Читать книгу: «Seelenfeuer», страница 6

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»Da hat er wahrlich nicht übertrieben«, entgegnete Johanna traurig und raffte ihr Schultertuch vor der Brust zusammen.

»Aber bis vor wenigen Wochen gab es doch auch noch meine Mutter, sie hat den Beruf der Hebamme erlernt.«

Johannas Blick verhieß nichts Gutes, dann sagte sie: »Deine Mutter machte sich ungern ihre schönen Hände schmutzig, da kam ihr Gretes Art der Geburtshilfe gerade recht. Sie selbst hat auch gern auf die Gnade des Allmächtigen verwiesen.«

Luzia nickte, sie erinnerte sich noch gut an die Ansichten ihrer Mutter. Dass sie sich allerdings so weit von ihrem Weg entfernt hatte, erschreckte Luzia.

»Grete betet für das Seelenheil von Mutter und Kind, ansonsten behindert sie die Nachbarsfrauen eher. Doch niemand wagt der Muntzin zu widersprechen. Sie trägt ja alles zum Kaplan. Dabei schimpft sie jeden förderlichen Handgriff eine schwere Sünde. Allein wenn die Nabelschnur nicht mit einem geweihten Messer durchtrennt wird, meldet sie das dem Herrn Kaplan. An irgendeine Arznei, die gar den Schmerz lindert, darfst du erst gar nicht denken!«

Luzia war entsetzt. Wie oft hatte der Einsatz von Bilsenkraut oder Mutterkorn Leben gerettet!

»Über diese alte Vettel könnte ich dir noch einige Geschichten erzählen, bei denen dir das Blut in den Adern gefriert, aber ich muss jetzt weiter«, sagte Johanna mit einem Blick auf den Sonnenstand. »Möchtest du uns die nächsten Tage nicht einmal besuchen? Rochus und Nanne würden sich sehr freuen.«

Nachdenklich setzte Luzia ihren Einkauf fort. Sie dachte an diese alte Frau, diese Grete. Eine Begegnung mit ihr würde sich nicht vermeiden lassen, spätestens wenn man sie zu ihrer ersten Niederkunft rufen ließ. Und dann würde es darauf ankommen, wer von ihnen beiden sich durchsetzen würde. »Und jetzt genug damit«, schalt sie sich selbst. Sie hatte bisher weder Gemüse noch Äpfel, noch frisches Brot gekauft, von dem sie wusste, wie gern es der Onkel mochte. Und einen Topf Honig brauchte sie auch noch …

Die Gemüsehändler standen vor dem stattlichen Lederhaus, in dem Gerber, Schuhmacher und Sattler ihre Waren verkauften. Die hölzernen Flügeltüren waren weit geöffnet und luden die Kaufwilligen ein.

Der Marktplatz hatte sich mittlerweile gefüllt. Vor jedem Stand drängten sich Frauen und Männer und feilschten mit den Händlern um den besten Preis. Viele Frauen grüßten Luzia, und den anderen schenkte sie wenigstens ein freundliches Lächeln. Ganz zu ihrer Freude sah sie genügend Frauen, die ein Kind unter dem Herzen trugen. Ihren wohlgerundeten Bäuchen nach würde bis zur Niederkunft nicht mehr allzu viel Zeit vergehen. Hoffentlich lassen sie dann nach mir rufen, überlegte Luzia.

Sie warf einen prüfenden Blick in ihren Korb, dann machte sie sich auf den Heimweg. Am Anfang der Marktstraße erreichte sie der Duft frischgebackenen Brotes. Für einen Augenblick schloss Luzia ihre Augen und überlegte: der Duft von Buchenholzfeuer mit einem Hauch Honig, einer Winzigkeit Kümmel sowie einer Spur Koriander und Anis. Das alles in der Himmelsröte, des herannahenden Tages gebacken – so würde sie vielleicht jemandem das einzigartige Aroma frischgebackenen Brotes beschreiben. Mit großen Schritten eilte sie zur Brotlaube, einem Tordurchgang, der die Marktstraße fast gegenüber der Marienapotheke mit der Herrengasse verband. Dort lagen in großen Weidenkörben die warmen haselnussbraunen Laibe. Luzia kaufte zwei runde Einpfünder mit knuspriger Rinde.

Auch an diesem Stand spürte Luzia die neugierigen Blicke der Leute auf sich.

»Das ist die neue Hebamme«, flüsterte jemand in der Schlange hinter ihr.

Als sie bezahlt hatte, hört Luzia, wie der Brothändler zu seiner Frau sagte: »Hübsch ist sie ja, aber sie sollte ihr rotes Haar verbergen.«

Eilig strich Luzia sich ein paar lose Strähnen unter die Haube und setzte ihren Weg fort. Ganz am Schluss kaufte sie bei einem dürren, alten Weiblein ein Pfund gedörrte Zwetschgen. Ihr süßer Duft lockte selbst jetzt noch Wespen an.

»Seid Ihr neu in der Stadt?«, wollte die Obstfrau wissen.

Luzia nickte und antwortete: »Ich bin Luzia Gassner, die neue Hebamme.«

»Dann nehmt noch diese Birnen, sie sind besonders saftig und halten sich noch bis Weihnachten im Keller.« Dabei schob sie Luzia eine kleine, gelbe Frucht in die Hand. »Kostet sie, ich will sie Euch schenken.« Das leicht körnige, süße Fruchtfleisch schmiegte sich an ihren Gaumen und entlockte ihr ein zufriedenes Lächeln. Luzia nickte anerkennend und kaufte bereitwillig einige der reifen Früchte.

Am Abend saß sie mit ihrem Onkel vor dem wärmenden Kaminfeuer in der Stube.

»Und«, fragte er. »Wie war dein erster Markttag in Ravensburg?«

»Aufschlussreich«, antwortete Luzia eifrig. »Und ich habe einige Leute von früher wieder getroffen.« Dass sie auch unangenehme Begegnungen gehabt hatte wie die mit dem Medicus Sauerwein, erwähnte sie nicht.

»Die Leute reden über dich«, sagte Basilius mit einem feinen Lächeln. »Du hast einige von ihnen aufgeschreckt und ihre Welt durcheinandergebracht.«

»Du meinst Grete?«, fragte Luzia schnell.

Das Lächeln auf dem Gesicht des Onkels verschwand und machte einer Sorgenfalte auf der Stirn Platz. »Was hast du über sie gehört?«

»Dass einige in der Stadt große Stücke auf sie halten und dass sie das Pfarrhaus bestellt.«

»Sie wird versuchen, dir das Leben schwer zu machen.«

Luzia nickte. »Solche gibt es immer und wird es immer geben«, sagte sie mutiger als sie sich fühlte.

»Grete darfst du aber nicht unterschätzen«, entgegnete ihr Onkel und in seiner Stimme lag eine dunkle Warnung, die Luzia Angst machte.

Dann erzählte er von einer Geburt, bei der die junge Apollonia Häberlin ein Kind mit sechs Fingern an jeder Hand geboren hatte.

»Ja, das kommt schon einmal vor, wenn die überzähligen Fingerchen gleich nach der Geburt stramm abgebunden werden, fallen sie nach ein paar Wochen, ähnlich wie der Nabel, von ganz alleine ab«, sagte Luzia leise.

»Apollonia wusste das nicht, und ihr Entsetzen über die Hexenfinger war groß. Also band sie dem Kind einen kleinen Blutstein ums Handgelenk, um das Unheil abzuwenden. Zwei Tage später war ihr Kind tot. Grete behauptete daraufhin, Apollonia habe ihr eigenes Kind getötet. Es gab eine Anhörung und Kaplan Grumper trat als Notar auf. Das Blutgericht beauftragte Grumper damit, mögliche Verbindungen Apollonias mit dem Bösen zu entlarven.«

»Wieso ausgerechnet Kaplan Grumper?«, wollte Luzia wissen.

Basilius sah sie lange an, bevor er antwortete.

»Grumper soll bereits vor einigen Jahren zusammen mit einem hohen Würdenträger des Dominikanerkonvents zu Schlettstadt eine Frau des Kindsmords überführt haben. Der Unbekannten aus Waldshut wurde ein Pakt mit dem Teufel vorgeworfen. Sie wurde hingerichtet. Ich will dir die Einzelheiten ersparen, jedenfalls wurde dank Gretes Aussage und Grumpers Dafürhalten auch Apollonia vom Gericht für schuldig befunden und draußen beim Galgenbühl gehängt.«

Luzia starrte ihn voller Entsetzen an. »Das Gericht hat sie wegen Kindsmord zum Tode verurteilt? Und das nur, weil sie ihrem Kind einen Blutstein ums Handgelenk gewunden hatte?«

Basilius seufzte tief. »Ich will dich nicht beunruhigen, aber vor Grete solltest du dich in acht nehmen. Die Alte kann dir sehr gefährlich werden!« Ohne ein weiteres Wort stand Luzia auf und trat näher ans Feuer. Ihr war plötzlich kühl, und das nicht nur, weil es bereits später Abend war.

6

»Jungfer Luzia, hört Ihr mich denn nicht? So macht doch die Tür auf! Meine Marie bekommt ihr Kind!«

Alois Weber klopfte wie wild gegen die dicke Eichentür, die unter seinen harten Schlägen bereits knirschte. Wie zähfließender Honig kam ihm die Zeit vor. Seine Frau hatte bereits zwei Kinder verloren, unter deren Geburt sie selbst nur um Haaresbreite dem Tod entgangen war. Laut Grete, die beide Male dabei war, hatten sie selbst Schuld am Tod der Kinder. Es stimmte schon, oft lagen sie auch an Fastentagen beieinander. In dieser Zeit gebot die Kirche, sich nicht nur beim Genuss von Fleisch und Speck zurückzuhalten, auch die Fleischeslust wurde als schwere Sünde verstanden. Deshalb versprach sich Alois nicht allzu viel davon, die neue Hebamme dabei zu haben, aber Marie hatte darauf bestanden, die Gassnerin zu rufen. »Sie ist eine gute Frau und ich habe das Gefühl sie kann uns helfen. Ihr Aussehen tut nichts zur Sache«, waren Maries Worte, als er auf das Äußere der Gassnerin anspielte. In seiner Vorstellung hatte eine Wehmutter anders auszusehen. Hässlicher, älter, aber allem voran ohne diese rote Feuermähne auf dem Kopf. Wie sollte ausgerechnet diese Feuerbraut ihnen zu einem lebenden Kind verhelfen? Aber er hatte Marie diesen Wunsch nicht abschlagen wollen. Endlich wurde die Tür geöffnet! Vor dem Weber stand Luzia, in eine Decke gehüllt. Sie hatte sich bereits zu Bett begeben, aber das war Alois Weber egal.

»Gott zum Gruße, Jungfer Gassner. Kommt schnell, das Kind will auf die Welt kommen!«

Obwohl Luzia an nächtliche Besucher gewohnt war, rauschte ihr vor Aufregung das Blut in den Ohren. Heute Nacht war es also soweit, endlich durfte sie ihr Können unter Beweis stellen. Marie Weber war eine patente, junge Frau, die sie bereits vor wenigen Tagen aufgesucht hatte, um sich vorzustellen.

»Ist Eure Frau allein?« Ganz aus der Nähe kam der Ruf einer Eule, und der volle Mond verschwand hinter einer dunklen Wolke.

Alois schüttelte vorsichtig den Kopf. »Die Mutter ist bei ihr.«

»Dann kommt herein. Ich muss mich erst anziehen.« Sie führte den verunsicherten Mann in die Küche des Hauses. Im gemauerten Herd glomm der Rest eines Feuers.

Während Alois neben der Feuerstelle wartete, knetete er seine verbeulte Mütze durch die Hände und starrte in die rote Glut.

Als die junge Wehmutter zurückkam verfolgte er aufmerksam, wie sie eine Handvoll getrocknete Wacholderbeeren in die Glut warf. Perchta betrachtete ihr Opfer mit Wohlwollen, denn es zischte, und das Feuer erwachte zu neuem Leben. Würziger Duft erfüllte die Küche, und Alois glaubte Luzias Haar in Flammen zu sehen. Wenige Augenblicke später standen sie bereits vor der Tür. Er hatte seinen Karren mitgebracht und der Braune zog sie wie der Wind durch das nächtliche Ravensburg.

Vom Blaserturm ertönten die Trompeten zur ersten Stunde. Der Mond zog unbeirrt seine nächtliche Bahn und übergoss die Welt mit seinem Silberlicht. Erst in den frühen Morgenstunden würde er Ravensburg ganz der Dunkelheit überlassen. Doch bis dahin würden noch einige Stunden vergehen. Stunden, die für alle Zeiten Luzias Leben hier in Ravensburg bestimmen würden – heute Nacht würde ihr Wissen geprüft werden. Ein wenig bang fühlte sie sich schon, schließlich war sie auf dem Weg zu ihrer ersten Geburt in der Stadt.

Die gurgelnden Geräusche des Gerberbachs erfüllten die Nacht. Luzia war, als würde der Bach, in dem Gerber, Färber und die Metzger ihre Abfälle entsorgten, in der Nacht noch weitaus schlimmer stinken, als es am Tag der Fall war. In der Manggasse betrieben Alois und sein Vater das Handwerk der Manger. Das Glätten und Veredeln der Leinenstoffe und schweren Wolltuche verlangte tagein, tagaus schwerste körperliche Arbeit. Die so verarbeiteten Stoffe genossen überall hohes Ansehen. Selbst den flandrischen Tuchen standen die der Ravensburger in nichts nach. Doch der Dunst aus faulenden Abfällen und zahlreichen Sickergruben hing wie eine Glocke über der Straße und über der Stadt.

Alois Weber schwieg während der gesamten Fahrt, erst kurz bevor sie in die Manggasse einbogen, fragte er leise:

»Glaubt Ihr, Gott hat diesmal ein Einsehen mit meiner Marie?«

»Das weiß ich nicht, aber ich verspreche Euch alles zu tun, was in meiner Macht steht.«

Für einen Augenblick glaubte Alois eine alte Frau vor sich zu sehen. Einzig ihr flammendes Haar sagte ihm, dass es Luzia Gassner war, die zu ihm gesprochen hatte.

»Gott zum Gruße. Ihr seid also die neue Hebamme«, begrüßte sie die Altmutter. Gertrude Weber, eine sehnige, ältere Frau mit grauem Haar und freundlichen Augen, führte Luzia die schmale Stiege hinauf. Im ganzen Haus war es dunkel, einzig das Talglicht in Gertrudes Händen spendete ein wenig Licht. Schatten begleiteten Luzia die Stufen hinauf. Sie beachtete sie nicht.

In der Kammer brannten einige Talglichter und sogar eine echte Wachskerze. Die Gebärende lag im hinteren Bereich der großen Kammer auf einem einfachen Bett. Alle Fenster waren sorgfältig verschlossen und die Luft stickig und abgestanden. Weiter vorn, neben der Tür, standen einige Stühle und ein großer runder Tisch, auf dem ein paar saubere Leinen lagen. Eine ältere Frau, die sich Luzia als Annelie, die Frau des Küfers, vorgestellt hatte, brachte ein Weihwasserbecken und noch mehr Kerzen.

»Wir sollten auf Grete warten, sie kommt etwas später«, sagte Annelie, als Luzia Marie den Schweiß von der Stirn tupfte.

»Nein, das tun wir nicht«, entgegnete Luzia knapp und beugte sich wieder über Marie.

»Das dürft Ihr nicht sagen«, murmelte die Küferin ängstlich und bekreuzigte sich. »Wir brauchen zuerst die Fürsprache der Muttergottes. Als Schutzheilige der Geburt wacht sie über Marie, doch um ihre Hilfe zu erbitten, müssen wir auf Grete warten.«

»Und wo bleibt eure Grete?«, fragte Luzia. Sie drehte sich weg und ging vor Maries Lager in die Knie.

Die Schwangere wand sich mit offenem Haar auf ihrem Lager. Dunkel vom Schweiß klebte ihr das kastanienbraune Haar am Kopf. Ihr Gesicht wirkte bleich und vom Schmerz gezeichnet. Ein Blick in Maries Augen zeigte ihre Todesangst. Luzia berührte sie sanft. Sie fühlte die Furcht und all den Schmerz, die Marie gefangen hielten. Doch schon wenige Atemzüge später entspannte sich das Gesicht der jungen Weberin. Der harte Zug um ihren Mund war bereits gewichen.

»Ich bin so froh, dass Ihr da seid. Glaubt Ihr, heute kommt es zu einem guten Ende?«, flüsterte die junge Frau zwischen zwei Wehen.

Luzia nickte. In ruhigen und einfachen Worten erklärte sie Marie, wie sie jetzt gemeinsam vorgehen würden.

Die junge Frau nickte, und Luzia erkannte erleichtert, dass sie ihr Vertrauen gewonnen hatte.

Annelie und die Weberin Mutter wachten neugierig über Luzias Tun und all ihre Worte. Jeder Handgriff wurde gesehen und leise kommentiert.

Plötzlich wurde die Tür aufgerissen, und alle richteten ihre Blicke auf die hoch aufgeschossene Gestalt, die die Kammer betrat. Ein scharfer Luftzug trug den Geruch von Weihrauch und Missgunst herein.

»Gegrüßet seist du, Maria«, herrschte Grete die Frauen an, dabei ließ sie einem Richter gleich ihren durchdringenden Blick durch die Kammer schweifen.

»In Ewigkeit. Amen«, kam die Antwort von Gertrude Weber und der Küferin.

Grete lächelte zufrieden.

Sie hatte etwas über sechzig Winter erlebt. Ihr bleiches Gesicht zeigte noch wenige Falten, dafür wirkte es kühl und unnahbar. Doch Gretes gesamte Erscheinung war tadellos. Zu allen Zeiten trug die Muntzin eine eng anliegende helle Haube, unter der nicht ein einziges Haar hervorschaute, was den Eindruck erweckte, als besäße sie gar keines. Der Stehbund von Gretes Hemd reichte ihr bis knapp unters Kinn. Hemden besaßen in der Regel einen Ausschnitt, und die Frauen fragten sich oft, wo Grete diese Ungetüme erstand. Auch die Ärmel des Gewands waren stets etwas länger als ihre Arme, sodass Grete auch ihre Hände vor fremden Blicken geschützt wusste. Darüber trug sie ein dunkles Überkleid. Bodenlang und völlig schmucklos, wie ein Büßergewand, dafür so wallend, dass es einer Schwangeren gute Dienste geleistet hätte.

Grete war sehr stolz darauf, stets als Vorbild für Tugendhaftigkeit und Anstand genannt zu werden. Oft schimpften die hohen Kirchherren des Sonntags in ihrer Predigt. Nannten die Frauen, eitle, dem bunten Tand verfallene Weiber und verlangten lautstark danach, das gesamte Haar mit einer züchtigen Kopfbedeckung zu verhüllen. Üppige Ausschnitte und weite Ärmel prangerten sie ebenso an wie das Tragen von Schmuck und modischen Schuhen. Grete konnten sie damit nicht meinen. Die Muntzin hielt auch sämtliche Fastentage streng und ohne jede Ausnahme ein. Nicht einmal von einer Krankheit ließ sich die sehr schlanke Frau abhalten, ihren Körper zu kasteien und ihre Gedanken zu züchtigen.

Als Luzia den kühlen Blick der Älteren auf sich spürte, lief ein kalter Hauch über den Rücken. Diese Frau konnte ihr gefährlich werden, das spürte sie sehr deutlich. Sie versuchte zunächst ein Lächeln, doch es wurde nicht erwidert. Es prallte einfach an Grete ab. Wurde gelöscht, wie Wasser eine Flamme zum Sterben brachte. Stattdessen traf sie Gretes überheblicher Blick.

»Grüß Gott, wir wurden uns noch nicht vorgestellt. Ich bin Luzia Gassner, die neue Hebamme«, sagte Luzia mit fester Stimme und wollte ihr die Hand reichen.

Grete würdigte sie keines Blickes und erwiderte auch Luzias Gruß nicht. Die Gedanken der Muntzin begannen bereits die Atmosphäre zu verpesteten, als sie sich endlich zu einer Antwort herabließ.

»Feuerrotes Haar, als ob der Teufel selbst darin hockte, du bist also die Gassnerin?«, sagte sie schließlich. »Hat es dir bei den Barbaren die Sprache verschlagen?«

»Im Gegensatz zu Euch habe ich mich bereits vorgestellt. Wenn auch Ihr so freundlich wärt«, gab sie zurück.

Gretes herablassender Blick traf sie wie ein giftiger Pfeil.

»Ich glaube nicht, dass ich mich vorstellen muss! Schließlich bin ich keine Unbekannte.«

Luzia erwiderte nichts.

»So, und du willst also die Hebamme sein? Deine Mutter, Gott hab sie selig, war die Hebamme von Ravensburg. Gemeinsam brachten wir so manches Balg auf die Welt!«

Und wie viele erst unter die Erde, dachte Luzia grimmig.

»Für eine Wehmutter bist du noch viel zu jung. Viel zu unerfahren. Zudem sollte eine Hebamme etwas anständiger frisiert und gekleidet sein und nicht wie eine Hure auf die Gasse gehen. Allein dein unbedecktes Haar ist eine Schande.«

»Ich denke nicht, dass mein Aussehen etwas zur Sache tut und Euch hat es nicht zu interessieren!«, gab Luzia mit fester Stimme zurück. Ihre Laune wechselte auf Sturm. »Doch vielleicht könnt Ihr mir sagen, was genau eigentlich Eure Aufgabe in diesem Haus ist?«

Noch immer standen sich die beiden Frauen gegenüber, und die Umstehenden warteten hilflos, was geschehen würde.

Keineswegs verunsichert antwortete Grete: »Einer jungen Gans wie dir bin ich gewiss keine Rechenschaft schuldig! Aber wenn du es genau wissen willst, ich bete für das Seelenheil von Mutter und Kind. Darüber hinaus bitte ich um die Fürsprache der Muttergottes und der heiligen Margarete.« Mit diesen Worten stellte sie ein Kruzifix auf den Tisch und brachte aus den Weiten ihres Gewandes einige Rosenkränze aus Korallen zum Vorschein.

»Bisher scheinen Eure Bemühungen eher ohne Erfolg gewesen zu sein, oder täusche ich mich etwa und Marie ist bereits Mutter eines Kindes?«, entgegnete Luzia spitz. Unter keinen Umständen durfte sie jetzt schweigen. Schließlich ging es um ihr Ansehen als Hebamme.

»Marie wird niemals ein gesundes Kind zur Welt bringen. Ihr Leben ist viel zu lasterhaft. Du wirst schon sehen, dass auch dieses Kind stirbt, ehe es morgen wird.«

Bei Gretes Worten schluchzte Marie laut auf, und die Altmutter und Annelie bekreuzigten sich rasch.

»Nimm das Paternoster«, mit diesen Worten hielt ihr die Muntzin eine Zählkette aus roten Korallen hin. Als Luzia den angebotenen Rosenkranz achtlos auf den Nachtschrank legte und an Maries Bett trat, bekreuzigte sich auch Grete mehrmals.

»Denn wie das Gras werden sie bald verdorren und wie das grüne Kraut werden sie verwelken«, zitierte Grete einen Psalm.

Luzia spürte, wie Maries Hand angstvoll die ihre suchte. Entschlossen richtete sie sich auf und wandte sich der Muntzin zu: »Ich bin die von der Stadt bestellte Hebamme. Meine Aufgabe ist es, der Gebärenden zu helfen. Wenn Ihr meint, beten zu müssen, so tut es. Aber lasst mich jetzt meine Arbeit machen.«

Grete schnappte nach Luft. »Hüte dich, dem Allmächtigen ins Handwerk zu pfuschen, andernfalls wirst du mich kennenlernen!«

Obwohl ihr die Worte eine Gänsehaut bereiteten, reckte Luzia ihr Kinn und hielt Gretes Blick stand.

»Ich empfehle Euch, spitzt Eure Ohren, denn ich werde es nur dieses eine Mal sagen«, begann Luzia so ruhig wie möglich. Sie wollte sich um keinen Preis von der Muntzin zu einer Beleidigung hinreißen lassen. Eine Beleidigung, die sie hinterher gegen sie verwenden konnte – und ein Hinterher würde es geben, das spürte Luzia bereits jetzt. »Zunächst einmal unterlasst Ihr gefälligst, mich mit diesem freundschaftlichen Du anzusprechen, denn Freunde werden wir nie werden, des Weiteren lasst Ihr mich jetzt meine Arbeit tun, denn die Eure ist bereits beendet. Also geht mir aus dem Weg!«

Maries Schrei hallte durch die Kammer und unterbrach den Disput. Luzia drehte sich ohne ein weiteres Wort um und beugte sich über Marie, um sie zu beruhigen.

»Glaubt mir, rote Füchsin«, zischte Grete, die jetzt dicht neben ihr stand, »ich werde jeden, wirklich jeden Eurer Handgriffe verfolgen.

»Tut das!«, gab Luzia so unerschrocken wie möglich zurück.

»Hütet Euch davor, Euren Blick oder gar Eure Hände unter Maries Hemd zu stecken, sonst war es Eure erste und gleichzeitig die letzte Geburt in Ravensburg. In unserer Stadt gibt es weder geheimnisvolle Mittelchen noch Amulette oder gar gemurmelte Beschwörungen. Denn bereits in der heiligen Schrift steht geschrieben: Viel Mühsal bereite ich dir, sooft du schwanger wirst, und deine Kinder gebierst du unter Schmerzen!«, fügte Grete hinzu. Doch ihr Gesicht wirkte angespannt und ärgerlich.

Erleichtert nahm Luzia eine Spur von Unsicherheit in ihrer Stimme wahr. Und ihr entging auch nicht, dass die Altmutter langsam ungeduldig wurde.

»Setzt Euch in eine Ecke und ruft alle Heiligen an, aber geht mir aus den Beinen, denn Maries Kind möchte auf die Welt kommen, und diesmal wird es leben!« Zu welch großem Versprechen habe ich mich da hinreißen lassen? Große Mutter, hilf, dachte Luzia.

Zur Verwunderung aller verzog sich die Muntzin tatsächlich in den hintersten Winkel der Kammer. Ein erleichtertes Raunen kam von den Frauen.

Marie wand sich auf ihrem durchgelegenen Lager. Dazu bereiteten ihr die stickige, abgestandene Luft und die unerträgliche Hitze zusätzliche Qualen. Aus der hinteren Ecke marterte sie Gretes Blick, dem nichts entging, und der Weihrauch verursachte ihr zunehmende Übelkeit. Marie erbrach sich heftig. Gleich erfüllte der saure Geruch die ganze Kammer. Luzia wischte ihren Mund sauber und gab ihr einen Schluck zu trinken, dann öffnete sie ohne ein Wort das Fenster. Grete saß mit dem Rosenkranz in der Ecke und schimpfte leise vor sich hin.

Die Geburt schien schnell fortzuschreiten. Die letzte Phase der Niederkunft kündigte sich an.

»Luzia, bitte tut etwas! Ich kann es fühlen, etwas stimmt nicht.« Maries Augen schrien förmlich um Hilfe. »Es fühlt sich an wie die Male davor«, beharrte sie. Als sie erneut von einer Wehe überrollt wurde, schrie sie laut. »Ich bitte Euch helft mir, mit dem Kind ist etwas, ich kann es nicht erklären.«

»Marie, ich würde Euch gern untersuchen. Euren Bauch, aber auch die Öffnung, durch die Euer Kind in die Welt schlüpft. Wenn Ihr mir diese Untersuchung gestattet, kann ich Euch mit großer Sicherheit sagen, wie lange es noch dauert, bis Ihr Euren Schatz in den Armen halten werdet.«

Die Weiber hielten den Atem an und die Stille in der Kammer tat fast weh. Grete und die beiden anderen starrten Luzia an, als habe sie den Teufel selbst geküsst.

»Heilige Margarete, steh uns bei. Die Unholdin will das Kind töten. Seht ihr denn nicht, sie will die Seele des Ungeborenen dem Teufel schenken.

Luzia hörte nicht auf ihr Gekeife. »Habt keine Angst!«

Maries Augen weiteten sich, dann nickte sie aber und gab ihre Zustimmung. Behutsam legte Luzia ihre Hände auf Maries Bauch. Diese spürte eine Wärme, die sich wie ein Schild vor den Schmerz schob. Marie atmete aus und ließ sich zurück in die Felle sinken. Langsam tastete Luzia den weit vorgewölbten Bauch ab. Was sie fühlte, entsprach einer ganz normalen Kindslage. Der Kopf lag bereits so weit unten, dass Luzia ihn schon nicht mehr fühlen konnte. Als sie ihre Hand unter Maries Hemd schob, erhob sich Gretes Stimme wie ein donnerndes Gewitter.

»Was fällt dir ein, du elendes Weib? Zauberin! Unholdin! Nimm sofort deine dreckigen Finger von den unaussprechlichen Stellen. Sie sind zutiefst von Sünde befleckt. Nicht einmal Gott selbst blickt den Weibern unter die Röcke.«

Luzia ließ sich von dem Gekeife der Alten nicht beirren. Aus dem Augenwinkel sah sie, dass sich die Weberin und Annelie ängstlich ansahen. Sie wussten nicht, wessen Meinung sie teilen sollten.

Luzia schob ihre Finger ganz ruhig weiter und fühlte, dass etwas nicht stimmte. Sie erschrak, als sie Maries Geburtswege noch fast verschlossen vorfand. Normalerweise waren sie zu diesem Zeitpunkt weit, weich und offen. Kalter Schweiß trat ihr auf die Stirn. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals und das Blut rauschte ihr wie ein Sturzbach in den Ohren. Luzia sah, wie die Schatten an den Wänden tanzten und sie mit ihrem irren Gekicher in den Wahnsinn treiben wollten. Wenn sie nicht schnell etwas unternahm, verletzte das Kind Marie mehr als nötig, was eine starke Blutung zur Folge hätte. Sicher wäre es möglich, die Wunden zu nähen, dafür befand sich eigens eine Dose mit Katzendarm in Luzias Tasche, aber die Blutungen wurden manchmal so stark und ließen sich nicht mehr beherrschen. Oft starben die Frauen noch am selben Tag. Wehen glichen einer Naturgewalt, deshalb musste schnell etwas geschehen.

»Nehmt diese Kräuter, macht einen sehr starken Aufguss und bringt ihn mir in einer großen Schüssel«, wies Luzia die Altmutter an, nachdem sie einigen ihrer Kräutersäckchen etwas entnommen hatte.

Die schwarzen Schatten leckten bereits an ihren Röcken. Schnell öffnete sie eine kleine Dose und entnahm ihr eine große Prise schwarzen Pulvers. Das Pulver streute sie in Maries Becher und gab es der Gebärenden zu trinken.

»Große Mutter, hilf uns, bitte lass uns jetzt nicht im Stich«, betete Luzia stumm.

»Was habt Ihr Marie gegeben?«, keifte Grete und stürzte zum Bett.

»Pulverisierte Sepien«, antwortete Luzia wahrheitsgetreu. Wie sie es geahnt hatte, wusste Grete nicht, dass es sich dabei um gemahlenen Tintenfisch handelte. Und sie traute sich nicht, ihre Unwissenheit zuzugeben.

Kurze Zeit später trug die Weberin einen Holzbottich mit dem Kräutersud herein. Als Luzia Maries Hemd bis zu den Schenkeln hochschob, drehte sich Grete mit einem empörten Schrei um. Gleich darauf verzog sie sich wieder in ihre Ecke und begann laut zu beten: »Ave Maria, gratia plena, Dominus tecum. Benedicta tu …«

Vorsichtig, um die dampfende Flüssigkeit nicht zu verschütten, stellten Luzia und die Weberin die Schüssel zwischen Maries geöffnete Beine. Damit der Dampf nicht entweichen konnte, legten sie ein paar Felle und Decken darüber. Der erdige Duft von Baldrian und Majoran erfüllte die Kammer und überdeckte den scharfen Schweißgeruch.

»Weshalb tut Ihr das?«, fragte die Altmutter zögernd.

»Der Dampf aus Baldrian, Hopfen und Majoran wird Maries Schoß wärmen, so kann das Kind leichter geboren werden«, sagte Luzia und zwang sich zu einem Lächeln.

»So einen Dreck habe ich beim besten Willen noch nicht gehört! Das ist doch alles Zauberei. Habt Ihr das schwarze Pulver gesehen?«, versuchte Grete die Altmutter und Annelie auf ihre Seite zu ziehen. Die Frauen sahen sich verunsichert an. Sie wussten immer noch nicht, wem sie recht geben sollten.

Dampfbad und Sepiapulver zeigten jedoch bald ihre Wirkung, und als Luzia wenig später nochmals die Reife der Geburtswege überprüfte, war sie mit dem Ergebnis zufrieden. Die Geburt ging nun zügig voran. Marie schöpfte Hoffnung. Gerade so viel, dass sie erkannte, wie es um sie ein wenig heller wurde und sie den Weg sehen konnte.

»Ich glaube, langsam fühlt es sich …«, die nächste Wehe kam, und brachte Marie zum Schweigen. Sanft strich die Hebamme Marie das lange Haar aus dem schweißnassen Gesicht. Sie legte ihre Hand auf Maries Bauch. Ein leichtes Vibrieren erfasste beide Frauen. Luzia konnte den kleinen, feuchten Schopf des Kindes bereits sehen. Mit jeder neuen Wehe drängte das kleine Licht nun ins Leben.

»Du machst das ganz wunderbar«, lobte Luzia.

Marie keuchte, und der Kopf war geboren.

»Marie, noch einmal pressen, dann hast du es geschafft.«

Maries Augen glänzten feucht. Bei der nächsten Wehe glitt das kleine Mädchen mit Luzias Unterstützung ganz heraus. Schnell hob sie das Neugeborene hoch, sodass Marie ihr kleines Wunder sehen konnte.

»Es ist ein wunderschönes Mädchen!«, sagte Luzia triumphierend, dabei konnte sie nicht umhin, einen Blick zur alten Grete zu werfen. Die eilte mit unbewegter Miene zum Bett. Luzia schauderte, denn sie las in ihren Augen, dass es ihr lieber gewesen wäre, wenn das Kleine tot wäre. Ihre Lippen waren zu einer harten Linie verzogen und ihre Augen wirkten kalt. Marie weinte vor Glück und Erschöpfung. Die Weberin und Annelie traten ebenfalls heran, ihre Gesichter strahlten vor Freude. Mit Ausrufen des Entzückens bewunderten sie das Neugeborene.

Gretes sonst so bleiches Gesicht wies hektische rote Flecken auf. Ihre Fassung schwand gerade mit dem letzten Rest Misstrauen, den die Anwesenden gegenüber Luzia gehegt hatten.

Die Muntzin konnte nicht glauben, dass man einer dahergelaufenen Füchsin mehr Glauben schenkte als ihr. Warum war diese rote Hexe überhaupt zurückgekommen? Kaum war sie wieder in der Stadt, sprachen alle von ihr, dabei kannten sie dieses Weib doch gar nicht. Die Wollust schien ihr im Gesicht zu stehen. Rothaarig. Rot wie die ewigen Flammen der Hölle. In diese würde Grete sie nun schicken, selbst wenn es das Letzte sein würde, das sie tat.

»Die kleine soll Ignatia Luzia heißen!« Alois Stimme riss die alte Frau aus ihren hasserfüllten Gedanken. Der Kindsvater stand also auch auf der Seite der Füchsin. Und die Weberin nickte übereinstimmend und blickte in das friedliche Gesicht ihrer gesunden Tochter.

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Дата выхода на Литрес:
25 мая 2021
Объем:
454 стр. 7 иллюстраций
ISBN:
9783839268421
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