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6. PHRENOLOGIE

Die Phrenologie war eine Bewegung, die in den 1820ern bis 1840ern über Nordamerika hinweg fegte und die Bühne für zukünftige Bewegungen bereitete, insbesondere für den Mesmerismus. Obgleich die Phrenologie selbst keine bedeutende Rolle im Swedenborgianismus und der Osteopathie spielte, so wirkte sie dennoch indirekt, indem sie einen Bruch mit der Vergangenheit und eine Plattform sowie ein Netzwerk für zukünftige Bewegungen bereitete, für den Mesmerismus, aber auch für das magnetische Heilen. Umgekehrt spielten der Mesmerismus und das magnetische Heilen insofern eine bedeutende Rolle, als sie mit swedenborgianischen Ideen kombiniert wurden und sich im Spiritismus, einer weiteren metaphysischen Bewegung, ausdrückten.

Die Theorie der Phrenologie wurde von dem deutschen Arzt, Franz Joseph Gall (1758 – 1818), entwickelt. Gall promovierte 1785 in Wien und unterhielt schon bald eine große und erfolgreiche Praxis. 1797 entwarf er eine Theorie zerebraler Lokalisationen und entwickelte ein Modell 37 unterschiedener Gehirnareale, die Charakter und Intellekt einer Person bestimmten. Sie trugen Bezeichnungen wie Wohlwollen, Verehrung, Selbstachtung und Idealität, Nervöses, Reizbares, Heiterkeit und Sprache. Gall fuhr fort, den Charakter eines Menschen methodisch zu analysieren, indem er die Schädelform in Bezug auf diese verschiedenen Bereiche betrachtete. Er lehrte zudem, dass die Fähigkeiten, die diesen Bereichen innewohnten, durch physische und mentale Übung, ferner durch Ernährung und Umgebung entwickelt und verbessert werden könnten.183

Gall verließ Wien 1802, nachdem die Regierung seine Ideen als umstürzlerisch verbot. Dabei wurde er von seinem Schüler und Kollegen Johann Gaspar Spurzheim (1776 – 1832) begleitet, der in den nächsten Jahren vortragend und lehrend durch Deutschland, die Schweiz und die Niederlande zog. Galls Ideen wurden sehr populär und 1807 ließen er und Spurzheim sich in Paris nieder. Dort veröffentlichte Gall zahlreiche Bände mit seinen Anschauungen. Beide führten anatomische Sektionen durch und erklärten ihre Sichtweise anderen Ärzten und Wissenschaftlern.

Der charismatische Spurzheim begann schließlich seine eigenen Schriften zu veröffentlichen und einige Konzepte Galls zu verändern, was zu Unstimmigkeiten zwischen den beiden Männern führte. Spurzheim prägte den Ausdruck ‚Phrenologie’ (Wissenschaft von den mentalen Zuständen), welchen der ihm methodisch vorangehende Gall ablehnte. Spurzheim beseitigte Galls Konzept der Gehirnbereiche, insoweit sie schlechte Funktionen beschrieben. Spurzheim war der Ansicht, dass die Menschen intrinsisch gut geschaffen seien und Böses sich ausschließlich durch Missbrauch der Fähigkeiten ergeben könne. Er sah die Vollendung der menschlichen Rasse durch die Anwendung der Wissenschaft der Phrenologie voraus, wobei er über Bildung, Strafsysteme und sogar Religion spekulierte. In dieser neuen Perspektive auf die Phrenologie konvergierten Wissenschaft und Religion und offenbarten die zugrunde liegenden Gesetze Gottes.184

Der umtriebige Spurzheim entwickelte missionarischen Eifer, um die frohe Botschaft der Phrenologie zu verbreiten. Er reiste nach Großbritannien und referierte 1814 – 1817 in England und Schottland, ehe er nach Paris zurückkehrte. Eines der bedeutendsten Ergebnisse war die Konversion eines jungen schottischen Anwalts mit Namen George Combe. Obgleich medizinisch ungebildet, warf Combe rasch seine calvinistische Erziehung ab und beschloss, sein Leben dem Studium und der Fortentwicklung der Phrenologie zu widmen. Er lernte Gehirne nach Spurzheims Anweisungen zu sezieren und gründete mit seinem Bruder Andrew eine begeisterte phrenologische Gemeinschaft in Edinburgh, die sehr erfolgreich war und über lange Zeit bestand. 1823 veröffentlichte diese Gruppe einen 500-seitigen Band und begann eine Zeitschrift zu phrenologischen Themen herauszugeben, welche 24 Jahre lang bestehen sollte. Die Schriften der Brüder Combe wirkten nachhaltig und beeinflussten sowohl medizinische als auch literarische Kreise. (Man kann sogar Spuren davon in den populären Schriften von Sir Arthur Conan Doyle und seinen Geschichten über Sherlock Holmes finden.) Spurzheim kehrte 1825 nach Großbritannien zurück und hielt Reden vor vollen Sälen. In den 1830ern existierten bereits zwölf phrenologische Gesellschaften und über 60 Veröffentlichungen zum Thema; eine der bekanntesten davon war The Constitution of Man aus dem Jahr 1828. Phrenologie wurde mehr als bloß eine medizinische Wissenschaft. Sie wurde zu einer Gesellschaftsphilosophie und eine populäre Bewegung.185

Die Phrenologie überquerte in den frühen 1820ern den Atlantik und schlug zunächst Wurzeln im medizinischen Berufsstand und in verschiedenen medizinischen Ausbildungsstätten, bevor sie in den gebildeten Klassen recht populär wurde. Die Werke der Combes verbreiteten sich ebenso schnell wie die ‚anspruchsvolleren’ Werke Galls und Spurzheims. Von engagierten Swedenborgianern in Boston aufs Neue publiziert, verbreitete sich insbesondere Combes The Constitution of Man sehr weit. Selbst Emerson schrieb eine wohlwollende Rezension über dieses führende phrenologische Buch.186 Obgleich sich die Phrenologie zunächst nur in den gebildeten medizinischen und wissenschaftlichen Kreisen Nordamerikas verbreitete, transformierte sie bald zu einer populären Bewegung. Das wurde auch während einer Reise Spurzheims 1832 nach Neuengland verkündet. Der mittlerweile sehr angesehene Spurzheim wurde zur Abschlussfeier nach Yale eingeladen und machte dort großen Eindruck. Er wurde rasch der Liebling vieler Professoren und bald war auch die medizinische Profession Neuenglands gleichermaßen beeindruckt von seinen Gehirnsektionen und den entsprechenden Konzepten. Spurzheim reiste weiter nach Boston, wo er wiederum engagiert dozierte. Im großen Freimaurertempel des Harvard College in Cambridge hielt er insgesamt 18 öffentliche Vorträge, worauf eine Vortragsreihe über Gehirnanatomie bei der Bostoner Medizinischen Gesellschaft folgen sollte. Unglücklicherweise forderte diese Arbeit ihren Tribut. Während seines letzten Vortrags fiel Spurzheim einem Fieber zum Opfer und starb im November des gleichen Jahres, keine drei Monate nach seiner Ankunft in Nordamerika. Sein Begräbnis wurde zu einem großen öffentlichen Ereignis, bei dem die Glocken der Stadt läuteten. 3.000 Bürger marschierten zum Old South Meeting House, darunter die gesamte Medizinische Gesellschaft Bostons. Spurzheims Persönlichkeit, die Vorträge und sein dramatischer Tod entfachten umso stärker das amerikanische Interesses für die Phrenologie, die sich weiter als populäre Bewegung verbreiten sollte.187

In den folgenden zwölf Jahren wurde George Combe als der bedeutendste Phrenologe der Welt bekannt. 1838 begab er sich auf eine 18-monatige Vortragstour durch Nordamerika und sprach vor großen Auditorien in den meisten Städten an der Ostküste. Combe wurde als legitimer Träger der Mission Spurzheims anerkannt. Er war ein ausgezeichneter öffentlicher Redner und „[…] bewegte sich [ebenso] mit Leichtigkeit und Anmut in der besten Gesellschaft.” So war er schon bald mit politischen und intellektuellen Führungspersönlichkeiten, Philosophen und Schriftstellern sowie mit dem medizinischen Establishment freundschaftlich bekannt. Seine große Zuhörerschaft war gebildet, zu ihr gehörte die intellektuelle Elite des Landes. Seine Reden umfassten 16 zweistündige Erörterungen zu Psychologie und Anatomie, wozu vieles in Zeitungen und Zeitschriften gedruckt wurde. Combe wurde auf seiner Vortragstour freundlich empfangen und so blühte die Phrenologie während dieser Zeit in Nordamerika auf und phrenologische Gesellschaften schossen im ganzen Land aus dem Boden.188

Die Phrenologie blieb aber nicht lange eine elitäre intellektuelle Bewegung. Ein Mann spielte bei ihrer Popularisierung eine bedeutendste Rolle: Orson Fowler. Fowler war 1833 Student der Lane Theological School in Massachusetts, als er sein Interesse an der Phrenologie entwickelte. Er begann über das Thema vorzutragen und bot seinen Studienkollegen Charakterbeurteilungen gegen Honorar. Er hielt weitere Reden in nahe gelegenen Städten und führte viele weitere Charakterbeurteilungen durch. Nach kurzer Überlegung entschloss sich Fowler, einen Wechsel des Berufsfeldes zu vollziehen, vom Geistlichen hin zum Phrenologen, und er überredete seinen Bruder Lorenzo Niles Fowler kurzerhand bei einer Vortragsreise im Nordosten mitzumachen. Damit brach er nicht nur mit der intellektuellen medizinischen Tradition von Gall, Spurzheim und Combe; es begann auch eine lebenslange Berufslaufbahn der Brüder Fowler, die sich durch Schreiben, Vorträge und honorierte Untersuchungen auszeichnete. Viele andere folgten ihrem Weg. Einige darunter waren gut ausgebildet, andere nicht und alle wurden sie Teil der Vortragsreisen –es war ein blühendes Geschäft. Der Historiker Davies beschreibt die Situation:189

„Während der 1830 er und 1840 er gab es wahrscheinlich kein Dorf im Land, das nicht mindestens einen Besuch eines wandernden praktischen Phrenologen erlebte. Es war eine ungewöhnliche Profession, die oft sehr lukrativ war. Sie war in Neuengland initiiert worden und wurde zuerst von Neuengländern dominiert. Mit anderen Worten: Es handelte sich um eine Kombination aus Yankee-Missionar und Yankee-Hausierer. Jedem, der es hören wollte, wurde anspornender Eifer präsentiert und ebenso nützliche Waren für alle, die kaufen wollten.” 190

Die populäre Bewegung der Phrenologie verlor viel von ihrer früheren wissenschaftlichen Konzentration und entwickelte sich bald zu einer erheblich schlichteren und unterhaltsamen Form populärer Vorträge über Phrenologie, mit Angeboten, die Köpfe von Freiwilligen aus dem Publikum einzuschätzen und ihren Charakter vorauszusagen und zu analysieren. Danach folgten einige Tage lang private Konsultationen gegen Honorar. Diese entwickelten sich bald zu einer Art von wissenschaftlichem Schicksalsgespräch.

Die Phrenologie-Vorträge der 1840 er durch die Brüder Fowler und die große Zahl derjenigen, die sich ihnen anschlossen, zogen ebenso große Zuhörerzahlen an, wie dies zuvor bei Spurzheim und Combe in den 1830ern der Fall gewesen war. Die spätere populäre Phrenologie-Bewegung erfasste Städte ebenso wie ländliche Gebiete und dehnte sich westwärts über das gesamte Land aus. Gleichwohl hatte sich der Charakter, wie bereits erwähnt, deutlich verändert: Sie war nun stark populistisch und unterhaltungsorientiert. Menschen aus allen Bildungs- und Gesellschaftsschichten nahmen daran teil, vom einfachen Landmann bis hin zum Städter, vom Professor bis zum Arbeiter, und so wurde die Phrenologie zu einem gängigen Verfahren in der amerikanischen Gesellschaft der 1840er. In jenen Zeiten war es en vogue, phrenologisch beurteilt zu werden.191

Zu jener Zeit spaltete sich die Phrenologie in zwei Richtungen: in die Wissenschaft und Philosophie von Gall und Spurzheim und in ihre praktische Anwendung bei den Charakterbeurteilungen Fowlers und anderer amerikanischer Phrenologen. Spurzheim hingegen hatte es abgelehnt, sich mit individueller Charakteranalyse zu befassen, ebenso Combe, der bestritt, etwas mit Fowler zu tun zu haben. Dennoch blühte der Fowler’sche Ansatz und wurde populärer als jener von Gall und Spurzheim. Um aber fair zu sein: Fowler schien wirklich zu glauben, dass sein praktischer Zugang die Popularität der Phrenologie befördere. Und diese wiederum würde das Fundament für eine dringend nötige Sozialreform legen, die ebenso nützlich wie lang andauernd sein würde. Unglücklicherweise – insofern die Bewegung ihren populistischen Weg für lange Zeit weiterging – nahmen die Differenzen unter den Praktikern zu. Deren mehr und mehr sinkende Qualität führte schließlich dazu, dass die Phrenologie als durchsetzt von Betrug und Täuschung wahrgenommen wurde.192

Orson und Lorenzo Fowler eröffneten 1835 ein Büro in New York City. Das Geschäft wuchs so schnell, dass sie ihre Schwester Charlotte hinzuholten, die später aus eigener Kraft ebenfalls zu einer sehr bekannten Phrenologin wurde. 1843 schloss sich ein Medizinstudent namens Samuel R. Wells dem Geschäft an, er heiratete im darauf folgenden Jahr Charlotte und wurde Geschäftspartner; der Geschäftsname wurde in Fowler & Wells geändert. Die Fowlers waren die ersten und blieben die führenden praktischen Phrenologen in Nordamerika. Ihr Geschäft blühte in den nächsten Jahrzehnten auf und avancierte zu einem Zentrum, was die Verbreitung und den Verkauf phrenologischer Materialien in den Vereinigten Staaten betraf: Bücher, Broschüren, Tabellen zur Aufzeichnung von Charakterbeurteilungen, Gipsköpfe berühmter Menschen, Skelette, Lehrhilfen aller Art – eigentlich alles, was ein Phrenologe zum Studium und zum Praktizieren seines Berufes gebrauchen konnte. Das Hauptbüro beheimatete ebenso ein berühmtes phrenologisches Kabinett, ein phrenologisches Museum, das Zehntausende von Besuchern aus New York und von anderswo anzog.193

1837 etablierten die Fowlers eine monatlich erscheinende Zeitschrift, das American Phrenological Journal. Obgleich die Veröffentlichung zunächst dem Modell der phrenologischen Zeitschriften in Edinburgh folgte, änderte sie bald ihre Richtung und konzentrierte sich auf Artikel, welche die Bedürfnisse der praktischen Phrenologen berücksichtigte. Wissenschaftliche Themen rückten gegenüber praktischen Untersuchungsmethoden in den Hintergrund. Das American Phrenological Journal wurde sehr erfolgreich und hatte 1847 eine Auflage von 20.000 Exemplaren, es war damit im Lande führend bei monatlichen Periodika. 1851 änderten Fowlers & Wells den Namen der Zeitschrift in American Phrenological Journal and Miscellany. Zur selben Zeit änderten sie auch das Format der Zeitschrift und brachten Artikel zu einer Vielzahl von Themen, die reformistische und aktuelle populäre Bewegungen ebenso wie die Phrenologie behandelten. Die Auflage stieg immer weiter und erreichte im folgenden Jahrzehnt den Spitzenwert von 50.000 Lesern monatlich.194

Obgleich die Theorie der Phrenologie auf einer materiellen Basis ruhte, prädestinierte dies nicht dazu, alles durch die Bestandteile des Gehirns zu offenbaren. Die Phrenologie lehrte darüber hinaus eine Form optimistischer Verhaltenspsychologie. Der phrenologischen Lehre zufolge vermochte ein Individuum seine Tugenden zu kultivieren und unerwünschte Tendenzen zu hemmen. Ebenso ließen sich diese durch die Lebensumstände eines Individuums beeinflussen. Auf diesen Ideen beruhte eine Sozialphilosophie, die insbesondere Reformer ansprach – auch wenn die Menschen eine Reihe ererbter individueller Tendenzen mit sich trügen, könnten diese verändert und verbessert werden. Die Phrenologie lehrte, dass der menschliche Verstand durch scheinbar alltägliche Sachverhalte wie körperliche Bewegung, angemessene Ernährung und Kleidung, gesunde Gewohnheiten und ein Leben an der frischen Luft beeinflusst werden könne. Die Phrenologie wurde zu einem Werkzeug, um Reformen zu befördern; dies galt allen voran für die Bereiche Bildung, Strafvollzug, Gesundheit, Literatur und Medizin.195

Die von der phrenologischen Bewegung geförderten Reformen waren sehr wirkungsreich, insbesondere im Bildungssektor. Die Phrenologie lehrte, dass Bildung von höchster Bedeutung sei, denn ein unerwünschter Bürger sei schlicht ein solcher, dessen mentale Organe nicht angemessen entwickelt worden seien. Vorsorge sei viel besser als Heilung. Und man nahm an, die beste Zeit, um diese Prinzipien anzuwenden, seien die prägenden Jahre des Schulbesuchs. Diese Anschauungen stimmten in wissenschaftlicher wie populärer Hinsicht mit der Phrenologie überein, und sie wurden von Spurzheim, Combe und Fowler unterstützt. Alle waren sie der Ansicht, der Verstand sei im Gehirn beheimatet. Und das Gehirn sei eng mit dem Rest des Körpers verbunden. Daher sei ein gesunder Körper integraler Bestandteil einer angemessenen mentalen Gesundheit. Folglich unterstützte die Phrenologie bildungsreformerische Vorschläge wie einen kürzeren Schultag, welcher durch mehr physische Bewegung und Spiel (insbesondere an der frischen Luft) angefüllt werden sollte, dazu wechselnde Themen, um Langeweile zu vermeiden. Anstelle von Abrichtung und strenger Konzentration auf ein Thema wie Latein sollten die Lehrer die Schüler mit Fragen und Antworten sowie weiteren Aktivitäten am Unterricht beteiligen, um weitere Funktionen des Gehirns zu verwenden, und dies immer im Zusammenhang mit Bewegung. Man ermutigte die Lehrer, die Stärken der Schüler zu berücksichtigen und ihr Selbstvertrauen zu stärken. Aufgabe sei es, die Schüler besser zu verstehen, nicht bloß Verhalten zu bestrafen, welches nicht genau zum Status quo passe. Diese Anschauungen unterschieden sich deutlich von der zeitgenössischen Bildung.196

Die Beschreibung weiterer Reformbereiche würde den Rahmen des vorliegenden Buches sprengen. Daher muss es genügen, darauf hinzuweisen, dass es eine ausgiebige Reformliteratur gab, insbesondere zu den Themen Bildung, Kleidung (etwa gegen zu enge Kleidung bei Frauen, welche die Atmung behinderte), Strafvollzug, Gesundheit, Pflege von Geisteskranken und Medizin. Das American Phrenological Journal der Fowlers unterstützte dabei viele dieser reformistischen Themen. Die Zeitschrift publizierte zudem Ideen anderer populärer Bewegungen und wurde dadurch zu einer Quelle für die Verbreitung neuer Konzepte, etwa für die Kombination von Phrenologie und Mesmerismus, die als Phrenomagnetismus bezeichnet wurde. Die Zeitschrift fuhr fort, das Werk anderer bedeutender Führer metaphysischer Bewegungen zu vermitteln, wie etwa das von Phineas Parkhurst Quimby (dem einflussreichen Vorläufer der Neugeist-Bewegung) oder jenes von Davis (dem offiziellen Philosophen des frühen Spiritismus).197

Die Phrenologie der 1830 er und 1840 er war eine Mischung aus Psychologie und Philosophie mit einem Spritzer Wissenschaft. Sie verortete den Menschen in der Wissenschaft und behauptete, dass mentale Phänomene objektiv studiert und durch natürliche Ursachen erklärt werden könnten – zugleich aber auch, dass der Mensch sich verbessern könne. Sie unterstützte eine Gesellschaftsphilosophie voller Reformideen. Zum Ende der 1850 er erlebte die Phrenologie jedoch ihren Niedergang, als andere Bewegungen populärer und von der nachfolgenden Generation aufgegriffen wurden. Gleichwohl entwickelte sie während der 1830 er und 1840 er ein großes Netzwerk von Vortragenden und Praktikern sowie einen erfolgreichen Verlag. All dies diente als Plattform, um neue Ideen auf denselben Kanälen zu verbreiten. Dies galt insbesondere für zwei weitere interessante Bewegungen: den Mesmerismus und den Magnetismus.198

7. MESMERISMUS UND MAGNETISCHES HEILEN IN NORDAMERIKA

Nordamerika unterlag in der Mitte des 19. Jahrhunderts in vieler Hinsicht enormen Veränderungen. Von den 1830ern bis in die Zeit nach dem Bürgerkrieg vollzogen sich große kulturelle Umwälzungen, die durch Urbanisierung, rasche Industrialisierung und autonome intellektuelle Bestrebungen ausgelöst wurden. Die strenge religiöse Weltsicht der puritanischen Vorväter dominierte nicht länger über eine sich zunehmend säkularisierende Gesellschaft. Viele Nordamerikaner empfanden sich als orientierungslos dahintreibend, ohne Sinn innerhalb eines sich schnell verändernden Lebens. Die Medizin befand sich in schrecklicher Unordnung und verfügte über keine zusammenhängende Theorie; ihre Eingriffe führten oft zu mehr Unglück, als dass sie Hilfe erbrachten. Die Probleme, vor denen die Nordamerikaner des 19. Jahrhunderts standen, wurden weder von der Medizin noch von den zeitgenössisch dominierenden religiösen Lehren angesprochen. Es war eine Zeit, in der neue Ideen zur Erläuterung neuer Weltsichten gesucht wurden. Die Zeit war reif, um eine neue Psychologie auszuprobieren.

Der Mesmerismus erfüllte diese Bedürfnisse. Er bot eben diese neue Psychologie und darüber hinaus eine neue Form des Heilens in einer Zeit, da die Öffentlichkeit nach genau solchen Angeboten dürstete. Obgleich der Mesmerismus keine Religion war, wandelte er entlang der Grenze zwischen Religion und Wissenschaft, spielte verschiedene Rollen und befriedigte zugleich verschiedene Bedürfnisse. Er ebnete außerdem den Weg für eine kommende, noch größere Bewegung, zu deren Teil er dann wurde – für den Spiritismus. Dies geschah – wie später noch ausführlicher erläutert – auf verschiedene Arten und Weisen. Der Mesmerismus trug nicht nur direkt zum Spiritismus bei (in Form einer Mischung aus Mesmerismus und Swedenborgianismus), sondern er diente auch dazu, den Swedenborgianismus zu popularisieren. Der Historiker Whitney R. Cross notierte die Chronologie des öffentlichen Interesses wie folgt: „Mesmerismus führte zum Swedenborgianismus – und der Swedenborgianismus zum Spiritismus.”199

Der Begründer des Mesmerismus war Franz Anton Mesmer. Mesmer erhielt 1766 seinen medizinischen Doktortitel von der Universität Wien. Anfänglich war er in Analogie zu Newtons Theorie der Schwerkraft am Transfer der Energie himmlischer Körper an die menschliche Form interessiert. Dabei argumentierte er zugunsten einer universalen Kraft, die auch der planetarischen Schwerkraft zugrunde liege. Er bezeichnete sie als ‚animalische Schwerkraft’. Mit der Zeit wandelten sich allerdings seine Anschauungen und er begann, einen harmonischen Energietransfer von einem Körper zum anderen zu erkennen, wobei das Mentale diesen Transfer antreiben sollte.200

Mesmer wendete seine neuen Theorien in neuen Heilungsverfahren an, die er entwickelte. Sie umfassten Eisenspäne und Magnete. Zunächst ließ er einen Patienten eine Eisenlösung trinken und wendete dann Magnete an ihm an, um ihn zu therapieren.

Später ließ er die Magnete fort und setzte die Patienten in speziell eingerichtete Räume. Dabei saßen die Patienten um Bottiche herum, die Eisenspäne und ‚mesmerisiertes’ Wasser enthielten. Sie waren alle verbunden, indem sich ihre Hände mit Zeigefinger und Daumen berührten, um die vitale Energie fließen zu lassen. Mesmer hatte ein starkes Selbstbewusstsein. Er trat in violetten Roben auf, spielte sanfte Musik und übermittelte mit seinen Händen, seinem ‚kaiserlichen Auge’ und einem mesmerisierten Stab fluidale Energie an seine Patienten. Diese Erfahrung löste bei seinen Patienten häufig eine Heilungskrisis aus.201

Mesmer führte seine Leistungen nicht ausschließlich auf die direkte Magnetkraft zurück, sondern auch auf die unsichtbare fluidale Energie des animalischen Magnetismus. Er glaubte, dass er ein ätherisches Medium entdeckt habe, welches alle Energie – Licht, Wärme, Magnetismus, Elektrizität – von einem Objekt zu anderen übermittle. Er erklärte, dass diese kosmische Essenz selbst im gesunden menschlichen Körper verteilt werde. Mesmer war der Überzeugung, dass Krankheit das Ergebnis eines gestörten Gleichgewichts im animalischen Magnetismus sei, was zu einer anormalen Funktion der einzelnen Organe führe und somit Krankheit erzeuge. Er lehnte Medikamente ab und stellte deutlich fest, dass es eine Ursache für Krankheit gebe: die fehlende Balance des animalischen Magnetismus. Und es gebe auch eine Heilung: die erneute Balancierung dieser fluidalen Energie mithilfe seiner Technik. Er erklärte, dass die Balancierung der fluidalen Energie des animalischen Magnetismus sämtliche Erkrankungen der Nerven unmittelbar heile und indirekt auch alle anderen Krankheiten. Mesmer lehrte, dass ein Praktiker mit geeigneter Konzentration und Willenskraft Heilungsenergien sammeln, speichern und sie anschließend von sich zum Patienten übermitteln könne. Er wies die medizinische Theorie seiner Zeit zurück und proklamierte: „Es gibt nur eine Krankheit und nur eine Heilung.” 202

Mesmer wurde 1777 ob dieses unorthodoxen Heilungsansatzes vom medizinischen und politischen Establishment gezwungen, Wien zu verlassen. Doch das hemmte ihn nicht. Der elegante und flamboyante Mesmer zog weiter nach Paris, wo er schnell eine große Zahl an Aristokraten anzog. Er etablierte eine Gesellschaft der Harmonie mit seinen wohlhabendsten Patienten, die sich ihr zu einem hohen Preis anschlossen. Die Mitglieder mussten einen Loyalitätseid auf Mesmer und die Gesellschaft leisten. Erst dann wurden sie mit Mesmers Methode in ihrer Komplexität vertraut gemacht. Nachdem ihre Einführung abgeschlossen war, durften sie allein praktizieren.203

Obgleich Mesmer eine bedeutende Anhängerschaft und öffentlichen Erfolg hatte, wurde er vom medizinischen Establishment kritisiert und kam niemals zu professioneller Anerkennung. 1784 wurde eine königliche Kommission der französischen medizinischen Gesellschaft eingesetzt, um die Behauptungen seiner Heilmethode zu evaluieren. Sie entschlossen sich dazu, ihr Urteil auf die Beweiskraft jenes unterstellten animalischen Magnetismus zu gründen. Dazu beobachteten sie Behandlungen, die von einem der angesehensten Schüler Mesmers durchgeführt wurden und stellten Messungen mit unterschiedlichsten Geräten an. Da sie keine objektiven Messergebnisse zu der proklamierten Kraft feststellen konnten, lehnten sie Mesmers Ergebnisse ab. Allerdings berücksichtigten sie dabei die behaupteten Heilungen von Patienten nicht.204

Mesmers Reputation sank bald, nachdem das medizinische Establishment ihn abgelehnt hatte. Offensichtlich egozentrisch, launisch und äußerst arrogant, gelang es ihm, jedermann um sich herum zu verletzen. So zog er sich schon bald aus Paris in ein kleines Landhaus zurück, wo er bis zu seinem Tod 1815 in Abgeschiedenheit lebte.

Mesmers Praxis und seine Ideen verschwanden jedoch nicht mit seinem Rückzug und seinem Tod. Sein bekanntester Student Armand Marie Jacques de Chastenet, Marquis de Puységur trug die Fackel des animalischen Magnetismus weiter – freilich in eine neue Richtung. Puységur versetzte die Personen beim ‚Mesmeriseren’ in einem ungewöhnlichen schlafähnlichen Bewusstseinszustand. Er entdeckte, dass die Patienten in diesem Trancezustand oft ‚klarer’ wirkten und dazu fähig seien, Einsichten in ihre medizinischen Probleme und die anderer zu äußern. Ein paar gerieten in einen tieferen Trancezustand ‚außerordentlicher Luzidität’ und vollbrachten dabei Leistungen wie Telepathie, Hellsichtigkeit und Präkognition. Puységur schloss daraus, dass der animalische Magnetismus nicht auf eine fluidale Kraft zurückgehe, die von Körper zu Körper übertragen werde; vielmehr liege ihm eine Aktion des ‚Verstandes’ aufgrund des ‚vitalen Prinzips’ des Körpers zugrunde. Es handele sich dabei also nicht um eine Zurückweisung des fluidalen Konzepts, sondern vielmehr um dessen Reformation. Puységur wendete die öffentliche Aufmerksamkeit von den physikalischen Flüssigkeiten ab; dafür lenkte er das Interesse auf das besondere Verhältnis zwischen Magnetiseur und Magnetisiertem innerhalb eines sonambulischen Trancezustandes. Der Mesmerismus transformierte dadurch und wurde erneut sehr populär.205

Puységurs Arbeit stimulierte das Interesse in Europa und bald wurde der somnambulische Zustand von vielen neugierigen Personen erzeugt und studiert. Wenigstens neun Zeitschriften zum Thema erschienen zwischen 1835 und 1850 in Europa. Mit der Zeit entwickelte sich die Arbeit und vermischte sich mit dem neuen Gebiet der dynamischen Psychiatrie zur Hypnose. Gleichwohl wurden die europäischen Mesmeristen nicht von der Mainstream-Wissenschaft und der Medizin ihrer Zeit akzeptiert. Obgleich Puységur und die Mesmeristen den Schwerpunkt des Mesmerismus auf die Beziehung zwischen Patient und Mesmerist sowie auf die wichtige Rolle von Patienteneigenschaften wie Suggestionsfähigkeit, Wille und Erwartungen verlegten, verzichteten die Mesmeristen niemals vollständig auf die Hypothese einer unsichtbaren Substanz, welche das menschliche Bewusstsein mit einer höheren psychischen Realitätsebene verbinde.206

Der amerikanische Mesmerismus nahm 1836 durch einen Besuch von Charles Poyen seinen Anfang. Poyen war ein französischer Anhänger Puységurs. Er bezeichnete sich selbst als Professor des animalischen Magnetismus und unternahm 1836 eine Vortragsreise durch Neuengland. Poyen war überrascht, dass die Zuhörer kaum etwas über Mesmerismus wussten und das Thema eher geringschätzig behandelten. Diese Einstellung änderte sich rasch, als er damit begann, den magnetischen Bewusstseinszustand zunächst an einem professionellen Somnambulen und dann an Freiwilligen aus dem Publikum zu demonstrieren. Das Publikum war plötzlich wie elektrisiert. Viele Menschen kamen nach vorne und sahen, wie ihre Freunde und Bekannten vor ihren Augen in den magnetisch erzeugten Schlaf fielen und danach wieder normal wurden. Die magnetisch behandelten Freiwilligen erschienen als der physischen Welt entzogen. Sie reagierten nicht auf lautes Händeklatschen, Nadelstiche und nicht einmal auf Gläser voll Ammoniak, die unter ihren Nasen vorbeigeführt wurden. Poyens Art von Vortrags-Unterhaltung traf den Nerv des Publikums seiner Zeit und seine Vortragsreihe trug erfolgreich zur Ausbreitung des populären Mesmerismus bei.207

Poyen verwendete seine Technik auch im medizinischen Kontext. Viele der Freiwilligen auf seiner Vortragsreise durch Neuengland kamen zu ihm in der Hoffnung, eine Heilung spezifischer medizinischer Probleme zu erlangen. Er behandelte sie während ihrer Hypnose, indem er mit seinen Händen ‚Vorbeigänge’ an den betroffenen Teilen vollzog, um einen gesunden Fluss des animalischen Magnetismus zu erreichen und auf diese Weise die mangelnde Balance bei seinen Patienten wiederherzustellen, damit die Krankheit beseitigt würde. Viele dieser Menschen erwachten aus ihrem Trancezustand und behaupteten deutliche Verbesserung ihrer Zustände, von Rheumatismus und Rückenproblemen bis hin zu Nervosität und Leberleiden, zu verspüren.208

Poyen zufolge erfuhren etwa zehn Prozent der Magnetisierten einen tieferen Zustand ‚höchsten Grades’. Dieser Zustand war durch eine stärkere Beziehung zwischen dem Magnetiseur und dem Magnetisierten charakterisiert, der als eine höhere Rezeptivität für den animalischen Magnetismus empfunden wurde. Personen in diesem Zustand behaupteten, sie könnten telepathisch unausgesprochene Gedanken wahrnehmen. Sie erfuhren oft physische Sinnesempfindungen des animalischen Magnetismus, wie ein Stechen, das ihren Körper herauf und herunter liefe, oder sie sahen blendende helle Lichter oder führten Leistungen von ‚außerordentlicher Luzidität’ aus, wie sie Puységur bereits vor Jahren beschrieben hatte.209

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Дата выхода на Литрес:
23 декабря 2023
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9783941523395
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