits erwähnten Führungskräfte nicht mehr als »ausgelaugt« bezeichneten. Und sechsmal weniger als vorher beklagten sich noch über Schlaflosigkeit, achtmal weniger fühlten sich noch »angespannt«. Es scheint in der Tat zu genügen, nutzlosen Energieverlust zu vermeiden, um eine natürliche Vitalität wiederzuerlangen.

Charles ermöglichten einige Stunden Kohärenztraining vor dem Computer, sein Herzklopfen unter Kontrolle zu bringen. Daran ist nichts Magisches oder Geheimnisvolles. Indem er zwischen diesen Sitzungen jeden Tag ein wenig übte, sicherte er seine Fortschritte ab und verstärkte von neuem die Aktivität seines parasympathischen Systems, das heißt, seiner physiologischen Bremse. Ist man erst einmal, wie ein durchtrainierter Jogger, »in Form«, wird es immer leichter, sich ihrer zu bedienen. Und mit einer funktionierenden Bremse, die man jederzeit betätigen kann, kommt die Physiologie nicht einmal mehr dann ins Schleudern, wenn die äußeren Umstände sich schwierig gestalten. Zwei Monate nach der ersten Sitzung trieb Charles wieder Sport und schlief so leidenschaftlich mit seiner Frau, wie ihre Beziehung dies verdiente. Und er hatte gelernt, sich, wenn er seinem Chef gegenüberstand, auf die Gefühle in seiner Brust zu konzentrieren, um seine Kohärenz zu wahren und nicht zuzulassen, dass seine physiologischen Reaktionen außer Rand und Band gerieten. Er war nun sogar in der Lage, mit mehr Taktgefühl zu antworten und leichter die richtigen Worte zu finden, um die Aggressivität anderer wirkungslos verpuffen zu lassen, ohne sie zu verletzen.

DER UMGANG MIT STRESS

Bei Laborexperimenten ermöglicht die Kohärenz es dem Gehirn, schneller und präziser zu arbeiten.16 Im alltäglichen Leben empfinden wir dies als Zustand, in dem wir ganz natürlich und ohne jegliche Anstrengung auf Ideen kommen: Ohne lange nachzudenken, fallen uns die richtigen Worte ein, um das, was wir sagen wollen, zum Ausdruck zu bringen, und wir handeln zügig, effizient. In dieser Verfassung sind wir auch eher bereit, uns auf alles mögliche Unvorhergesehene einzustellen, da unser Körper sich in einem optimalen Gleichgewicht befindet, wir allem gegenüber offen und in der Lage sind, Lösungsmöglichkeiten für Probleme zu entwickeln. Kohärenz ist also kein Zustand der Entspannung im herkömmlichen Sinne des Wortes. Sie erfordert keine Absonderung von der Welt und auch keineswegs, dass um uns herum alles reglos, ja, nicht einmal, dass es ruhig ist. Im Gegenteil, sie entspricht einer Eroberung der Außenwelt, einem nahezu körperlichen Kontakt mit ihr, doch einem harmonischen, keinem konfliktgeladenen.

So stellten Forscher in Seattle im Rahmen einer Studie mit fünfjährigen Scheidungswaisen fest, wie wichtig ihr physiologisches Gleichgewicht für ihre künftige Entwicklung war. Auf Kinder, deren Pulsvariabilität vor der Scheidung am höchsten war – und die daher am besten in der Lage waren, in einen Zustand der Kohärenz zu gelangen –, hatte die Auflösung ihrer Familie eine weit geringere Auswirkung gehabt, wie man drei Jahre danach feststellte.17 Zudem hatten sie sich eine größere Fähigkeit bewahrt, Zuneigung zu entwickeln, mit anderen zusammenzuarbeiten und sich in der Schule zu konzentrieren.

Céleste hat mir sehr anschaulich beschrieben, wie sie den Herzrhythmus gezielt einsetzt. Als ihr im Alter von neun Jahren ein Wechsel in eine andere Schule bevorstand, geriet sie regelrecht in Panik. Etliche Wochen vor Schulanfang begann sie Nägel zu beißen, weigerte sich, mit ihrer kleinen Schwester zu spielen und stand nachts mehrmals auf. Auf Befragen erklärte sie ohne zu zögern, am meisten Lust zum Nägelkauen habe sie, wenn sie an die neue Schule denke. Doch dann lernte sie sehr schnell – wie dies bei Kindern oft der Fall ist –, durch Konzentration ihren Puls zu kontrollieren. Einige Tage später erzählte sie mir, der erste Schultag sei sehr gut verlaufen: »Wenn ich mich aufrege, gehe ich in mein Herz und rede mit der kleinen Fee darin. Sie sagt mir, dass alles gut gehen wird, und manchmal sagt sie mir sogar, was ich sagen oder machen soll.« Als ich das hörte, musste ich lächeln. Hätten wir nicht alle gern eine kleine Fee, die immer bei uns ist?

Der Begriff der Herzkohärenz und die Tatsache, dass man ohne weiteres lernen kann, sie zu kontrollieren, laufen allen überkommenen Vorstellungen hinsichtlich der Art und Weise zuwider, wie man am besten mit Stress umgeht. Chronischer Stress führt zu Angstgefühlen und Depression. Er hat, wie man weiß, auch negative Auswirkungen auf den Körper: Schlaflosigkeit, faltige Haut, Bluthochdruck, Herzklopfen, Rückenschmerzen, Hautprobleme, Verdauungsschwierigkeiten, Anfälligkeit für Infektionen, Unfruchtbarkeit, Impotenz. Schließlich beeinträchtigt er auch die sozialen Beziehungen und die beruflichen Leistungen: Reizbarkeit, Verlust der Fähigkeit, anderen zuzuhören, Nachlassen der Konzentration, Rückzug auf sich selber und Fehlen von Teamgeist – all diese Symptome sind charakteristisch für eine Überforderung, die ebenso aus Arbeit wie aus dem Gefühl resultieren kann, in einer festgefahrenen Beziehung zu stecken. Beides kostet uns viel Energie. In einer solchen Situation ist die gängigste Reaktion, sich auf die äußeren Gegebenheiten zu konzentrieren. Man sagt sich: »Wenn ich nur meine Situation ändern könnte, hätte ich einen viel klareren Kopf, und es ginge mir auch körperlich besser.« Gleichzeitig beißen wir die Zähne zusammen, warten auf das nächste Wochenende oder die Ferien und träumen von der besseren Zeit »danach«. Alles werde in Ordnung kommen, »wenn ich erst einmal die Schule abgeschlossen … wenn ich eine andere Stelle habe … wenn die Kinder aus dem Haus sind … wenn ich meinen Mann verlasse … wenn ich erst einmal in Pension bin« und so weiter. Leider läuft es nur selten so. Wahrscheinlich tauchen in anderen Situationen genau die gleichen Probleme wieder auf, und die Wunschvorstellung von einem Paradies, das gleich um die Ecke oder an der nächsten Kreuzung liegt, wird sehr schnell wieder zur Hauptmethode, mit Stress umzugehen. Unglücklicherweise geht das oft bis zu unserem Tod so weiter.

Aus Studien über die positiven Wirkungen von Kohärenz lässt sich der Schluss ziehen, dass man das Problem von der anderen Seite her angehen muss. Statt ständig zu versuchen, ideale äußere Bedingungen herzustellen, sollte man sich darauf konzentrieren, das Innenleben unter Kontrolle zu bringen: unseren Körper. Wenn wir das physiologische Chaos bändigen und uns um eine möglichst große Kohärenz bemühen, fühlen wir uns automatisch wohler; die Beziehung zu anderen, Konzentration, Leistung und deren Ergebnisse werden besser. Mit einem Mal sind die günstigen Umstände, hinter denen man ständig herläuft, von selber da. Und das ist beinahe eine Folgeerscheinung, eine sekundäre positive Auswirkung der Kohärenz: Sobald wir unser Innenleben unter Kontrolle haben, kann das, was aus der Außenwelt kommt, keine so massiven Auswirkungen mehr auf uns haben.

Das Computerprogramm zur Messung der Herzkohärenz wird auch zur Untersuchung des Herz-Hirn-Systems eingesetzt. Es kann Zweiflern beweisen, dass ihr Herz augenblicklich auf ihren Gefühlszustand reagiert. Doch auch ohne Computer ist es ohne weiteres möglich, sich in einen Zustand der Kohärenz zu versetzen und die positiven Auswirkungen auf das Alltagsleben unmittelbar zu spüren. Man muss nur lernen, die Kohärenz auch im Alltag zu leben.

I Antoine de Saint-Exupéry, Der Kleine Prinz, übers. von Grete und Josef Leitgeb. Düsseldorf, Karl Rauch Verlag, 1958

II Der Begriff »sympathisch« leitet sich aus der lateinischen Wurzel ab, die »in Beziehung stehend« bedeutet, da die Stränge des Nervensystems entlang der ganzen Wirbelsäule mit dem Rückenmark verbunden sind.

III Der Neurotransmitter des parasympathischen Systems ist das Acetylcholin.

4 KOHÄRENZ IM
TÄGLICHEN LEBEN

RON WAR »INTENSIVMEDIZINER« – Spezialist für Wiederbelebung auf der Intensivstation – an der Klinik, an der ich die psychiatrische Abteilung leitete. Er hatte mich ans Bett eines renommierten dreißigjährigen Unternehmensberaters gerufen, der zwei Tage zuvor einen Herzinfarkt erlitten hatte. Er machte sich Sorgen wegen der schweren Depression des Mannes und wollte, dass ich ihn so schnell wie möglich untersuche, denn wie er aus der wissenschaftlichen Literatur wusste, haben Patienten, die in eine Depression abgleiten, nur geringe Überlebenschancen. Zudem variierte die Herzfrequenz des Patienten kaum – ein zusätzlicher Hinweis auf seinen ernsten Zustand. Was den letzten Punkt anging, wusste er weder, was zu tun war, noch wen er um Rat fragen sollte. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich das ebenso wenig.

Wie häufig in solchen Situationen hatte der Patient nicht die geringste Lust, mit einem Psychiater zu reden. Er blockte alle meine Versuche ab, die Umstände seines Infarkts oder seines Gefühlslebens anzusprechen, das, wie ich wusste, schwierig war. Auch Fragen nach seinen Arbeitsbedingungen wich er weitgehend aus. Für ihn gehörte Stress zu seinen Lebensumständen – schließlich waren seine Kollegen denselben Zwängen unterworfen wie er, aber die hatten keinen Infarkt erlitten. Jedenfalls war es nicht die Aufgabe eines Psychiaters, der nicht wie er in Harvard studiert hatte, ihm vorzuschreiben, wie er sein Leben gestalten sollte…

Trotz der schwierigen Kontaktaufnahme hatte sein Gesichtsausdruck etwas Verletzliches, ja, fast Kindliches. Außerdem berührte mich sein ungeheurer Ehrgeiz, der ihn seit seiner Kindheit an- und umtrieb und nun ihn und sein Herz zu Grunde richtete. Ich spürte die Sensibilität, die in ihm steckte; vielleicht waren es ein Sinn für Kunst, Liebe zu Farben oder Freude an der Musik, die nie zum Ausdruck gekommen waren und sich hinter dieser harten, kalten Fassade abmühten. Gegen den Rat des Kardiologen verließ er am nächsten Tag die Klinik und kehrte in sein Büro zurück, das »auf ihn wartete«. Ich war erschüttert, als Ron mir sechs Monate später mitteilte, er sei einem zweiten Infarkt erlegen; diesmal hatte er es nicht einmal mehr in die Klinik geschafft, und vor allem: Er hatte sich nie die Zeit genommen, sich seiner Sensibilität zu öffnen. Außerdem stimmte mich traurig, dass ich ihm nicht hatte helfen können. Damals wussten weder mein Kollege noch ich, dass es ein ebenso einfaches wie wirksames Verfahren gibt, wie man die Pulsvariabilität verbessern und den Zustand der Kohärenz erlangen kann.

Die verschiedenen Schritte dieser Methode wurden am Heart-Math Institute in Kalifornien entwickelt und erprobt. Das Zentrum befasst sich mit der Untersuchung sowie den praktischen Aspekten der Kohärenz.1 Wie in der Tradition des Yoga, der Meditation und aller Entspannungstechniken besteht der erste Schritt darin, die Aufmerksamkeit nach innen zu lenken. Versucht man dies zum ersten Mal, muss man sich zunächst von der äußeren Welt zurückziehen und sich darauf einlassen, für einige Minuten sämtliche Sorgen beiseite zu schieben, akzeptieren, dass sie ruhig ein wenig warten können. Das gibt Herz und Hirn die notwendige Zeit, ihr Gleichgewicht, ihre innere Übereinstimmung wieder zu gewinnen.

Am besten gelingt dies, indem man als Erstes zwei Mal langsam und tief einatmet. Damit regt man das System des Parasympathikus unmittelbar an und verlagert das Schwergewicht ein wenig auf die Seite der physiologischen »Bremse«. Um eine möglichst nachhaltige Wirkung zu erzielen, sollte man jeden Atemzug bis zum Ende des Ausatmens bewusst vollziehen und einige Sekunden Pause einlegen, ehe man weiteratmet. Das heißt, man muss sich vom Ausatmen bis zu dem Punkt tragen lassen, an dem das Atmen ganz natürlich sanft und leicht wird.I

Den östlichen Meditationstechniken zufolge sollte man diese auf das Atmen konzentrierte Übung möglichst lange fortsetzen und das Bewusstsein leeren. Will man jedoch ein Maximum an Kohärenz erzielen, muss man nach zehn bis fünfzehn Sekunden der Stabilisierung seine Aufmerksamkeit gezielt auf die Herzgegend richten. Bei diesem zweiten Schritt stellen Sie sich am besten vor, Sie atmen durch das Herz (oder durch die zentrale Brustregion, falls Sie Ihr Herz noch nicht richtig spüren). Stellen Sie sich, während Sie dann langsam und tief (ohne zu forcieren) weiteratmen, jedes Einatmen und Ausatmen durch diesen so wichtigen Körperbereich bildlich – wenn nicht gar sinnlich – vor. Malen Sie sich aus, wie das Einatmen den für diesen Bereich so notwendigen Sauerstoff liefert, während das Ausatmen alle überflüssigen Abfallstoffe »wegbläst«. Verfolgen Sie ganz bewusst die langsamen, fließenden Bewegungen des Einatmens und des Ausatmens, mit denen das Herz sich in diesem Bad frischer, reinigender und beruhigender Luft wäscht. Wie es dieses Geschenk, das Sie ihm mit dem Atem machen, nutzt. Stellen Sie sich das Herz als kleines Kind in einer Badewanne mit warmem Wasser vor, in dem es hin und her paddelt und voller Vergnügen herumplanscht, ohne jegliche Zwänge oder Verpflichtungen. Wie ein Kind, dem man beim Spielen zusieht – man erwartet nichts weiter von ihm, als dass es es selbst ist, in seinem natürlichen Element, und man schaut einfach zu, wie es sich auf seine Weise beschäftigt, während man ihm weiterhin milde, sanfte Luft zufächelt.

Beim dritten Schritt machen Sie sich mit der Empfindung von Wärme und Ausdehnung vertraut, die Ihre Brust ausfüllt, und begleiten und unterstützen Sie sie in Gedanken und mit dem Atem. Anfangs ist sie oft schwach ausgeprägt und unauffällig. Nach Jahren emotionaler Misshandlung ist das Herz manchmal wie ein Tier nach dem Winterschlaf, das nach langer Zeit in die ersten Strahlen der Frühlingssonne blinzelt. Noch gefühllos und unsicher öffnet es ein Auge, dann das zweite, und kommt erst in Schwung, wenn es sich vergewissert hat, dass das milde Wetter kein vorübergehender Zwischenfall ist.

Zusätzlich aufmunternd wirkt dabei, wenn man sich zugleich für ein Gefühl der Dankbarkeit öffnet und zulässt, dass es seinen Raum in der Brust einnimmt. Das Herz ist besonders empfindsam für Dankbarkeit, für jedes Gefühl von Liebe, sei es für ein Wesen, einen Gegenstand, sogar für die Vorstellung von einem wohlwollenden Universum. Vielen Menschen genügt es, sich das Gesicht eines geliebten Kindes, das einen wiederliebt, oder auch den Anblick eines vertrauten Tieres vorzustellen. Für andere ist es eine friedvolle Szene in der Natur, die mit innerer Dankbarkeit einhergeht. Schließlich gibt es auch Menschen, bei denen die Erinnerung an das Glücksgefühl bei bestimmten Tätigkeiten Dankbarkeit auslöst, etwa eine Skiabfahrt, ein perfekter Golfschlag, ein Segelmanöver … Während dieser Übung bemerkt man oft, wie langsam ein Lächeln aufkommt, als wäre es in der Brust entstanden und auf dem Gesicht erblüht. Es ist dies ganz einfach ein Zeichen von Kohärenz.

Wie Forscher des HeartMath Institute in einer im American Journal of Cardiology veröffentlichten Studie zeigten, genügt schon die Erinnerung an ein angenehmes Gefühl oder auch nur eine gedachte Szene, um sehr schnell einen Übergang von einem chaotischen Herzschlag zu Kohärenz auszulösen.2 Dies wirkt sich rasch auf das emotionale Gehirn aus, dem diese Stabilität signalisiert, dass physiologisch alles in Ordnung ist. Das emotionale Gehirn wiederum reagiert auf diese Botschaft, indem es die Kohärenz des Herzschlags verstärkt. Dieses Wechselspiel führt zu einer positiven Rückkoppelung, mit der sich nach einigem Üben der Zustand maximaler Kohärenz dreißig Minuten oder noch länger aufrechterhalten lässt. Die Übereinstimmung zwischen dem Herzen und dem emotionalen Gehirn stabilisiert das autonome Nervensystem – das Gleichgewicht Sympathikus/Parasympathikus. Sobald der Gleichgewichtszustand erreicht ist, sind wir bestens darauf vorbereitet, uns allen Eventualitäten zu stellen. Wir können gleichzeitig sowohl auf die Weisheit des emotionalen Gehirns – seine »Intuition« – zugreifen als auch auf die Funktionen der Reflexion, der abstrakten Überlegung und der Planung des kognitiven Gehirns.

Je intensiver man diese Technik einübt, desto leichter findet man zu Kohärenz. Ist man erst einmal mit dieser inneren Verfassung vertraut, so ist man im Stande, gewissermaßen unmittelbar mit dem eigenen Herzen zu kommunizieren. Wie Céleste, die mit der in ihrem Herzen wohnenden kleinen Fee spricht, kann man ihm Fragen stellen wie: »Liebe ich ihn/sie wirklich von ganzem Herzen?« Im Zustand der Ausgeglichenheit genügt es, diese Frage zu stellen und aufmerksam darauf zu achten, wie das Herz reagiert. Falls sie eine zusätzliche Welle innerer Wärme oder des Wohlbefindens auslöst, möchte es den Kontakt zumindest aufrechterhalten. Scheint es sich hingegen etwas zurückzuziehen, weil die Kohärenz nachlässt, möchte es ihn/sie meiden und die Energie auf etwas anderes richten. Allerdings ist dies nicht zwangsläufig die richtige Lösung: Schließlich durchleben viele Paare Phasen, in denen das Herz eines jeden zumindest zeitweilig gern anderswo wäre, ehe man sich wieder versöhnt und in der Beziehung ein dauerhaftes Glück findet. Dennoch ist es wichtig, sich die Vorlieben des Herzens in allen Lebensabschnitten bewusst zu machen, da dies die Gegenwart nachhaltig beeinflusst. Meiner Vorstellung nach ist das Herz bei diesem inneren Dialog so etwas wie eine Brücke zu unserem »Bauch-Ich«, ein Dolmetscher für das emotionale Gehirn, das plötzlich für eine nahezu unmittelbare Kommunikation offen steht. Wichtig ist nun, sich klar zu machen, ob das emotionale Gehirn in eine andere Richtung drängt als die, für die man sich rational entschieden hat. In diesem Fall muss man sich bemühen, es auf anderen Ebenen zu beruhigen, damit es nicht zu einem Konflikt mit dem kognitiven Gehirn kommt. Denn dies würde unsere Denkfähigkeit beeinträchtigen und im Endeffekt zu einem physiologischen Chaos führen, dessen letzte Konsequenz chronischer Energiemangel ist.

Das Programm zur Messung der Variabilität des Pulsschlags kann fast sekundengenau sichtbar machen, welchen Einfluss unser Denken auf Kohärenz und Chaos ausübt. Konzentriert man sich auf das Herz und das innere Wohlbefinden, sieht man in Form regelmäßiger und sanfter Wellen, wie die Phasenverschiebung stattfindet und die Kohärenz zunimmt. Lässt man sich hingegen von negativen Gedanken und Sorgen ablenken – die normale Tendenz bei einem sich selbst überlassenen Gehirn –, verringert sich die Kohärenz binnen weniger Sekunden, und Chaos macht sich breit. Überlässt man sich dem Zorn, nimmt das Chaos unmittelbar und explosiv zu, und auf dem Bildschirm zeichnet sich eine fast bedrohlich wirkende gezackte Linie ab. Mit diesem Programm (»Biofeedback«) kann man sein Kohärenzniveau auf der Stelle sichtbar machen und so den Lernprozess beschleunigen. Es gab jedoch seit jeher Verfahren, diese Kohärenz auch ohne Hilfe eines Computers herzustellen. So habe ich beispielsweise des Öfteren festgestellt, dass Patienten oder Bekannte, die Yoga praktizieren, problemlos zur Kohärenz fanden, wenn ich sie mit dem Programm testete. Es sah ganz so aus, als habe ihre körperliche Befindlichkeit sich durch die regelmäßigen Übungen bereits teilweise verändert.


Abbildung 4: Das Herz unterstützt die Gehirnfunktion. – Verschiedenen Studien zufolge wirkt sich die Kohärenz des Herzrhythmus unmittelbar auf die Leistung des Gehirns aus. Offenbar beeinträchtigen die chaotischen Phasen die Abstimmung der Gehirnfunktionen, Kohärenz hingegen unterstützt sie. Das zeigt sich an schnelleren und präziseren Reaktionen und einer besseren Leistung unter Stress. (Die Grafik folgt einer Darstellung von Rollin McCraty, Forschungsdirektor am HeartMath Institute, LLC.)

Als ich diese Methode andererseits einem Freund vorführen wollte, dessen spirituelles Leben sehr intensiv ist, fiel es ihm schwer, mehr als 35 Prozent der optimalen Kohärenz zu erreichen. Daraufhin fragte er, ob er, anstatt meinen Anweisungen zu folgen, einfach wie gewohnt beten dürfe. Er wusste, wenn er auf diese Weise betete, spürte er eine Wärme und ein Wohlbefinden in der Brust, die der von mir geschilderten Empfindung zu entsprechen schienen. Seine Kohärenz stieg in wenigen Augenblicken auf 80 Prozent. Offensichtlich hatte der Freund aus eigener Kraft einen Weg gefunden, seine Physiologie ins Gleichgewicht zu bringen. Dazu tauchte er in das Gefühl ein, Teil eines allmächtigen und wohlwollenden Universums zu sein. Bei anderen hingegen führen Gebete zu keiner Kohärenz, ganz im Gegenteil. Hier kann Biofeedback nützlich sein: Es hilft, für jeden den wirksamsten Zugang zur physiologischen Kohärenz zu bestimmen, vor allem zu Beginn.

Бесплатный фрагмент закончился.

962,08 ₽
Жанры и теги
Возрастное ограничение:
0+
Объем:
354 стр. 7 иллюстраций
ISBN:
9783956140846
Переводчик:
Издатель:
Правообладатель:
Bookwire
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают