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Kapitel 4: Der Angriff

Ayuma saß am Tisch und aß etwas von dem Brot, das Nerada selbst gebacken hatte. Die letzten Wochen waren sehr anstrengend für sie gewesen. Nerada trieb sie zu Höchstleistungen an. Sie lernte viele verschiedene Sprüche und Zauber und Nerada schien immer weitere Aufgaben für sie zu finden.

Mal wieder dachte Airo nicht an seine Manieren und erkundigte sich mit vollem Mund, was denn heute zu erledigen sei. Nerada gab ihnen frei, woraufhin Ayuma ungläubig die Stirn runzelte. Einfach getan, was ihnen gerade einfiel, hatten sie schon lange nicht mehr. Sie hatten Freunde und Familie lange nicht gesehen, also entschieden sie, Seron einen Besuch abzustatten. Kurz darauf liefen sie über den Wanderweg in Richtung Stadt.

„Hat sie dich auch am Anfang so hart rangenommen?“, wollte Ayuma wissen.

„Ja, aber es wird mit der Zeit besser“, erklärte Airo. „Irgendwann werdet ihr beginnen, für den Kampf Magie mit Waffen zu verweben.“

„Hast du eigentlich eine Waffe? Ich habe dich noch nie mit einer gesehen.“ Ayuma schaute Airo an.

Dieser zog aus dem nirgendwo blitzschnell einen kurzen Dolch hervor. „Gilt das als Waffe?“

Ayuma nickte und Airo ließ den Dolch lachend zurück in seinen Stiefel gleiten.

„Wusstest du, dass die Sterne eigentlich Götter sind?“, wechselte Airo sprunghaft das Thema. Ayuma schaute ihn ungläubig an. „Doch, die Sterne haben alle Namen und das sind die Namen der Götter!“

„Wie viel gibt es noch, was uns Unwissenden verborgen bleibt?“, neckte Ayuma.

Airo zuckte mit den Schultern. „Das müsstest du Nerada fragen. Sie kann es dir bestimmt sagen.“

Sie lachten. Bald hatten sie das Stadttor erreicht. Ayuma sah sich um und war froh, als sie alles wie gewohnt vorfand. Sie hatte schon Angst gehabt, dass sich während ihrer Abwesenheit etwas verändert haben könnte. Dass der Krieg Seron erreicht haben könnte.

„Wir sind wieder da“, erklärte Airo. „Im guten alten Seron ...“

„Die Könige von Seron sind zurückgekehrt“, rief auf einmal eine bekannte Stimme. Sie gehörte Mornan, der freudig auf sie zustürmte und sie in die Arme schloss. „Ohne euch regiert hier die Langeweile!“

„Wir könnten vielleicht einmal zum alten Schlachttunnel gehen. Der ist doch nicht verboten, oder?“

Am nächsten Tag setzten sie ihren Plan in die Tat um. Sie durchquerten Seron in nördlicher Richtung, dabei begegneten sie nur wenigen Bewohnern. In diesem Teil der Stadt begann die Natur bereits, sich Wege und Gärten zurückzuerobern. Das Unkraut wuchs in den Ritzen des Straßenpflasters und Efeu kletterte an den Hauswänden empor.

Die drei gingen durch die Überreste des Tores und schauten sich im Inneren um. Die Wände waren grau und schienen feucht zu sein. Der Tunnel an sich war riesig. Es war früher ein ganz normaler Durchgang gewesen, doch eines Tages hatten ihn Feinde genutzt, um in die Stadt zu kommen. Die Truppen von Seron hatten sie damals aufgehalten. Danach hatte man die Tore bewachen lassen. Doch als längst niemand mehr angriff, geriet der Tunnel in Vergessenheit, genauso wie das Sperrgebiet.

„War einer von euch schon mal hier?“, fragte Airo.

Ayuma schüttelte den Kopf, doch Mornan sagte: „Ein einziges Mal kam ich vor vielen Jahren mit meiner Schwester her.“ Ayuma sah den Jungen erstaunt an. Mornan nickte zur Bestätigung und deutete auf ein paar Steine. „Setzt euch, ich erzähle euch die Geschichte.“

Ayuma tat wie ihr geheißen und zog ihre Beine enger an ihren Körper. Mornan wollte gerade anfangen zu erzählen, als ein Wackeln die Erde durchfuhr. Sofort sprang sie wieder auf. „Was war das?“

„Raus hier“, rief Airo, bevor ein erneutes Ruckeln durch die Erde zog.

Die drei liefen zum Eingang des Tunnels, ihr Blick wurde sogleich in den Himmel gezogen. Sie erstarrten. Seron wurde angegriffen! Krieger auf Monstern flogen über die Stadt hinweg. Überall waren bewaffnete Männer auf Drachen, auf Vögeln mit glänzenden Helmen und riesigen Schwingen oder mehrarmige oder -beinige Kreaturen mit scharfen Krallen. Feuerstöße, schwarzer Rauch, Kämpfe tobten am Boden und auf mehreren Ebenen der Lüfte. Wann und woher waren sie gekommen? Dann geschahen viele Dinge gleichzeitig. Ein weiterer Erdstoß durchfuhr den Boden. Auf einmal waren überall Steine und Erde. Der Schlachttunnel stürzte ein. Ayuma spürte, wie sie jemanden mit sich zog. Nach ein paar Augenblicken fand sie sich vor dem Tunnel wieder, wo sie sich benommen umschaute. Neben ihr lag Airo, aber wo war Mornan? Sie rief nach ihm. Erst jetzt bemerkte sie, dass der Eingang des Tunnels völlig verschüttet war. Nur ein kleiner Spalt war frei geblieben.

Gehetzt stürzte Ayuma hin. „Mornan?“

„Ayuma! Den Göttern sei Dank“, hörte sie seine Stimme.

„Wie kann ich dich da rausholen?“

„Du kannst mir nicht raushelfen.“

„Aber ...“

„Nein, Ayuma, hör mir zu: Mein Weg zur Stadt heraus ist frei. Schnell, du musst mit Airo fliehen. Sag meiner Schwester, dass ich nach Rifers unterwegs bin. Wir treffen uns in der Hauptstadt Lorga.“

„Mach ich.“ Ayuma war den Tränen nahe.

„Ayuma, wir werden uns wiedersehen“, versprach Mornan.

Sie wandte sich vom Spalt ab und zog Airo auf die Beine.

„Wo ist Mornan?“, fragte dieser.

Ayuma deutete auf den verschütteten Tunneleingang. „Er lebt. Wir müssen los. Ich erkläre dir das später.“

Doch sie kamen nicht weit. Ein riesiger, dunkler Drache versperrte ihnen unvermittelt den Weg. Sie sprangen vor Schreck ein Stück zurück. Das Monster sah gruselig aus, seine Augen glühten vor Zorn.

„Komm weiter“, schrie Airo, packte Ayumas Handgelenk und versuchte, sie wegzuziehen. Aber der riesige, berittene Drache ließ sie nicht durch, wohin sie sich auch wandten. Er brüllte ohrenbetäubend. Noch bevor die Bestie angreifen konnte, wurde sie plötzlich von der Seite attackiert. Eine große, vogelähnliche Kreatur rammte ihre Krallen in die Seite des Drachen.

Ihr Reiter rief ihnen zu: „Verschwindet da! Flieht!“

Die Freunde stürzten weiter. Die Bestie und der Vogel setzten ihren Kampf hoch in den Lüften fort.

„Airo“, schrie Ayuma und stoppte ihn. „Ich muss Dorna finden und du musst mir zuhören: In unserem Haus gibt es einen Geheimgang, der zum Wald führt. Erkläre Izores und Cass, was geschehen ist, und benutzt diesen Gang, ich komme nach!“

Airo drückte ihre Hand. „Dann bis später!“

Sie rannten in verschiedene Richtungen davon.

Nicht lange, da merkte Ayuma, dass sie verfolgt wurde. Schwarze Wölfe sprangen auf ihren Weg, bleckten die Zähne und knurrten bedrohlich. Ayuma zog ihr Schwert. Sie hatte viel trainiert. Ob sie genug Kraft hatte, gegen das Rudel zu bestehen? Der größte der Wölfe sprang vor. Ayuma hob das Schwert. Das Mädchen und der Wolf umkreisten sich drohend. Schon sprang das Raubtier sie an. Sie reagierte blitzschnell, wandte sich um. Aber nicht schnell genug, die Zähne des Untieres packten zu und verletzten sie am Bein. Im selben Moment rammte sie das Schwert in seinen Leib. Ihr Gegner war augenblicklich tot. Die anderen sahen ihren Anführer sterben. Sie legten die Ohren an, knurrten und machten sich aus dem Staub. Ayuma rannte humpelnd weiter.

Endlich erreichte sie das Gasthaus, riss die Tür auf und stürzte nach oben, sie kannte die richtige Kammer. Dorna packte bereits ihre Sachen und fuhr herum, als Ayuma sie zur Eile rief.

„Wir waren im alten Schlachttunnel. Eine Gerölllawine stürzte in den Eingang des Tores. Mornan blieb auf der anderen Seite. Ich soll dir von ihm sagen, dass er auf dem Weg nach Lorga in Rifers ist. Komm mit mir, in unserem Haus gibt es einen Geheimgang, der zum Wald führt. Wir können zusammen fliehen!“

Dorna schulterte ihr Bündel und Ayuma zog sie mit sich. Unbehelligt gelangten sie zu Izores Haus. Die Mädchen stürzten hinein. Das Haus war leer, weder Izores und Cass noch Airo waren hier. Der Geheimgang? Wo war der Geheimgang? Sie schauten sich hektisch um. Da erkannte Ayuma es: Die Fackel an der Wand hatte noch nie gebrannt. Ayuma drehte sie. Es klickte und scharrte, ein Spalt tat sich auf. Eine Tür, dahinter ein Gang.

„Komm“, rief Ayuma und zog Dorna weiter.

Im Gang war es stockdunkel. Ayuma ließ eine Flamme auf ihrer Handfläche erscheinen und sie schoben sich tiefer hinein. Es ging mal nach rechts, mal nach links. Wie lange waren sie bereits im Geheimgang? Da spürte Ayuma einen kühlen Luftzug an der Wange. Es schien wie die Erlösung und trieb die Mädchen noch schneller voran. Endlich Licht, endlich draußen, raus aus dem stickigen Gang.

„Ich hab schon befürchtet, dieser schaurige Tunnel würde nie enden und wir es nicht schaffen“, stöhnte Dorna, als sie sich umschaute. Sie waren fast an der Grenze des Waldes.

„Wir müssen zu Nerada.“

Dorna, die sich erschöpft auf den Rasen gesetzt hatte, blickte fragend auf. „Nerada?“

„Sie ist eine Freundin meines Vaters und außerdem meine Magielehrerin.“

Ayuma drängte weiter. Auf einmal spürte sie, dass etwas Warmes ihren Arm herunterfloss. Als sie hinschaute, sah sie Blut. Sie wischte es weg. Doch spürte sie, dass sie immer schwächer wurde.

Sie erreichten Neradas Haus, inzwischen schleppte Dorna Ayuma eher, als dass sie lief. Dorna war es auch, die anklopfte. Nerada öffnete die Tür, doch in diesem Moment verlor Ayuma das Bewusstsein.

Sie träumte. Sie musste träumen.

Vor ihr stand eine silberhaarige Frau in weißem Gewand.

„Wer bist du?“

„Mein Name ist Singura, junge Ayuma. Ich bin die Göttin der Annuri oder, wie ihr mich nennt, die Göttin des Mondes.“

„Was willst du von mir?“

„Du hast einen gefährlichen Weg vor dir. Aber du musst ihn nicht alleine gehen. Ich werde dir meinen Sohn als Gefährten schicken. Du wirst ihn erkennen.“

„Sag mir wenigstens seinen Namen.“

„Sein Name ist Korsion.“

„Wieso brauche ich Hilfe?“

Singura schaute sie nur an. „Du wirst es bald erfahren.“

Dann verblasste die Gestalt.

*

Kapitel 5: Erwachen

Ayuma fand sich in einem Bett wieder, es musste in Neradas Haus stehen. Wie war sie nur hierhingekommen? Was wollte sie hier? Sie setzte sich benommen auf. Jetzt erst bemerkte sie Nerada, die am Ende ihres Bettes saß. Ihre Augen waren verquollen und rot, als hätte sie seit Tagen nicht geschlafen und geweint.

„Was ist denn nur passiert?“ Ayuma schluckte. Die Worte wollten beinahe nicht aus ihrem trockenen Hals.

„Der Krieg ist eingezogen. Dorna hat dich ohnmächtig hierhergebracht. Du hattest eine Blutvergiftung, die von einer Wunde an deinem Bein hervorging. Ich konnte dich mit Magie heilen.“

„Was ist mit den anderen, wo sind sie? Wer hat uns angegriffen?“

„Izores erholt sich. Er konnte zum Glück mit Cass fliehen. Sie sind durcheinander. Dorna hat nur ein paar kleinere Verletzungen, ihr fehlt sonst nichts.“ Sie stockte. „Es waren Krieger aus Darilon. Seron existiert nicht mehr.“

Sie schwiegen.

„Ist Airo hier angekommen? Wie geht es ihm?“

Nerada schaute sie an, eine Träne rann über ihr Gesicht und sie zitterte. Ayuma sprang auf und rannte durch die Stube. Airo musste in seiner Koje liegen. Dorna saß dort auf der Bettkante, Izores und Cass standen daneben.

Sie starrte Airo an. Er hatte mehrere Schnittwunden und eine dicke Bandage war um seinen Bauch gewickelt. Sein Atem ging ungleichmäßig und stoßweise. Es klang nicht gut. Ayuma erschrak.

Dorna schaute auf, doch es war Nerada, die sprach: „Als er mit deinem Vater fliehen wollte, stürmten Krieger ins Haus. Sie haben mächtige Zauber benutzt. Es hat ihn fast getötet, als er versucht hat, sie abzublocken. Sie haben die Schwerter gezogen und ihm die Wunde am Bauch zugefügt. Als sie erkannten, dass es nichts zu holen gab, sind sie weitergezogen. Es ist ein Wunder, dass er es bis hierher geschafft hat und dass er überhaupt noch atmet.“

Ayuma sank neben Dorna auf das Bett. Angst überkam sie. „Wird er überleben?“

Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus, während alle Augen nur auf Airo gerichtet waren. Da schlug er die Augen auf. „Ayuma“, sagte er mit schwacher Stimme.

„Du lebst.“

Airo drehte ihr den Kopf zu. „Die Götter haben mir erlaubt, noch einmal mit dir zu reden.“ Es strengte ihn sichtlich an. Es dauerte eine kleine Weile, bis er fortfuhr. „Ayuma, ich habe ...“ Er hustete.

Sie nahm seine Hand. „Nein, spar deine Kräfte, du musst durchhalten.“

„Ayuma, ich liebe dich, schon seit ich dich zum ersten Mal gesehen habe. Ich ...“ Er hustete abermals. „Ich will, dass du das weißt.“

Seine Worte verklangen in der Stille. Dann atmete er noch einmal aus und regte sich nicht mehr. Ayuma küsste ihn auf die Wange. So sollte das nicht enden. Leise fing sie an zu weinen. Wie sollte es jetzt weitergehen?

Sie hielten die Totenwache, sie bestatteten Airo und sie trauerten. Später mussten Entscheidungen getroffen werden. Dorna wollte sich nach Lorga durchschlagen, um Mornan zu suchen. Nerada wollte Airos Tante in Bayola die traurige Nachricht von seinem Tod überbringen, sie und ihre Familie waren die einzigen Verwandten, die er noch gehabt hatte. Doch Ayuma widersprach ihr. Wenn sie diese Aufgabe übernahm, konnte sie sich ein gutes Stück des Weges mit Dorna zusammentun. Es machte es leichter, der Gefahr ins Auge zu sehen, Kriegern von Darilon zu begegnen.

Als die Schlacht losgebrochen war, war Nerada unruhig geworden und hatte den Weg zum Waldrand eingeschlagen, wo sie ein grausiges Schlachtfeld vorgefunden hatte: Tote und Sterbende, denen niemand mehr helfen konnte, und Pferde, die sie eingefangen und fortgebracht hatte. Sie waren versorgt worden und standen nun hinten im Stall.

Jetzt kamen sie den Mädchen zugute. Sie suchten sich zwei der Pferde aus. Nerada reichte Ayuma einen Beutel mit Proviant, den diese sich an den Gürtel band, als sie und Dorna in die Sättel stiegen.

„Ihr müsst immer nach Norden reiten, bis ihr auf einen Fluss trefft. Folgt ihm. Ihr gelangt dann bald an euer Ziel“, erklärte Nerada den Weg. Dann hielt sie Ayuma noch einmal auf. „Wenn du die Nachricht überbracht hast, komm zu uns zurück!“

...

Nurayama hatte mit ihrer Mutter, der Königin, lange diskutiert. All die Arbeit und Mühe, die sie in die Ausbildung ihrer Schwester gesteckt hatten, musste anerkannt werden. Auch konnte Nurena ihre Talente nicht ewig in der Schattenburg verstecken, sie musste den nächsten Schritt gehen. So ließ Nurayama nach Nurena schicken und saß ungeduldig auf dem Fenstersims, als diese endlich eintrat.

„Mutter hat beschlossen, dass nun die Zeit gekommen ist. Heute ist ein besonderer Tag, heute sollst du Bekanntschaft schließen mit deinem eigenen ... Drachen!“

Nurena starrte sie an. Hatte sie Drachen gehört? Als besondere Auszeichnung bekamen die besten Krieger des Königreiches einen Drachen. Sie hatte nie gedacht, dass auch sie, genauso wie ihre Schwester, einmal ein solches Geschöpf zur Seite gestellt bekäme, doch sie wollte schon als kleines Mädchen einen Drachen besitzen.

„Wir treffen ihn auf dem Übungsplatz.“ Als Nurayama aufstand, wurde sie von der aufgeregten Nurena am Arm aus dem Zimmer herausgezogen.

Zusammen gelangten sie auf die große Wiese. Es herrschte reges Treiben, ein Kommen und Gehen, Waffenklirren und Schreien.

„Wie kommt Mutter auf einmal zu der Entscheidung, mir einen Drachen zu überlassen?“, fragte Nurena nun, als die erste Freude gewichen war und nicht mehr ihre Gedanken blockierte.

„Ich denke, dass du dafür bereit bist. Du kannst besser kämpfen als jeder andere, sogar besser als ich, und du hast Magie erlernt. Es ist die Belohnung für viele Jahre harter Arbeit.“

Während des Gesprächs legte sich ein Schatten über Nurayama. Nurena überkam ein eigenartiges Gefühl in Kopf und Bauch. Als ein Luftwirbel sie erfasste und ein riesiger Flügel über ihr aufwärtsschlug, schloss sich eine Verbindung zu dem schwarzen Drachen, der vor ihr zur Landung ansetzte. Sie blickten sich in die Augen und erstarrten. Dann gluckste der Drache.

„Ist etwas lustig?“, fragte Nurena.

„Du stehst ehrfürchtig einem riesigen Drachen gegenüber und das Erste, was du sagst, ist: hallo?“

„Ich habe nichts gesagt!“

„Du hast es gedacht!“ Dann neigte sich der Kopf des Drachen. „Man nennt mich Sura.“

„Nurena, nimmst du Sura als deine Drachengefährtin an?“, fragte Nurayama. Nurena musterte das stolze Tier und die Freude stellte sich wieder ein. Sie stimmte zu. „Sura, nimmst du Nurena als deine Reiterin an?“

„Sie ist ein bisschen schmal, aber ja!“, neckte Sura zustimmend.

Nurayama lächelte. „Gut! So haben wir der Tradition Genüge getan. Nurena, du musst jetzt zu deinem ersten Drachenflug aufbrechen.“

„WAS?“

„Du hast mich schon verstanden. Los, mach schon!“, wies Nurayama an. Sie schob ihre Schwester in Richtung Drachen. Wo war ihr sonst immer vorhandener Übermut hin? Wollte sie jetzt kneifen? Auch musste sie Nurena eher auf den Rücken des Tieres hieven, als dass diese freiwillig geklettert wäre. „Übertreib es nicht“, flüsterte sie noch in Suras Ohr.

„Natürlich nicht“, gab Sura zurück und schoss belustigt und pfeilschnell in die Lüfte.

Zuerst überkam Nurena die Angst. Dies war eine unbekannte Erfahrung für sie, sie musste es sich selbst eingestehen. Doch als sie den Boden unter den Füßen verlor und begann, die gewaltige Kraft unter sich zu spüren, die sie trug, da erkannte sie, dass das Fliegen für sie erfunden worden sein musste. Selbst das Reiten war nichts gegen dieses Erlebnis. Fliegen war grandios.

„Das finde ich auch!“

„Wer ist da“, rief Nurena und drehte sich in alle Richtungen.

„Brauchst ja nicht gleich so rumzuschreien“, lachte die Stimme wieder, die Nurena jetzt als Suras erkannte. Aber wieso war sie in ihrem Kopf?

„Wir können uns in unseren Gedanken unterhalten. Denke deine Antwort einfach“, erklärte Sura.

„Du meinst so? Das ist echt toll.“

„Ich weiß. Da ich dein Dämon bin, können wir auch auf diese Weise miteinander sprechen. Mach dich jetzt für die Landung bereit.“

Sura drehte ein paar Kreise, die sie immer tiefer sinken ließen, bis sie wieder auf dem Übungsplatz landeten. Nurena sprang von Suras Rücken. Ihr Gesicht glühte vor Aufregung.

„Fliegen ist vielleicht doch deine Sache!“ Die ebenfalls begeisterte Nurayama lief auf Nurena zu. Die Schwestern fielen sich lachend in die Arme.

Sura stieß sich vom Boden ab, um zum Stall zu fliegen und sich dort zu stärken. Nurena bedauerte, dass ihr Drache sich entfernte. Sie wandte sich wieder Nurayama zu. „Wieso hast du mich nicht früher schon einmal fliegen lassen?“

„Fliegen ist eben nicht einfach fliegen. Du musst lernen, richtig zu sitzen, deinen Drachen zu steuern, auf Suras Rücken zu kämpfen und noch anderes. Ich werde dir gerne alles beibringen.“

„Du?“

„Ja, ich. Wir beginnen morgen um dieselbe Zeit hier auf dem Übungsplatz.“

Nurena konnte es kaum glauben. Der Tag hatte eine unerwartete Wendung genommen. Ihr Dämon war ein Drache! Sie würde eine Drachenreiterin werden und sie würde härter trainieren als je irgendjemand anderes.

*

Kapitel 6: Bayola

Sie kniete verborgen hinter dem hohen Schilfgras, das am Ufer des Flusses wuchs. Leise zog Dorna einen Pfeil aus dem Köcher, legte ihn vorsichtig auf ihren Bogen, zielte kurz und schoss. Eine Ente fiel getroffen zu Boden. Sie stand auf und fand die Beute am Ufer liegend, zog den Pfeil heraus, säuberte ihn und steckte ihn zurück in den Köcher.

Als der Tag zu Ende ging, hatten die Mädchen ihren Pferden eine Ruhepause gegönnt, denn die Tiere mussten grasen und trinken.

Als sie abgestiegen waren, war ein Reh wie aus dem Nichts vor ihnen davongesprungen. Das Nichts war eine Höhle gewesen. Nun hatte Ayuma in der Zwischenzeit ein Feuer entfacht und ihnen ein Lager aus Laub und Decken hergerichtet.

„Was hast du geschossen?“, fragte Ayuma, als Dorna im Lager eintraf.

Diese hob den Vogel stolz in die Höhe. „Na, unser Abendessen!“

Ein paar Minuten später steckte die Ente an einem Spieß und das Fleisch briet über dem Feuer. Sie lehnten sich zurück und berieten sich.

„Wie weit ist es noch nach Bayola?“, fragte Ayuma.

„Ich weiß es nicht. Wir sind den ganzen Tag gereist und hier am Fluss angekommen. Ich würde sagen, morgen am frühen Abend müssten wir das Dorf erreichen“, überlegte Dorna laut.

„Begleitest du mich zu Airos Tante?“

„In Ordnung. Ich verstehe, dass es keine einfache Aufgabe ist, eine solch traurige Nachricht zu überbringen. Doch danach muss ich nach Lorga reisen. Ich gehe nicht mit dir zurück zu Nerada“, fügte sie hinzu.

„Wenn wir uns in Bayola trennen, werde ich dich dann jemals wiedersehen?“ Ayuma war Dorna ans Herz gewachsen.

Diese zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht.“

Beide schwiegen.

„Ich habe mich einmal gefragt, ob du eigentlich einen Dämon hast?“

Ein Lächeln erschien auf Dornas Gesicht. „Ja, habe ich. Einen lilafarbenen Drachen, sie heißt Orna.“

Sie redeten noch eine Weile weiter, bis das Fleisch fertig gegart war und sie es essen konnten. Es schmeckte recht gut, zwar war es kein Festmahl, aber wenigstens hatten sie etwas im Bauch. Später krochen sie in die schützende Höhle und versuchten einzuschlafen.

Doch da fiel Ayuma ihr Traum wieder ein, den sie gehabt hatte, als sie bewusstlos gewesen war. Sie setzte sich auf. „Dorna, bist du wach?“

„Jetzt schon“, knurrte ihre gedämpfte Stimme auf der anderen Seite der Höhle und Dornas Gesicht schaute unter einer Decke hervor.

„Kann ich dich etwas fragen?“

„Wenn wir davon absehen, dass es bestimmt drei Uhr morgens ist und du mich gerade von einem wunderschönen Traum abgehalten hast ... schieß los.“

Ayuma überlegte, wie sie anfangen sollte. „Wie viel weißt du über Götter?“

„Ich bin kein wirklicher Experte, was Götter angeht, aber ich kann dir einiges erzählen. Was willst du denn wissen?“ Dorna schaute Ayuma erwartungsvoll an.

„Als wir aus Seron fliehen mussten, hatte ich diese Verletzung durch den Wolfsbiss am Bein und bin deswegen in Ohnmacht gefallen. Ich hatte einen merkwürdigen Traum. Ich träumte von einer Göttin, ihr Name war Singura.“

„Singura. Von ihr habe ich lange nichts gehört. Sie ist die Göttin der Annuri und die Göttin des Mondes. Du erkennst das Volk der Annuri daran, dass sie schwarze oder weiße Haare haben. Allerdings leben die meisten ihrer Anhänger in Darilon.“

„Sind diese Annuri Menschen?“

Dorna schüttelte den Kopf. „Nein, sie sind Elfen, Dunkelelfen, um genau zu sein.“

„Aber was ist das Besondere an ihnen?“

„Ich sagte doch, ich bin keine Expertin. Mehr weiß ich nicht über Singura oder die Annuri.“ Ayuma legte sich wieder auf ihre Decke. „Ach, Ayuma ...“ Dorna war doch noch nicht fertig.

Diese drehte sich noch mal auf die Seite. „Was?“

„Weck mich nie wieder um drei Uhr morgens.“

„Nie mehr.“ Ayuma kicherte.

„Versprich es.“

„Versprochen!“

Sie machten es sich wieder einigermaßen bequem in ihren Decken und schliefen ein.

Am frühen Morgen aßen sie etwas von dem Brot, das Nerada ihnen eingepackt hatte. Die Pferde mussten versorgt und gesattelt und das Lager abgebaut werden. Dann ritten sie schweigend nebeneinander her, bis sie Bayola schon am Nachmittag erreichten.

Das kleine Dorf unterschied sich sehr von Seron. Hier gab es nur bescheidene, strohgedeckte Häuser, in denen hauptsächlich Bauern zu leben schienen. Offensichtlich gab es nur wenige Handwerker.

„Da wären wir.“

Dorna nickte bekräftigend. „Ich war noch nie hier. Wo wohnt denn Airos Tante?“

Ayuma zuckte hilflos mit den Schultern. „Wir müssen jemanden fragen.“ Sie schaute sich um und entdeckte einen kleinen Jungen, der ein paar Hühner hütete, und ging auf ihn zu. „Kannst du uns sagen, wo die Familie Seram wohnt?“

Der Junge bedeutete ihnen zu folgen und ging voraus. Er führte sie durch mehrere kleine Gassen Bayolas, bog unvermittelt ab, bis sie schließlich zu einem kleinen Hof am Rande des Dorfes gelangten.

„Da ist es“, zeigte ihnen das Kind.

„Danke“, rief Ayuma ihm noch nach, als er sich auf den Weg zurück zu seinen Hühnern machte.

Ayuma und Dorna banden die Pferde an einem Holzpfahl fest. Dann gingen sie zum Haupteingang und klopften an die Tür. Es dauerte nicht lange, bis eine schlanke Frau mit freundlich aussehenden Augen öffnete. „Ja?“

„Hallo, Frau Seram. Mein Name ist Ayuma Shino. Das ist Dorna Daiko. Es geht um Ihren Neffen Airo“, stellte Ayuma sich und Dorna vor.

„Was ist mit Airo, hat er etwas angestellt?“, fragte die Frau und runzelte die Stirn.

„Dürfen wir erst hereinkommen? Ich möchte Ihnen diese Nachricht ungerne hier auf der Türschwelle überbringen.“

Die Frau öffnete die Tür weiter, damit die Besucher eintreten konnten. Sie gelangten in einen großen Raum, der offensichtlich als Küche, Wohn- und Esszimmer gleichzeitig diente. An einem Tisch mitten im Raum saßen zwei Männer und ein kleines Mädchen. Einer von ihnen musste der Sohn der Familie sein, so erkannte Ayuma beim zweiten Hinsehen. Er war beinah so muskulös wie der andere Mann, doch sein Gesicht war deutlich jünger. Er sah nett aus, doch als er sie schelmisch angrinste, schaute sie verlegen zur Seite.

„Was ist?“ Der Ältere stand auf, als er die Ankömmlinge sah.

„Es geht um Airo“, fand Ayuma schnell zum Grund ihres Besuchs zurück.

„Setzt euch“, sagte der Mann, wies auf eine Bank.

Ayuma erzählte ihnen, was vorgefallen war. Von dem Moment an, als sie zum alten Schlachttunnel gegangen waren, als dann die Stadt angegriffen wurde, bis zu den Umständen von Airos Tod.

Frau Seram schluchzte leise und Tränen rannen über ihr Gesicht, der Mann starrte zu Boden.

„Ist er als Held gestorben?“

„Er hat zwei Menschen gerettet, bevor er starb. Sie sollten stolz auf ihn sein.“

Im Raum herrschte Schweigen.

Dann fasste sich Frau Seram und schluchzte: „Wisst ihr, er war der Sohn meiner Schwester. Ich habe ihn schon seit ein paar Jahren nicht mehr gesehen. Danke, dass ihr euch die Mühe gemacht habt, herzukommen und uns die Nachricht zu überbringen.“

„Es war selbstverständlich.“

„Sicherlich seid ihr müde von der Reise. Ihr könnt für die Nacht hierbleiben“, bot Herr Seram an.

„Das ist sehr nett von Ihnen“, sagte Ayuma.

Frau Seram stand auf und wischte Tränen von ihrer Wange. „Das ist meine Tochter Zoey.“ Diese hob ängstlich die Hand zum Gruß in die Höhe. „Und das ist mein Adoptivsohn Korsion.“

Der junge Mann schaute sie immer noch an und nickte ihnen jetzt zu. Ayuma war überrascht. Wie war sein Name? Korsion? War er es, von dem Singura geredet hatte?

Er wandte sich wieder seinem Essen zu, wobei sie einen Blick in seine hellblauen Augen erhaschen konnte. Seine kurzen schwarzen Haare wogten bei dieser Bewegung.

„Kommt mit, ich zeige euch, wo ihr eure Sachen ablegen könnt“, lenkte Frau Seram ihre Aufmerksamkeit wieder auf sich. Ayuma und Dorna folgten ihr nach draußen in einen Heuschuppen.

„Legt euch einfach irgendwohin. Braucht ihr noch Decken? Ich hoffe, es ist nicht zu unbequem“, sagte die Frau.

„Wir haben die letzten Tage draußen verbracht, also ist das mehr als ausreichend“, sagte Ayuma freundlich.

„Das freut mich“, erklärte Frau Seram, drehte sich um, verließ den Raum und schloss die Tür hinter sich.

Dorna, die immer schon gerne in Schuppen übernachtet hatte, war bereits eine steile Leiter hinaufgeklettert und spielte wie ein kleines Kind im Heu. Ayuma folgte ihr und setzte sich auf einen Ballen, wobei sie ihrer Freundin erzählte, dass sie mit Riku und Gorek, die ja Bauernkinder waren, oft in deren Scheune im Heu gespielt hatte.

„Warum habt ihr mich nicht mitgenommen?“, fragte Dorna.

„Wir hatten dich gefragt, du wolltest nicht“, antwortete Ayuma.

Eine Weile sah sie Dorna zu, wie diese im Heu herumkletterte. Es schien wirklich Spaß zu machen.

„Ob Riku und Gorek noch leben?“

„Sie wohnen außerhalb von Seron, es kann schon sein“, überlegte Dorna.

„Wollen wir jetzt nicht unser Lager aufbauen?“

Dorna kletterte von dem Heuhaufen herunter. „Wenn es denn sein muss.“

Die nächste halbe Stunde verbrachten sie damit, Heu für ihre Betten aufzuschichten oder sich gegenseitig damit zu bewerfen. Endlich waren sie fertig und erschöpft. Nun war es Zeit, sich schlafen zu legen.

In der Nacht wurde Ayuma geweckt, jemand rüttelte an ihrer Schulter. Als sie die Augen öffnete, konnte sie nur Umrisse erkennen. Sie setzte sich ruckartig auf. „Wer ist da?“

„Ich bin es. Korsion. Komm mit!“ Er führte Ayuma leise nach draußen. „Ich glaube, du weißt, wer ich bin.“

Ayuma betrachtete ihn. „Du bist Singuras Sohn.“

„Ja. Meine Mutter hat mich angewiesen, dir zu helfen.“

„Aber wobei?“ Sie schaute ihn fragend an.

Er zuckte nur mit den Schultern und ging nicht weiter auf die Frage ein. „Ich bin jederzeit bereit aufzubrechen.“

„Dann also morgen“, entschied Ayuma.

Korsion nickte zustimmend.

„Danke für das Lager im Stroh“, verabschiedeten sich die Mädchen früh am nächsten Tag.

Ihre Beutel waren gepackt und Frau Seram hatte für neuen Proviant gesorgt. „Ihr habt schließlich den langen Weg auf euch genommen“, meinte sie.

Auch Korsion war startbereit. Es hatte einiges an Überredungskünsten gebraucht, bis seine Adoptivmutter zugestimmt hatte, ihn gehen zu lassen. Sie umarmte ihren Adoptivsohn. „Ich würde mich freuen, wenn wir uns eines Tages wiedersehen.“

„Irgendwann bestimmt“, versicherten die Reisenden.

„Dann auf Wiedersehen.“

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9783960743118
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