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EIN ANDERER ANSATZ

Nun bildet sich heute jedoch auf dem gesamten Erdball allmählich eine neue Medizin der Emotionen heraus: eine Medizin ohne Psychoanalyse und ohne Valium. So beschäftigen wir uns in der Shadyside-Klinik der Universität Pittsburgh seit fünf Jahren mit der Frage, wie man Depressionen, Angstzustände und Stress mit Hilfe einer Reihe von Methoden lindern kann, die eher auf den Körper als auf die Sprache zielen. In vorliegendem Buch beschreibe ich die verschiedenen Strategien dieses Programms, warum wir uns für sie entschieden haben und wie wir sie einsetzen.

Die Grundprinzipien lassen sich folgendermaßen zusammenfassen:

• Im Inneren des Gehirns befindet sich ein emotionales Gehirn, wahrhaft ein »Gehirn im Gehirn«. Es verfügt über eine andere Struktur, eine andere Zellenanordnung, und selbst seine biochemischen Eigenschaften unterscheiden sich von denen des übrigen »Neokortex« – das heißt, des am höchsten »entwickelten« Bereichs des Gehirns, der Großhirnrinde, in der die Sprache und das Denken angesiedelt sind. In der Tat funktioniert das emotionale Gehirn oft unabhängig vom Neokortex. Sprache sowie Wahrnehmung und Erkennung haben nur begrenzten Einfluss darauf: Man kann einem Gefühl nicht befehlen, stärker zu werden oder zu verschwinden, so wie man seinem Verstand befehlen kann, zu sprechen oder still zu sein.

• Das emotionale Gehirn kontrolliert seinerseits alles, was das psychische Wohlbefinden regelt, sowie einen Großteil der Körperphysiologie: die Herzfunktion, den Blutdruck, die Hormone, das Verdauungs- und sogar das Immunsystem.

• Probleme, die das Gefühlsleben betreffen, sind die Folge von Funktionsstörungen des emotionalen Gehirns, von denen viele ihren Ursprung in schmerzlichen Erlebnissen der Vergangenheit haben. Sie beziehen sich in keiner Weise auf die Gegenwart, haben sich jedoch dem emotionalen Gehirn unauslöschlich eingeprägt. Eben diese Erlebnisse kontrollieren oft weiterhin unser Empfinden und Verhalten, gelegentlich noch Jahrzehnte später.

• Hauptaufgabe des Psychotherapeuten ist es, das emotionale Gehirn auf eine Weise »umzuprogrammieren«, dass es sich an die Gegenwart anpasst, anstatt auf Situationen der Vergangenheit zu reagieren. Zu diesem Zweck ist es oft wirksamer, Methoden anzuwenden, die über den Körper gehen und das emotionale Gehirn unmittelbar beeinflussen, als sich auf die Sprache und die Vernunft zu verlassen, für die es kaum empfänglich ist.

• Das emotionale Gehirn verfügt über natürliche Mechanismen der Selbstheilung: die angeborene Fähigkeit, wieder zu Harmonie und Wohlbehagen zu finden; sie sind anderen Mechanismen der Selbstheilung des Körpers vergleichbar, etwa der Vernarbung einer Wunde oder der Überwindung einer Infektion. Verfahren, die auf den Körper einwirken, nutzen diese Mechanismen.

Die Behandlungsmethoden, die ich auf den folgenden Seiten darstelle, wenden sich unmittelbar an das emotionale Gehirn. Die Sprache umgehen sie nahezu ganz. Ihre Wirkungen erzielen sie eher über den Körper als über das Denken. Es gibt zahlreiche derartige Verfahren. In meiner klinischen Praxis bevorzuge ich solche, die durch strenge und glaubwürdige Untersuchungen wissenschaftlich überprüft wurden.

Jedes der nun folgenden Kapitel stellt also einen solchen Ansatz vor, veranschaulicht durch Berichte von Patienten, deren Leben sich durch diese Erfahrung verändert hat. Ebenso werde ich mich bemühen zu zeigen, wie jedes dieser Verfahren wissenschaftlich überprüft und seine heilsamen Auswirkungen bestätigt wurden. Einige wurden erst in jüngster Zeit entwickelt; sie bedienen sich der Spitzentechnologien, etwa des vor allem unter der amerikanischen Abkürzung EMDR bekannten Verfahrens zur »Desensibilisierung und Wiederherstellung mittels der Augenbewegungen« oder der Regulierung des Herzrhythmus, oder der »Synchronisierung chronobiologischer Rhythmen mittels Sonnenaufgangssimulation«. Andere Methoden wie Akupunktur, richtige Ernährung, emotionale Kommunikation sowie Techniken der sozialen Integration sind aus jahrtausendealten medizinischen Traditionen hervorgegangen. Doch was auch immer ihr Ursprung ist, alles beginnt bei den Gefühlen. Daher ist es nötig, zunächst einmal genauer zu erklären, auf welche Weise sie funktionieren.

I Anmerkungen und bibliographische Hinweise sind am Ende des Buches kapitelweise aufgeführt.

2 DAS UNBEHAGEN IN DER
NEUROBIOLOGIE: DIE SCHWIERIGE
HOCHZEIT ZWEIER GEHIRNE

Wir sollten uns davor hüten, den Intellekt zu unserem Gott zu machen; Gewiss, er hat starke Muskeln, jedoch keine Persönlichkeit. Er darf nicht herrschen; nur dienen.

Albert Einstein

OHNE GEFÜHLE HAT DAS LEBEN KEINEN SINN. Was gibt denn unserer Existenz die Würze, wenn nicht die Liebe, die Schönheit, die Gerechtigkeit, die Wahrheit, die Würde, die Ehre und die Befriedigung, die sie uns schenken? Diese Empfindungen und die damit verbundenen Emotionen sind so etwas wie ein Kompass, der uns bei jedem Schritt die Richtung weist. Wir streben stets nach immer mehr Liebe, immer mehr Schönheit, immer mehr Gerechtigkeit und versuchen uns von ihrem jeweiligen Gegenpol zu entfernen. Der Gefühle beraubt, verlieren wir die wichtigsten Orientierungspunkte und sind nicht mehr fähig, entsprechend dem, was uns wirklich am Herzen liegt, Entscheidungen zu treffen.

Bestimmte Geisteskrankheiten äußern sich in einem solchen Kontaktverlust. Davon betroffene Patienten sind sozusagen in ein emotionales Niemandsland verbannt. Wie beispielsweise Peter, ein junger Kanadier griechischer Abstammung, der in der Notaufnahme meines Krankenhauses landete, als ich noch Assistenzarzt war.

Peter hörte seit einiger Zeit Stimmen. Sie sagten ihm, er sei eine lächerliche Figur, unfähig, und er täte besser daran zu sterben. Allmählich waren die Stimmen allgegenwärtig und das Verhalten Peters immer merkwürdiger geworden. Er wusch sich nicht mehr, weigerte sich zu essen und schloss sich manchmal etliche Tage hintereinander in seinem Zimmer ein. Seine allein stehende Mutter, mit der er zusammenlebte, kam fast um vor Sorgen, wusste aber nicht so recht, was tun. Außerdem war ihr Sohn – stets der Klassenbeste und im ersten Semester Philosophie ein brillanter Student – immer schon ein wenig exzentrisch gewesen.

Eines Tages hatte Peter, auf irgendetwas – was, wusste keiner – wütend, seine Mutter beschimpft und geschlagen. Sie hatte die Polizei rufen müssen, und so war Peter schließlich in der Notaufnahme des Krankenhauses gelandet. Unter der Einwirkung von Medikamenten hatte Peter sich weitgehend beruhigt. Die Stimmen waren nach einigen Tage praktisch verschwunden; er erklärte, er habe sie jetzt »unter Kontrolle«. Aber normal war er trotzdem nicht wieder geworden.

Nach einer mehrwöchigen Behandlung – antipsychotische Medikamente müssen über längere Zeit hinweg eingenommen werden – war seine Mutter fast genauso beunruhigt wie am ersten Tag. »Er empfindet überhaupt nichts mehr, Herr Doktor«, erklärte sie mit beinahe flehentlicher Stimme. »Sehen Sie ihn sich nur an. Er interessiert sich für nichts mehr, tut nichts mehr. Raucht nur noch den ganzen Tag.«

Während sie sich mit mir unterhielt, beobachtete ich Peter. Sein Anblick war Mitleid erregend. Leicht gekrümmt, mit starrem Gesicht und leerem Blick, rannte er mit großen Schritten durch den Gang der Ambulanz. Der einst so herausragende Student reagierte kaum mehr auf Signale aus der Außenwelt oder auf Menschen. Genau dieser Zustand der Gefühlsverarmung bei Patienten wie Peter löst in ihrem Umfeld oft Mitleid und Besorgnis aus. Seine Halluzinationen und Wahnvorstellungen – durch die Medikamente unterdrückt – waren jedoch weit gefährlicher für ihn und seine Mutter als diese Nebenwirkungen. Denn: keine Gefühle, kein Leben.I

Seinen Gefühlen uneingeschränkt freien Lauf zu lassen garantiert jedoch auch kein traumhaftes Leben. Sie müssen – und dafür sind die Denkfunktionen zuständig – unbedingt mittels rationaler Analyse den jeweiligen Umständen angepasst werden, denn jede unbedachte Entscheidung kann das komplizierte Gleichgewicht unserer Beziehungen zu anderen in Gefahr bringen. Ohne Konzentration, Überlegung und Planung werden wir nach dem Zufallsprinzip zwischen Vergnügen und Frustration hin und her gerissen. Wenn wir nicht mehr in der Lage sind, unser Leben im Griff zu behalten, verliert es sehr schnell seinen Sinn.

DIE EMOTIONALE INTELLIGENZ

Am besten wird dieses Gleichgewicht zwischen Gefühl und Vernunft durch den Begriff der »emotionalen Intelligenz« definiert. Geprägt wurde er von Forschern der Universität Yale/New Hampshire1; seine Sternstunde erlebte er beim Erscheinen des Buches von Daniel Goleman, Wissenschaftsjournalist der New York Times, das weltweit für Aufsehen sorgte und die Diskussion über die Frage »Was ist Intelligenz« erneut entfachte.2 Die emotionale Intelligenz ist eine ebenso einfache wie wichtige Vorstellung. In ihrer ursprünglichen und allgemeinsten Definition durch den französischen Psychologen Alfred Binet, der Anfang des 20. Jahrhunderts den »Intelligenzquotienten« erfand, bedeutet Intelligenz die Gesamtheit der geistigen Fähigkeiten, die es erlauben, den künftigen Erfolg einer Person vorherzusagen. Im Prinzip müsste man also, je »intelligenter« man ist, das heißt, je höher der eigene IQ ist, desto mehr »Erfolg« haben. Um diese Voraussage zu überprüfen, entwickelte Binet ein als »Intelligenztest« berühmt gewordenes Verfahren. Dieser Test richtet sich hauptsächlich auf die Fähigkeiten zu Abstraktion und Flexibilität beim Umgang mit logischer Information. Allerdings stellte man fest: Das Verhältnis zwischen dem IQ einer Person und ihrem »Erfolg« im umfassenderen Sinn (gesellschaftliche Stellung, Verdienst, ob verheiratet oder nicht, Kinder oder nicht und so weiter) berücksichtigt er kaum. Laut diversen Untersuchungen lassen sich nur 20 Prozent dieses Erfolgs dem IQ zuschreiben. Dies legt folgenden Schluss nahe: Zu 80 Prozent beruht Erfolg auf anderen, ganz offensichtlich wichtigeren Faktoren als der abstrakten und logischen Intelligenz.

Schon Jung und Piaget hatten die Ansicht vertreten, dass es verschiedene Arten von Intelligenz gibt. Nicht zu leugnen ist, dass bestimmte Menschen – wie Mozart – auf dem Gebiet der Musik, andere – beispielsweise Rodin – was die Formgestaltung betrifft, und eine dritte Kategorie für die Bewegung ihres Körpers im Raum – man denke an Nurejew oder Michael Jordan – über eine bemerkenswerte Intelligenz verfügen. Die Forscher in Yale/New Hampshire entdeckten eine zusätzliche Form der Intelligenz: Sie gehört zum Verständnis und Umgang mit unseren Emotionen. Genau diese Form von Intelligenz, die »emotionale Intelligenz«, kann offenbar besser als jede andere den Erfolg im Leben erklären. Und sie ist weitgehend unabhängig vom Intelligenzquotienten.

Ausgehend von der Vorstellung einer emotionalen Intelligenz, definierten die Forscher von Yale/New Hampshire einen »emotionalen Quotienten« (EQ = Emotionsquotient), um sie zu messen, und zwar anhand von vier Faktoren:

1. Die Fähigkeit, seinen eigenen Gefühlszustand und den anderer zu erkennen;

2. die Fähigkeit, den natürlichen Ablauf von Gefühlen zu verstehen (ganz so wie ein Läufer oder ein Springer sich auf einem Schachbrett entsprechend den jeweiligen Regeln fortbewegen, verläuft beispielsweise bei Angst oder Zorn die Entwicklung in der Zeit unterschiedlich);

3. die Fähigkeit, über seine eigenen Gefühle und die anderer vernünftig nachzudenken und zu urteilen;

4. die Fähigkeit, mit seinen eigenen Gefühlen und denen anderer richtig umzugehen.3

Diese vier Fähigkeiten bilden die Grundlage von Selbstbeherrschung und gesellschaftlichem Erfolg. Sie liegen Selbsterkenntnis, Zurückhaltung, Mitfühlen, Kooperationsbereitschaft und der Fähigkeit zur Konfliktlösung zu Grunde. All dies erscheint elementar. Und jeder Einzelne ist überzeugt, alle vier Bereiche hervorragend zu beherrschen. Dies ist jedoch keineswegs der Fall.

Beispielsweise erinnere ich mich an eine junge, brillante Forscherin an der medizinischen Fakultät in Pittsburgh. Sie hatte eingewilligt, an einem Experiment zur Lokalisierung von Gefühlen im Gehirn teilzunehmen, das ich in meinem Labor durchführen wollte. Bei dieser Untersuchung unterzogen sich mehrere Personen einer Kernspintomographie und wurden zu diesem Zweck in einen entsprechenden Apparat geschoben; man führte ihnen Filmausschnitte mit sehr schrillen Bildern vor, die oft Gewalttätigkeiten zeigten. An dieses Experiment erinnere ich mich lebhaft, da ich selber einen ausgesprochenen Widerwillen gegen derlei Filme empfand, einfach weil ich sie immer wieder ansehen musste. Die junge Frau wurde also in den Scanner geschoben; von Beginn des Experiments an sah ich, wie ihr Herzrhythmus und der Arteriendruck schlagartig anstiegen; dies wies auf eine starke emotionale Belastung hin. Ich fand das beunruhigend, und zwar so sehr, dass ich ihr vorschlug, das Experiment abzubrechen. Erstaunt erklärte sie, es gehe ihr sehr gut, sie empfinde gar nichts, die Bilder machten keinerlei Eindruck auf sie; sie verstehe nicht, warum ich einen Abbruch vorschlage!

Wie ich in der Folgezeit erfuhr, hatte die junge Frau sehr wenig Freunde und lebte nur für ihre Arbeit. Meiner Gruppe war sie unsympathisch, auch wenn keiner wirklich wusste, warum eigentlich. Weil sie zu oft nur von sich selber sprach und den Menschen in ihrer Umgebung gleichgültig gegenüberstand? Ihrerseits verstand sie überhaupt nicht, warum ihr keine höhere Wertschätzung entgegengebracht wurde. In meinen Augen ist und bleibt sie das Paradebeispiel für einen Menschen, bei dem der IQ sehr hoch, der »EQ« jedoch erbärmlich niedrig ist. Ihr Hauptmangel war offenbar, dass sie sich in keiner Weise ihrer Gefühle bewusst und daher für die Gefühle anderer »taub« war. Hinsichtlich ihrer Karriere sah ich ziemlich schwarz. Selbst in den wissenschaftlichsten Disziplinen muss man im Team arbeiten, Bündnisse schließen, seinen Mitarbeitern die richtigen Vorgaben liefern und so weiter. Gleichgültig, auf welchem Gebiet man tätig ist, immer hat man es auch mit anderen Menschen zu tun. Das ist unvermeidlich. Und auf lange Sicht entscheidet unsere Begabung für diese Art von Beziehungen über unseren Erfolg.

Besonders gut veranschaulicht das Verhalten von Kleinkindern, wie schwierig es sein kann, verschiedene Gefühlszustände zu unterscheiden. Meistens weiß ein kleines Kind nicht genau, warum es weint, ob ihm zu heiß ist, ob es Hunger hat, ob es traurig ist oder einfach weil es nach einem langen, mit Spielen verbrachten Tag müde ist. Es weint, ohne genau zu wissen, warum, und weiß auch nicht, was es machen muss, um sich besser zu fühlen. In einer solchen Situation fühlt ein Erwachsener, dessen emotionale Intelligenz unterentwickelt ist, sich leicht überfordert, weil er das Gefühl des Kindes nicht identifizieren, folglich auch nicht auf sein Bedürfnis reagieren kann. Andere Personen, die über eine höher entwickelte emotionale Intelligenz verfügen, wissen hingegen, was zu tun ist, um ein Kind ohne große Schwierigkeiten zu beruhigen. So wird oft Françoise Dolto beschrieben, die sich darauf verstand, mit einer einzigen Geste oder einem einzigen Wort ein Kind zu beruhigen, das seit Tagen weinte: eine Virtuosin der emotionalen Intelligenz.

Bei Erwachsenen ist eine solche Unfähigkeit, klar zwischen verschiedenen Gefühlszuständen zu unterscheiden, gar nicht so selten. Ich habe sie bei einigen Assistenzärzten in meinem Krankenhaus in den USA festgestellt. Sie standen unter Stress, weil ihre Arbeitstage schier endlos waren, waren erschöpft vom Nachtdienst, der jeden vierten Tag fällig war, und kompensierten das durch viel zu viel Essen. Wenn also ihr Körper ihnen signalisierte, »Ich brauche eine Pause und ein wenig Schlaf«, dann hörten sie nur, »Ich brauche«, und reagierten auf diesen Wunsch mit dem einzigen, das sofort verfügbar ist: dem Fastfood, das in jedem amerikanischen Krankenhaus rund um die Uhr zu kriegen ist. In einer solchen Situation eine emotionale Intelligenz an den Tag zu legen bedeutet, die von der Forschergruppe in Yale beschriebenen vier Fähigkeiten einzusetzen: zunächst den jeweiligen Zustand zu identifizieren (Müdigkeit, nicht Hunger), den Ablauf zu kennen (das kommt und geht den lieben langen Tag so, wenn man zu viel von seinem Organismus fordert; ein wenig später wird es einem zweifelsohne besser gehen), nachzudenken (es bringt überhaupt nichts, wenn ich jetzt noch ein Eis esse; im Gegenteil, das wäre nur eine zusätzliche Belastung für meinen Organismus, und darüber hinaus hätte ich ein schlechtes Gewissen) und schließlich auf angemessene Weise auf die Situation zu reagieren (indem man lernt, wie man den Müdigkeitsanfall vorbeigehen lässt, oder indem man eine »Meditationspause«, vielleicht sogar eine Siesta von zwanzig Minuten einlegt; dafür findet man immer die notwendige Zeit, und es gibt einem mehr neue Kraft als der x-te Kaffee oder eine halbe Tafel Schokolade).

Dieser Fall mag trivial erscheinen, aber die Situation ist eben deswegen interessant, weil sie zwar schrecklich banal, gleichzeitig aber äußerst schwer zu meistern ist. Die meisten Spezialisten für Ernährung und Fettleibigkeit sind sich in einem Punkt einig: Einer der Hauptgründe für eine Gewichtszunahme ist in einer Gesellschaft, in der Stress allgegenwärtig ist und viel zu oft mit Essen darauf reagiert wird, dass man nur schlecht mit seinen Gefühlen zurechtkommt. Diejenigen, die gelernt haben, mit Stress umzugehen, haben normalerweise keine Gewichtsprobleme, denn sie haben auch gelernt, auf ihren Körper zu hören, ihre Gefühle zu erkennen und intelligent darauf zu reagieren.

Golemans These lautet, dass der richtige Umgang mit der emotionalen Intelligenz ein besseres Unterpfand für Erfolg im Leben ist als der IQ. Im Rahmen einer der bemerkenswertesten Untersuchungen zu der Frage, was eine Voraussage von Erfolg ermöglicht, beobachteten Psychologen nahezu hundert Harvard-Studenten seit den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts.4 Ihre intellektuellen Leistungen in Alter von zwanzig Jahren ermöglichten in keinster Weise eine Voraussage, wie hoch ihr zukünftiges Gehalt sein werde, welche Leistungsfähigkeit sie später an den Tag legen und in welchem Maße sie von ihren Kollegen anerkannt würden. Bei denjenigen, die an der Universität die besten Noten gehabt hatten, war das Familienleben keineswegs am harmonischsten, und sie hatten durchaus nicht die meisten Freunde. Ganz im Gegenteil: Eine Studie zu Kindern in einem armen Vorort von Boston legt den Schluss nahe, dass der »Gefühlsquotient« eine große Rolle spielt – am besten sagte nicht der IQ ihren Erfolg als Erwachsene voraus, sondern ihre Fähigkeit, im Verlauf einer schwierigen Kindheit ihre Gefühle unter Kontrolle zu halten, angemessen auf ihre Benachteiligung zu reagieren und mit den anderen zusammenzuarbeiten.5

JENSEITS VON FREUD UND DARWIN:
DIE DRITTE REVOLUTION IN DER PSYCHOLOGIE

Zwei große Theorien beherrschten die Psychologie des 20. Jahrhunderts: die Darwinsche und die von Freud. Es dauerte fast hundert Jahre, bis ihre Zusammenführung jetzt zu einer völlig neuen Betrachtungsweise der emotionalen Balance führt.

In den Augen Darwins schreitet die Evolution einer Spezies durch die sukzessive Hinzufügung neuer Strukturen und Funktionen voran. Jeder Organismus hat daher die körperlichen Merkmale seiner Vorfahren und zusätzlich einige andere. Da die Trennung der Entwicklungslinien des Menschen und der Menschenaffen im Rahmen der Evolution der Spezies erst sehr spät erfolgte, ist der Mensch in gewisser Hinsicht die »verbesserte Ausgabe eines Menschenaffen«II. Der Menschenaffe seinerseits hat zahlreiche Eigenschaften mit allen anderen Säugetieren gemein, die einen gemeinsamen Vorfahren haben, und so geht es die ganze lange Kette der Evolution hinunter.

Wie bei archäologischen Grabungen lässt sich diese sukzessive Evolution in Anatomie und Physiologie des menschlichen Gehirns schichtenweise nachvollziehen. Die tief liegenden Strukturen des Gehirns sind mit denen der Menschenaffen, bestimmte, nämlich die am tiefsten liegenden, sogar mit denen von Reptilien identisch. Im Gegensatz dazu sind die Strukturen aus der jüngsten Evolutionsphase, etwa der präfrontale Kortex (hinter der Stirn) nur beim Menschen derart hoch entwickelt. Aus diesem Grund unterscheidet die vorgewölbte Stirn das Gesicht des Homo sapiens so klar und deutlich von dem seiner den Menschenaffen am nächsten verwandten Vorfahren. Was Darwin verkündete, war dermaßen revolutionär und beunruhigend, dass die entsprechenden Schlussfolgerungen erst gegen Mitte des 20. Jahrhunderts wirklich akzeptiert wurden: Wir sind dazu verdammt, mit einem Gehirn im Inneren unseres Gehirns zu leben, das dem der in der Evolutionsreihe unter uns stehenden Tiere entspricht.

Freud seinerseits betonte die Existenz eines Teilbereichs des psychischen Lebens, den er als »das Unbewusste« bezeichnete und folgendermaßen definierte: das, was sich nicht nur der bewussten Beachtung, sondern darüber hinaus auch der Vernunft entzieht. Von der Ausbildung her Neurologe, konnte Freud sich nie dazu entschließen, die Vorstellung zu akzeptieren, dass seine Theorien sich möglicherweise nicht in Begriffen von Gehirnstrukturen und -funktionen erklären ließen. Da er nicht über dasselbe Wissen hinsichtlich der Anatomie des Gehirns (seiner Architektur) und vor allem seiner Physiologie (seiner Funktionsweise) verfügte wie wir heutzutage, war es ihm unmöglich, auf diesem Weg weiterzukommen. Sein Versuch, die beiden Bereiche miteinander in Einklang zu bringen – sein berühmter »Entwurf für eine wissenschaftliche Psychologie« –, endete mit einem Misserfolg. So unzufrieden war er damit, dass er sich weigerte, ihn zu seinen Lebzeiten zu veröffentlichen. Dennoch dachte er ständig daran. Ich erinnere mich an eine Begegnung mit Dr. Wortis, einem berühmten Psychiater, den Freud analysiert hatte. Er war fünfundachtzig, aber im Rahmen der wichtigsten Zeitschrift der biologischen Psychiatrie, Biological Psychiatry, die er begründet hatte, immer noch sehr aktiv. Er erzählte mir, wie Freud, dem er Anfang der dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts in Wien einen Besuch abstattete, ihn mit seiner Hartnäckigkeit überrascht hatte: »Geben Sie sich nicht damit zufrieden, sich die heutige Ausformulierung der Psychoanalyse anzueignen. Die ist bereits überholt. Ihre Generation wird erleben, dass sich eine Synthese zwischen Psychologie und Biologie herstellt. Das ist es, worauf Sie sich konzentrieren sollten.« Während die ganze Welt allmählich seine Theorien und seine »Redekur« entdeckte suchte Freud, immer ein Pionier, schon ganz woanders…

Ende des 20. Jahrhunderts lieferte Antonio Damasio, ein Amerikaner portugiesischer Herkunft und ein großer Arzt und Forscher, eine neurologische Erklärung der beständigen Spannung zwischen dem primitiven und dem rationalen Gehirn – zwischen den Leidenschaften und der Vernunft –, und zwar in Begriffen, mit denen Freud bestimmt einverstanden gewesen wäre. Damasio ging noch weiter und zeigte darüber hinaus, inwiefern Gefühle für die Vernunft schlicht unentbehrlich sind.

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