Читать книгу: «Seelenfeuer», страница 3

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Luzia war froh, sich für das leichte Kleid aus moosgrünem Flachs entschieden zu haben. Es bildete einen lebhaften Kontrast zu ihrem feurigen Haar. Noch froher war sie allerdings über den glimpflichen Ausgang des Disputs mit ihrem Onkel. Luzia wusste, dass er sich im Grunde nur Sorgen um ihre Zukunft machte, aber trotzdem … Sie atmete seufzend aus.

»Luzia, na endlich, ich dachte schon, die Schäferin hätte dich im letzten Augenblick doch noch gerufen.« Das war die Stimme von Magdalena, die vor dem Haus auf sie wartete.

Luzia schüttelte den Kopf.

»Als ich heute Morgen bei ihr war, sah es nicht danach aus, als habe es das Kleine sonderlich eilig.«

Arm in Arm machten sie sich auf den Weg Richtung Seeufer. Die Freundinnen erreichten schon bald den moosbewachsenen Weg, der sie durch den kleinen Riedwald bis ans Ufer des Bodensees führte. Erdig, feucht, fast ein wenig saftig roch das Moos in der warmen Sommernacht. Sie folgten der in großen Schwüngen verlaufenden Seefelder-Ache. Den murmelnden Bach säumten viele knorrige Weiden. In der Dämmerung wirkten sie wie alte, weise, ehrwürdige Weiber, wie silberweiße, lichtgrüne Nebelfrauen. Luzia liebte die riesigen Bäume, deren weit hinabhängenden Äste teilweise den kleinen Fluss berührten, als würden sie ihn sanft streicheln. Sonst war es zwischen den alten Bäumen einsam und still, aber heute trug der milde Abendwind neben dem Duft von Seegras auch die Stimmen der jungen Leute herüber. In einem Halbrund öffneten sich die Bäume zum Ufer des Bodensees. Zusammen mit der gewaltigen Landzunge, die weit in den See hinausragte, entstand ein großer, fast runder Platz. Die untere Grenze bildete das Wasser.

Hier am Ufer des Sees war Perchta, die uralte Erdenmutter, noch immer allgegenwärtig. Aus jedem Stein, jedem Tropfen Wasser, ja selbst aus der prickelnden Abendluft strahlte ihre Anwesenheit und verzauberte die Menschen.

Als sie den Platz erreichten, sahen sie, dass die Burschen des Dorfes bereits das Feuerholz aufgeschichtet hatten. Sie standen um den riesigen Holzstoß herum, und mit ihnen die jungen Frauen des Dorfes, die wie Luzia und Magdalena einen Teil ihrer Johannisbuschen zum Kranz gewunden im Haar trugen. Die duftenden, bunten Sommerblumen schmückten die Frauen wie eine Sommerbraut oder eine Korngöttin. Fast alle trugen ihr Haar offen und hatten sich in ihre schönsten Gewänder gekleidet.

»Ich kann Hans gar nicht entdecken. Er wird doch heute Abend kommen?«, fragte Luzia.

Magdalenas Blick war schwer zu deuten.

»Ich weiß doch, dass er dir gefällt«, ermutigte Luzia die Freundin.

»Ich hätte doch lieber das rote Kleid wählen sollen. Oder meinst du, ich gefalle ihm auch in diesem blauen, alten Lumpen?«, fragte Magdalena zögernd. Sie wirkte plötzlich unsicher, obwohl es dafür überhaupt keinen Grund gab. Dennoch wusste Luzia, dass Magdalena sich ihrer Zähne schämte. Erst kürzlich musste sie der Bader wieder um einen Eckzahn erleichtern. Seither lachte Magdalena nicht mehr so gerne. Luzia fand das sehr schade.

»Mach dir nicht so viele Gedanken! Natürlich wird dich Hans schön finden! Sieh doch nur dein wunderschönes Haar!«

Magdalenas Arme legten sich um Luzias Mitte, und sie fand sich in einer stürmischen Umarmung wieder. Sie spürte Magdalenas Glück und die Ungeduld, mit der sie sich nach Hans umsah. Luzia konnte die Aufregung ihrer Freundin nur halb nachvollziehen. Sie war anders. Sie legte keinen Wert darauf, den jungen Männern aus dem Dorf den Kopf zu verdrehen.

Nach und nach trafen immer mehr junge Männer und Frauen beim großen Festplatz auf der Landzunge ein. Traditionell bestand das Holz für die Sonnwendfeier aus neunerlei unterschiedlichen Sorten: Eiche, Birke, Erle, Esche, Holunder, Ahorn, Weißdorn, Schwarzdorn und Weide wurden von einem jungen Paar entzündet. In diesem Jahr war die Wahl auf Josef, den jungen Schuster, und seine zukünftige Frau, Elisa, gefallen.

Bald brannte ein großes Sonnwendfeuer. Zweige knisterten und Funken stoben in die samtblaue Nacht. Der Mohrenwirt war mit seinem Karren von der Langen Gasse, wo sein Wirtshaus stand, bis ans Ufer des Sees gekommen. Unter den Bäumen hatte er seinen Stand aufgebaut und schenkte heißen Met aus. Luzia schaute ins Feuer. Glühend schossen die hellen Zungen weit in den Nachthimmel. Heute Nacht waren die Tore zur Anderswelt weit geöffnet. Dicht über der Wasseroberfläche schwebten silberne Schleier. Eine leichte Bö trug das leise Lachen der Wassergeister bis auf die Landzunge.

An eine Weide gelehnt verfolgte Matthias, wie Luzia ein wenig abseits des Feuers barfuß und mit gerafften Röcken im Wasser stand. Er schaute ihr schon eine ganze Weile zu, wie sie tief in Gedanken versunken auf den See hinaus blickte. Sie verzauberte ihn, so wie sie es immer tat. Es fiel ihm schwer, sich von ihrem Anblick zu lösen. Das silberne Licht des Mondes tanzte wie eine geheimnisvolle Brücke aus Feenhaar über dem nachtschwarzen See. Mondschein und Feuer hüllten Luzia in einen Mantel aus Licht, das sich im Wasser zu ihren Füßen spiegelte. Wie gerne hätte Matthias mit dem Licht getauscht. Aber Luzia ließ ihn nie richtig an sich heran.

Einen Augenblick hielt Luzia inne, um dem tiefen Herzschlag des Gewässers zuzuhören. Das grüne Haar des Sees bewegte sich im rhythmischen Puls der unsichtbaren Strömung. Neugierig liebkoste das kühle Nass ihre nackten Füße. Das leise Murmeln kam von der anderen Seite des Sees. Dort gab es einen unheimlichen Platz. Teufelstisch nannten die Leute die geheimnisvolle Felsnadel, die aus dem Wasser ragte. Über den Teufelstisch erzählte man sich furchterregende Dinge. Mitunter sollten dort riesige Welse leben. Halbe Seeungeheuer, die jedes Fischerboot mit sich in die Tiefe zogen. Boot und Fischer blieben auf ewig verschwunden.

Sie entdeckte Matthias, der langsam Richtung Feuer ging. Sie winkte ihm zu, und er kam zu ihr.

»Luzia, wie schön, dass du gekommen bist. Ich weiß nicht, mit wem ich sonst getanzt hätte«, begrüßte er sie.

»Ach nein, weil es hier außer mir keine weitere Frau gibt, oder wie?« neckte sie und bereute es gleich, weil Matthias’ Miene sich verdüsterte.

»Darf ich dich zu einem Becher Met einladen?«, fragte er zögernd.

Luzia deutete eine Verbeugung an. »Mit Vergnügen!«, erwiderte sie. Sie wollte heute ausgelassen sein. Lachen und Tanzen, bis ihr schwindelte. Und ein paar Becher Met waren auch nicht zu verachten.

»Dann lass uns zum Mohrenwirt hinüber gehen und sehen, was er dabei hat. Vielleicht verkauft er wieder die fettigen Küchlein vom letzten Jahr.« Luzia nickte und ein Grinsen stahl sich auf ihr Gesicht.

»Die, von denen du schon zur Wintersonnwende zu viele gegessen hast?«

Matthias stutzte. »Das weißt du noch?«

Sie nickte. »Ich werde nie vergessen, wie du jammernd auf deinem Bett gelegen hast und mich davon überzeugen wolltest, dein letztes Stündlein habe geschlagen – dabei hattest du dich einfach nur überfressen! Ich hoffe, du hast daraus deine Lehren gezogen. Jedenfalls holst du mich nicht wieder zu nachtschlafender Zeit aus dem Bett, hörst du?«

Matthias musste ebenfalls lachen. »War es wirklich so schlimm?«

»Schlimmer!«, bestätigte Luzia und rannte Richtung Mohrenwirt davon.

Sonnwendküchlein gab es tatsächlich, aber beide aßen nur sehr wenig davon. Dafür sprachen sie dem Met etwas ausgiebiger zu. Der heiße Honigwein rann ihnen die Kehlen hinunter und erzeugte einen leichten Schwindel.

»Lass uns tanzen!«, schlug Matthias übermütig vor. Gemeinsam schlossen sie sich dem tanzenden Reigen an. Männer und Frauen hielten sich an den Händen und umtanzten das Feuer. Auch Magdalena und Hans hatten sich bereits unter die Tanzenden gemischt. Luzia freute sich, als sie die beiden ausgelassen lachen sah.

Der Klang der Fiedel trieb sie zu immer schnelleren Drehungen an. Die jungen Leute lachten und tanzten so ausgelassen, dass manch einem schwindlig wurde. Doch müde durfte man ein andermal werden. Heute war die Nacht zu schade. Lau und süß flüsterte sie so den Menschen Unerhörtes ins Ohr. Als das Feuer kleiner wurde, begannen die jungen Leute durch die reinigenden Flammen zu springen. Die Flammen des Sonnwendfeuers galten als heilig. Sie schützten die, die durch sie hindurchsprangen, im neuen Jahr vor Krankheit und Leid. Im warmen Feuerschein glitzerten Luzias tiefblaue Augen dunkel und unergründlich. Lächelnd nahm sie ein paar Finger voll Teufelsklau aus ihrer Tasche. Im Alltag puderte sie damit rote Kinderpopos. Ins Feuer geworfen, knallte der Sporenstaub des Keulenbärlapps und glühte hell auf.

Matthias lachte. »Seit wann kannst du denn zaubern?«

»Das würdest du wohl gerne wissen!« Luzia beugte sich ganz nah an Matthias Ohr. »Schon immer. Hast du das denn nicht gewusst?«, flüsterte sie geheimnisvoll, während ihre weichen Lippen die erhitzte Haut seines Nackens streiften.

Matthias stand in Flammen. Eine prickelnde Gänsehaut umfing ihn von den Zehen bis zu den Haarspitzen. Luzias geheimnisvolles Lachen klang in seinen Ohren warm, süß und verlockend. Nur eine Handbreite trennte ihn jetzt noch von ihrem Mund. Doch bevor er sie küssen konnte, entzog sie sich ihm und tanzte allein um das kleiner werdende Feuer.

Matthias lief ihr nach und sprang neben Luzia durch die Flammen. Er beobachtete sie von der Seite. Ihr Haar schien in Flammen zu stehen. Der helle Feuerschein brachte die langen, roten Flechten zum Leuchten. Manchmal glaubte er an ihr etwas Geheimnisvolles zu entdecken, als sei sie eine weise Frau, die das Wissen längst vergangener Zeiten in sich trug. Dann schienen ihre Augen unendlich tief wie zwei Seen. Er meinte dann zu sehen, wie sich zwei schwarze Rädchen in atemberaubender Geschwindigkeit um die Pupille drehten und jeden hineinzogen, der ihr zu nahe kam. In solchen Momenten kamen ihm die Augen der Hebamme geheimnisvoll und wissend vor. Aber bevor er sich vergewissern konnte, verschloss sich ihr Blick wieder und er meinte, sich getäuscht zu haben.

»Fang mich, wenn du kannst!«, rief sie übermütig und rannte vor ihm davon.

Matthias setzte ihr nach und packte sie am Arm. »Hab dich! Wenn du denkst, du kannst mir entkommen, liegst du falsch!« Niemals würde er sie entkommen lassen. Er wollte sein Leben mit ihr verbringen.

Gemeinsam rannten sie wieder zum Karren des Mohrenwirts und ließen sich dort erschöpft unter einer Weide nieder.

Matthias war glücklich. So war es immer, wenn er mit Luzia zusammen war. Leicht und selbstverständlich wie ein Herzschlag. Er drehte sich zu ihr herum. Der warme Feuerschein zauberte einen goldenen Schimmer auf ihre Haut, die vom vielen Tanzen glühte. Dankbar sog Matthias den warmen Duft nach Kräutern und Honig ein, der ihrer erhitzten Haut entströmte. Genauso roch Luzia. So hatte sie schon vom allerersten Tag an gerochen, an dem er sie gesehen hatte.

Ermutigt durch das Lächeln, das sie ihm schenkte, erhob er sich, klemmte die zerzausten Locken hinter die Ohren und trat von einem Bein auf das andere.

Sicher wäre jetzt der richtige Moment, Luzia zu fragen, ob sie seine Frau werden wollte. Er holte tief Luft, um die Worte zu sprechen, doch als Luzia ihn fragend ansah, verließ ihn der Mut wieder.

3

Fast zwei Monate später, am 6. des Erntemonats, brachte ein vorbeiziehender Handelsreisender einen Brief für Luzia. Er kam von ihrem Onkel Basilius Gassner in Ravensburg.

Jakob und Elisabeth baten den grauhaarigen Mann und seine beiden Söhne ins Haus und boten den verschwitzten Männern einen Krug Dünnbier und Brot an.

»Wie lange seid Ihr denn schon unterwegs?«, fragte Jakob und setzte sich zu den Leuten an den Tisch.

»Erst seit zwei Tagen. Wir hatten in Altdorf zu tun und wollen nun weiter in das Land der Eidgenossen.«

Jakob nickte. »Ich dachte nur wegen des Briefes. Hoffentlich enthält das Schreiben keine schlechten Nachrichten.«

Der ältere Mann hob bedauernd die Schultern und setzte den Becher ab, den er durstig geleert hatte. »Diese Hoffnung kann ich Euch leider nicht lassen, der Apothekarius, der mir den Brief gegeben hat, klang sehr besorgt. Ich musste ihm versichern, Seefelden in spätestens zwei Tagen zu erreichen. Der Inhalt des Schreibens scheint von großer Wichtigkeit zu sein.«

Elisabeth drehte das gesiegelte Schreiben nervös zwischen ihren Fingern hin und her. Sie hatte die große Schrift ihres Bruders Basilius gleich erkannt. Wenn er schrieb, dann musste es um etwas Wichtiges gehen.

»Wo ist Luzia denn?«, wollte Jakob wissen, ehe er sich wieder erhob und zum schmalen Fenster ging, von dem aus er die Straße überblicken konnte. Auch ihm stand die Sorge ins Gesicht geschrieben.

»Bei den Metzgers«, antwortete Elisabeth und füllte den Bierkrug der Besucher ein weiteres Mal. »Die Sofia bekommt ihr Kind. Aber sie ist schon seit den frühen Morgenstunden fort. Allzu lange kann es nicht mehr dauern.« An den Reisenden gewandt, fuhr sie fort: »Hat Euch Basilius denn gar nichts gesagt?«, fragte sie.

Der Fremde schüttelte den Kopf. »Nein. Nur, dass es sehr dringend sei.«

»Ich weiß, dass dieses Pergament schlechte Nachrichten enthält! Ich kann es fühlen«, flüsterte Elisabeth mehr zu sich. Dabei flackerten ihre wachen, blauen Augen voller Angst. Es half auch nicht, dass Jakob ihre Hand nahm.

Der grauhaarige Handelsreisende erhob sich. »Ich glaube, wir sollten langsam gehen«, sagte er und räusperte sich in Richtung seiner Söhne. Die warfen sich Blicke zu, stopften sich eilig die letzten Bissen in den Mund und standen ebenfalls auf. Sie fühlten sich in dem kleinen Haus, welches ihnen vorher so gemütlich erschienen war, nicht mehr recht wohl. Da schien sich etwas zusammenzubrauen und sie wollten auf keinen Fall dabei sein, wenn dieser unheimliche Brief geöffnet wurde. »Wir danken Euch für Eure Gastfreundschaft. Gott sei mit Euch.« Damit waren sie schon aus der Tür.

Als Luzia wenig später von Sofia kam, währte die Freude über die gesunde Tochter der Mezgers nicht lange. Auch sie ahnte gleich, dass der Brief nichts Gutes enthielt. Mit zitternden Fingern brach sie das kleine, rote Siegel der Gassners. Hastig überflog sie die Zeilen.

Liebste Luzia, liebe Elisabeth, werter Jakob, es tut mir sehr leid, dass ihr diese Zeilen lesen müsst. Ich hätte sie euch gerne erspart! Aber es hilft alles nichts, also werde ich nicht lange um den heißen Brei herumreden. Luzia, deine Mutter ist gestorben.

Luzia merkte, wie die Buchstaben vor ihren Augen verschwammen. Wieder und wieder las sie dieselben Zeilen: Deine Mutter ist gestorben.

Luzia spürte Tränen in ihren Augen brennen. Mühsam versuchte sie den Kloß, der in ihrer Kehle saß, hinunterzuschlucken. Doch es gelang ihr nicht. Ein Schluchzen stieg in ihrer Kehle auf, sie ließ das Schreiben sinken, weil die Buchstaben vor ihren Augen verschwammen. Der Raum um sie herum schien sich zu drehen. Mit einem leisen Schrei war Elisabeth bei ihr und fing sie auf, als sie zu fallen drohte. Neben den besorgten Fragen ihrer Tante vernahm sie aus den Tiefen ihres Kopfes eine Stimme aus längst vergangenen Tagen. Luzia erkannte den Tonfall, das leise Zischen der einzelnen Laute sofort. Auf ihrem Rücken tobte ein Feuer. Brennender Schmerz erfasste ihre Schulterblätter und breitete sich immer weiter aus. Sie hatte das Gefühl von rinnendem Blut, welches ihr über Rücken und Gesäß bis weit zu den Beinen hinab floss. Roter, wilder Zorn schlug über ihr zusammen und drohte sie zu verbrennen. Spitze Gegenstände bohrten sich in ihre Knie. Harte Riemen schnitten schmerzhaft in ihre Handflächen. Dann wurde alles dunkel und still. Die Bewusstlosigkeit zog sie in die Tiefe.

Als Luzia die Augen aufschlug, wusste sie zunächst nicht, was passiert war. Sie fühlte sich matt und krank. Alle Kraft hatte ihren Körper verlassen.

Elisabeth hatte den Kopf ihrer Nichte in ihrem Schoß gebettet und streichelte ihre Wange. Jakob stand hinter seiner Frau und machte ein sorgenvolles Gesicht. »Komm, versuch dich aufzusetzen«, sagte Elisabeth sanft zu ihr. »Und dann trink einen Schluck.« Sie hielt ihr einen Becher heißen Weins mit den Blättern der Raute hin.

Luzia setzte sich an den Küchentisch und trank in kleinen Schlucken. Dabei ließ der Schwindel in ihrem Kopf etwas nach.

»Du hast das Bewusstsein verloren«, sagte Jakob. Seine Stimme klang fremd, irgendwie hölzern.

»Ich weiß nur noch, dass Mutter gestorben ist. Doch da war noch etwas anderes. Eine Stimme, die mir unbeschreibliche Angst gemacht hat. Fast vergessen, drang sie ungefragt in mein Bewusstsein. Die Nachricht von Mutters Tod war nur der Auslöser. Der Schlüssel für ein Schloss, das ich für immer verschlossen glaubte …« Luzia senkte hilflos den Kopf und begann wieder zu weinen. Ihre Mutter war tot, die Frau, die ihr das Leben geschenkt und die sie gleichzeitig gehasst hatte. Seit beinahe sieben Jahren hatte sie kein Wort mit ihr gewechselt. Sie hatte nicht die Gelegenheit gehabt, sich mit ihr auszusprechen.

Elisabeth nickte und tupfte ihre Tränen mit einem Zipfel ihrer Schürze fort.

Luzia fühlte sich unendlich leer. »Jakob, sei so gut und lies mir vor, was mein Onkel noch schreibt.«

Jakob nahm den Brief vom Tisch und begann mit ruhiger Stimme zu lesen.

Liebste Luzia, liebe Elisabeth, werter Jakob, es tut mir sehr leid, dass ihr diese Zeilen lesen müsst. Ich hätte sie euch gerne erspart! Aber es hilft alles nichts, deshalb werde ich nicht lange um den heißen Brei herumreden. Luzia, deine Mutter ist gestorben.

Es tut mir schrecklich leid, dass du erst unter diesen Umständen wieder einmal von mir hörst. Leider sehen wir uns viel zu selten. Um dir eine Sorge zu nehmen, habe ich die Verstorbene, wie ich hoffe, in deinem Sinne beerdigt. Hiermit möchte ich euch allen mein Beileid aussprechen. Mein Mitgefühl ist euch in diesen Stunden gewiss.

Luzia, nun zu dir. Ich habe mir Gedanken über deine Zukunft gemacht, wie es meine Pflicht ist.

Du solltest möglichst bald nach Ravensburg kommen, um das Grab deiner Mutter zu besuchen.

Deine Mutter Anna hat eine Hebammentasche zurückgelassen. Sie gehört jetzt dir. Entscheide selbst, was du brauchen kannst. Nachdem nun deine Mutter nicht mehr ist, fehlt unserer Stadt auch eine tüchtige Hebamme. Ich bin der festen Meinung, dass du ihre Nachfolge antreten solltest.

Ich kann mir denken, dass du mit Schrecken an deine Kindheit in Ravensburg zurückdenkst. Ich weiß, was Eusebius Grumper dir angetan hat. Er ist nach wie vor als Kaplan und Notar in der Stadt tätig. Dennoch hoffe ich inständig, dass ich dich überzeugen kann, nach Ravensburg zurückzukommen. Auch an Grumper ist die Zeit nicht spurlos vorübergegangen, und auf meine Unterstützung kannst du zählen. Zudem hättest du als Hebamme die Möglichkeit das Bürgerrecht zu erlangen. Dies würde deine Position stärken.

Nach einer kurzen Vorstellung bei unseren Stadtärzten, am besten bei Johannes von der Wehr, unserem jungen Wundarzt, könntest du die Stelle schon bald antreten. Von der Wehr ist ein äußerst liebenswürdiger Mann, er bereitet dir sicher keine Schwierigkeiten.

Liebe Luzia, ich bitte dich, meinen Vorschlag in deinem Herzen zu bedenken. Natürlich würdest du in meinem Haus wohnen, und ich würde für dein Wohlergehen sorgen und auf deinen Ruf achten. Seit Annegrets Tod ist das Haus so leer und für mich allein viel zu groß. Bitte überlege es dir, Ravensburg und ich freuen uns auf dich!

Mit den allerherzlichsten Grüßen,

euer aller Basilius. Im Jahres des Herrn 1483

»Wie du es auch drehst und wendest, Ravensburg eröffnet dir ungeahnte Möglichkeiten!«, sagte Elisabeth und nahm sich seufzend ein weiteres Hemd aus dem Korb vor ihr, bei dem es ein großes Loch zu stopfen galt. »Luzia, Kind, du musst diese Gelegenheit nutzen! Auch wenn deine Erinnerungen nicht die besten sind. Bedenke, heute bist du eine erwachsene Frau, kein hilfloses Kind mehr!«

Seitdem der Brief von Basilius eingetroffen war, redeten Elisabeth und Jakob mit Engelszungen auf ihre Ziehtochter ein, obwohl ihnen die Vorstellung, dass Luzia ihr Haus verlassen würde, Angst machte. Dennoch, eine solche Gelegenheit würde nicht wiederkommen! Elisabeth wusste, sie durfte jetzt nicht an sich denken.

Luzia sollte Hebamme in einer der größten Städte der näheren Umgebung werden. Nur Konstanz, das sich auf der anderen Seite des Sees befand, zählte mehr Einwohner als Ravensburg.

Und so wurde beschlossen, dass Luzia zum Herbst hin Seefelden verlassen und ihr neues Leben in Ravensburg beginnen sollte. Viel zu schnell gingen ihre letzten Wochen in der Fischergasse vorüber, und nun war schon der Tag des Abschieds gekommen.

Noch heute Abend würde sie in das große Apothekerhaus ihres Onkels in der Marktstraße einziehen und fortan in Ravensburg wohnen. Matthias würde sie nach dem Achtuhrläuten mit ihren Habseligkeiten nach Ravensburg bringen.

In den vergangenen Tagen waren Luzias Gedanken oft nach Ravensburg, die Stadt an der Schussen, gewandert. Sie erinnerte sich noch genau an den Tag, als sie das erste Mal ohne die Mutter Basilius’ Apotheke betreten hatte. Sicher war sie auch vorher schon öfter dort gewesen. Dennoch hatte sich dieser Besuch eindeutig von den vorherigen unterschieden. Luzia hatte nicht vergessen, wie sehr sie sich bemüht hatte, die kleinen Buchstaben auf den vielen großen und kleinen Gefäßen in den mannshohen Regalen zu entziffern. Zuerst hatte sie gedacht, sie hätte über Nacht das Lesen verlernt. Dann hatte der Kaplan vielleicht doch recht gehabt? Weibliche Wissbegier außerhalb einer Klostermauer stellte für ihn eine schwere Sünde des von Natur aus schwachen und dummen Weibes dar. Immer hatte der Kaplan haarscharf zwischen ihr und den anderen Buben und Mädchen der Klasse unterschieden. Die wenigen anderen Mädchen waren äußerst widerwillig und gelangweilt zur Schule gekommen. Für sie war die Welt in Ordnung gewesen, wenn sie Nähen und Sticken durften. Der Umgang mit den Buchstaben war ihnen im Gegensatz zu Luzia sehr schwergefallen. Sie aber war aus freien Stücken gekommen. Lesen und Schreiben waren ihr in den Schoß gefallen. Für sie hatte es schon damals nichts Spannenderes gegeben, als die Welt zu verstehen, deshalb hatte sie immer viel zu viele Fragen gestellt. Schulmeister Grumper hatte ihre unbändige Fragelust unbarmherzig mit dem Stock oder dem Riemen bestraft. Freilich, auch die Buben hatte er bestraft, wenn auch nur für ihre frechen Antworten. Doch ihnen hatte der Schulmeister allenfalls den Hosenboden strammgezogen und das auch immer während des Unterrichts. Für Luzia hatte er sich etwas Besonderes ausgedacht. Sie hatte nach dem Unterricht im Kämmerchen neben dem Schulraum zu erscheinen. Noch heute glühten ihre Wangen vor Scham, wenn sie daran dachte.

Sie hatte so viele Strafen für ihre Wissbegier hingenommen, und jetzt konnte sie die Worte auf den vielen Behältern nicht lesen. Erst Basilius’ Erklärung, dass es sich hierbei um Latein, die Sprache der Gelehrten handele, hatte Luzia zumindest ein bisschen versöhnlicher gestimmt. Zumindest hatte sie das Lesen nicht verlernt.

Schnell zog Luzia die wackelige Tür zur Schlafkammer hinter sich zu. Elisabeth sollte nicht sehen, wie sie schon wieder weinte. Auf dem Bett sitzend, kämpfte sie den in heißen Wogen aufflackernden Schmerz zurück. Erst als sie sich einigermaßen beruhigt hatte, begann sie sich anzuziehen. Rasch bürstete sie die nassen, widerspenstigen Locken und nahm die fuchsrote Mähne im Nacken mit einem Lederband zusammen.

Wehmütig ließ sie ihren Blick durch die kleine, gemütliche Kammer schweifen. Neben einem liebevoll gezimmerten Bett und einem Nachtkästchen aus dunklem Holz ließ sie den kleinen Schreibtisch zurück. Hier hatte sie oft mit Blick auf den See Pater Wendelins Pergamente beschrieben. Kleine Übersetzungen aus dem Lateinischen, Abschriften und manch andere Übung hatte sich der Pfarrer für sie ausgedacht. Sieben Jahre war dies ihre Heimat gewesen. In Seefelden hatte sie sich geborgen und angenommen gefühlt. Das Leben war leicht und selbstverständlich gewesen. Jeder kannte jeden. Die Allermeisten besaßen wenig bis nichts und dennoch waren die Menschen zufrieden. Luzia schluckte schwer. Wie sehr sie sie alle vermissen würde: Elisabeth und Jakob. Magdalena, die gute Freundin der vergangenen Jahre. Wie viel Spaß hatte es gemacht, plaudernd, lachend und singend mit ihr die Wäsche zu waschen und den Brotteig zu kneten. Von Magdalena hatte sie sich bereits am Vortag unter Tränen verabschiedet. Dann waren da die vielen Kinder, denen sie auf die Welt geholfen hatte, und natürlich Matthias. Sehr bitter war ihr auch der Abschied von Pater Wendelin gewesen. Luzia dachte an die vielen Lateinstunden oder an die etwas selteneren Lektionen in Griechisch. Darüber hinaus hatte der gemütliche Pater seine fleißige Schülerin in Botanik unterwiesen. Luzia vermisste schon jetzt die gemeinsamen Stunden des Lernens und der Gartenarbeit. Doch auch Pater Wendelin hatte ihr dringend zu einer Übersiedelung nach Ravensburg geraten.

»Du tust gerade so, als wäre Ravensburg aus der Welt. Dabei ist es gerade einmal eine knappe Tagesreise von unserem See entfernt. Wenn dich das nicht überzeugt, solltest du bedenken, dass du auch von deinem Onkel noch eine Menge lernen kannst. Stell dir nur einmal vor, wie viele Bücher und Schriftrollen er besitzt?«

Natürlich wusste Luzia, dass der Pater, Elisabeth und Jakob recht hatten. In Ravensburg würde sie das angesehene, gesicherte Leben der Stadthebamme führen. Aber es gab einen Winkel in ihrem Herzen, der wusste, dass in Ravensburg auch Gefahren auf sie warteten. Seit ihrer Ohnmacht nach Basilius’ Brief hatte sie immer wieder die hasserfüllte Stimme gehört und den brennenden Schmerz auf ihrem Rücken gespürt. Luzia ahnte, dass ihr in Ravensburg etwas auflauern würde. Böse und dunkel griff es bereits jetzt nach ihr.

»Luzia, hast du keinen Hunger? Du musst etwas essen, bevor du dich auf den Weg machst«, mahnte Elisabeth.

Die Stimme der Tante ließ Luzia aus ihren trüben Gedanken aufschrecken.

Sie war sich gar nicht bewusst gewesen, dass sie hier am großen Tisch neben der gemauerten Feuerstelle saß und groben Dinkelbrei löffelte. Sie hatte den Geschmack nicht einmal wahrgenommen. Resigniert legte sie nach einigen weiteren Bissen den Löffel weg.

Elisabeth versuchte ein aufmunterndes Lächeln, obwohl auch ihr weh ums Herz war. Zweifel nagten an ihr. Würde ihre Nichte in Ravensburg ihr Glück finden? Sie selbst konnte ihr schon so lange nichts mehr beibringen. Alles, was sich Elisabeth im Laufe der Jahre angeeignet hatte, wusste Luzia bereits. Zumindest würde Luzia im Haus ihres Bruders Basilius freundliche Aufnahme und Schutz finden. Mit diesen Gedanken tröstete sie sich.

»Ist es schon soweit?«, fragte Elisabeth ungläubig, als Jakob Luzias Reisetruhe vor dem Haus abstellte.

»Nicht mehr lange, und die Glocken von Sankt Martin läuten zur achten Stunde. Wie ich Matthias kenne, wird er pünktlich mit seinem Ochsenkarren vor der Tür stehen.«

Elisabeth nickte. »Dann wird es wirklich Zeit!«, sagte sie zögernd.

»Wir werden uns gegenseitig besuchen«, flüsterte Luzia sanft.

Elisabeth nickte, doch auf ihrem Gesicht lag eine große Traurigkeit.

Obwohl die Abfahrt kurz bevorstand, fiel Elisabeth ständig noch etwas anderes ein, das sie Luzia gerne mitgeben wollte. Schließlich breitete sie auf dem Küchentisch ein sauberes Leinentuch aus. Darauf legte sie einige frisch geräucherte Fische aus dem Bodensee, eine dicke Wurst, einen großen Laib Brot und ein Stückchen Käse. An einem anderen Tag wäre Luzia beim Anblick der vielen Köstlichkeiten das Wasser im Mund zusammengelaufen. Heute fühlte sich ihr Magen an, als wären kalte Steine darin.

Zur selben Zeit wurden Matthias die letzten Anweisungen eingeschärft.

»Matthias, benimm dich ordentlich!«, ermahnte ihn Otto, sein Meister. »Sei höflich und hilfsbereit! Hast du mich verstanden?«

Der junge Mann nickte. »Keine Angst, Meister, ich werde schon zusehen, dass Luzia nichts zustößt und sie heil in Ravensburg ankommt.«

»Dass mir keine Klagen kommen, hörst du?«

Matthias versicherte ihm noch einmal seine Aufrichtigkeit. Otto rieb sich den zerzausten Bart. Jetzt, kurz vor der Abfahrt seines Gesellen, kamen ihm doch Zweifel, ob es richtig war, Matthias und Luzia die Reise machen zu lassen. Aber schließlich war es seine eigene Idee gewesen, denn der Junge sollte noch einige Einkäufe für ihn tätigen. Unter anderem stand eine Sense aus Wangen auf dem Einkaufszettel. Der Gedanke, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis er das Geheimnis der Wangener Schmiedekunst lüften würde, erfüllte ihn mit Spannung und Vorfreude.

Als er Matthias mit seiner rauen, schwieligen Hand schließich den Segen gab, war Otto wieder mit sich und der Welt zufrieden.

Matthias brachte das Ochsengespann vor dem kleinen Häuschen in der Fischergasse zum Stehen. Er und Jakob wuchteten Luzias Reisekiste auf den Wagen.

»Gott segne dich, und habt eine gute Fahrt!« mit diesen Worten verabschiedete sich Jakob von seiner Nichte.

»Ich habe etwas für dich«, sagte Elisabeth liebevoll zu Luzia. Sie schob ihr eine Tasche in die Hand. Sie war aus dunkelbraunem Leder und roch nach Bienenwachs. Mit bequemen Henkeln und genügend Platz, für alles, was eine Wehmutter zur Ausübung ihres Berufes brauchte. Die Tasche war wunderschön.

»Pass auf dich auf!«, rief die Tante und trocknete ihre Augenwinkel, »und schreib uns recht bald …«

Schnaufend und schwitzend bog in diesem Augenblick Pater selbst in die Fischergasse. Er zog einen kleinen Handkarren hinter sich her. Erschöpft blieb er vor ihnen stehen und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

»Gott sei Dank, dass ich dich noch erreiche. Eigentlich haben wir uns ja bereits voneinander verabschiedet, aber ich wollte dich nicht gehen lassen, ohne dir dieses Kistchen mitzugeben. Bitte mach es auf und sieh nach, ob dir der Inhalt gefällt!« Luzia glaubte zu träumen. In der alten Holzkiste standen in Reih und Glied Ableger aller Pflanzen des Pfarrgartens.

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Дата выхода на Литрес:
25 мая 2021
Объем:
454 стр. 7 иллюстраций
ISBN:
9783839268421
Издатель:
Правообладатель:
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