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Kapitel 8


Charlotte war beunruhigt – seit Hannes vor zwei Tagen Philipp aufgesucht hatte. Die Tatsache, dass der Freund kaum ein privates Wort mit ihr gewechselt hatte und gegangen war, ohne sich von ihr zu verabschieden, ließ nur einen Schluss zu: Es gab Neuigkeiten, die sie auf keinen Fall erfahren sollte. Er war ihr aus dem Weg gegangen, um keine neugierigen Fragen zu provozieren. Da Philipp als Profiler darüber informiert worden war, schien es den Täter unmittelbar zu betreffen. War er womöglich viel gefährlicher als angenommen? Die Ermittlungen könnten Zusammenhänge ergeben haben, die weitere Opfer aus dem gemeinsamen beruflichen Umfeld der beiden Toten befürchten ließen. Das ahnte sie schließlich seit dem zweiten Leichenfund. Von diesem Zeitpunkt an hielt sie es für möglich, dass Annelieses Kontakt zu beiden Männern eine Rolle spielen könnte und sie dadurch in Gefahr war.

Charlotte hätte sich gern mit jemandem darüber ausgetauscht, aber mit wem? Mit Anneliese konnte sie nicht darüber reden, ohne die Freundin zu beunruhigen. Philipp hatte sie gesagt, sie würde sich raushalten. Conrad würde in Panik geraten, wüsste er, in welcher Gefahr seine Liesel eventuell schwebte. Ihre Mitbewohner Elisabeth und Albert konnte sie damit nicht belasten. Die ehemaligen Kollegen im Präsidium kämen ebenso wenig infrage wie die Staatsanwältin. Familie und sonstige Freunde überhaupt nicht. Ihr fiel nur eine Person ein, die außerdem verschwiegen war.

Ihren Mitbewohnern sagte Charlotte, sie hätte etwas zu erledigen und würde zum Mittagessen nicht zu Hause sein. Das war zwar ungewöhnlich, aber weder Philipp noch die anderen stellten Fragen. Ihre Wohngemeinschaft funktionierte unter anderem deshalb so gut, weil sie nicht ständig beieinander hockten, sondern gegenseitig ihre Freiräume respektierten.

Sie betrat das Institut für Rechtsmedizin nicht zum ersten Mal. Dennoch verspürte sie wie bei den wenigen vorherigen Besuchen ein beklemmendes Gefühl. Neben DNA-Analysen, toxikologischen Untersuchungen oder der Begutachtung von Missbrauchsopfern wurden hier durch Gewaltverbrechen zu Tode Gekommene obduziert.

Im Eingangsbereich roch es nach Desinfektionsmitteln. Von einer jungen Ärztin erfuhr Charlotte, in welchem der vier Obduktionssäle sie den Freund finden würde.

Sie ging ein Stück über den Flur. Langsam, bedächtig setzte sie einen Fuß vor den anderen, als könnte ein Geräusch ihrer Absätze die Ruhe der Toten stören. Vor einer breiten Edelstahltür blieb sie stehen und drückte auf den Öffnungsschalter. Mit leisem Summen glitt die glänzende Schiebetür zur Seite. Die Besucherin wurde im Vorraum der Obduktionssäle von kühler Luft und einem aufdringlich süßlichen Geruch empfangen. An den weiß gefliesten Wänden standen auf einer Seite Metallregale, auf der anderen befanden sich Kühlfächer, in denen die Leichen da­rauf warteten, dass ein Rechtsmediziner ihre Todesursache ans Licht brächte. Ein Mann im OP-Kittel kam mit einem Gefäß herein, das mit einem grünen Tuch abgedeckt war. Charlotte bat ihn, Dr. Fleischmann zu sagen, dass sie ihn sprechen wollte. Danach verließ sie fluchtartig den Vorraum, um im Flur zu warten.

Nach der Autopsie riss der Rechtsmediziner die dünne, mit Blutspritzern übersäte Einwegschürze herunter und streifte die schnittfesten Handschuhe ab. Er wusch sich gerade die Hände, als sein Kollege zu ihm ans Waschbecken trat.

»Draußen wartet eine Frau auf dich.«

Horst deutete zum Obduktionstisch, auf dem eine männliche Leiche lag.

»Eine Angehörige?«

»Eher nicht.«

»Hat sie nicht gesagt, wie sie heißt?«

»Ich habe ihren Namen nicht richtig verstanden. Ist wohl privat.«

Der Rechtsmediziner runzelte die Stirn.

»Das kann nicht sein. Wie sieht sie denn aus?«

»Groß, blond, sehr attraktiv. Himmlisch, würde ich sagen – und ein bisschen blass um die Nase.«

Der Gesichtsausdruck von Horst Fleischmann wechselte von ungläubig zu erfreut. Es gab nur eine Frau in seinem Freundeskreis, auf die diese Beschreibung zutraf – und zu der aufgrund ihres Nachnamens die Bezeichnung »himmlisch« passte. Er versetzte dem Jüngeren einen leichten Schlag vor die Brust. Offenbar hatte der Kollege ihn an der Nase herumgeführt.

»Du hast den Namen dieser Dame genau verstanden.«

»Du kennst sie also. Lass sie nicht warten, sonst verschwindet sie vielleicht wie eine Sternschnuppe am Horizont.«

Mit Papiertüchern trocknete Horst nachdenklich seine Hände. Charlotte kam selten ins Institut – obwohl sie sich länger kannten als die Freunde im Präsidium. Er erinnerte sich genau an ihre erste Begegnung. Damals hatte er knapp die Hälfte seines derzeitigen Gewichts auf die Waage gebracht und über volles Haupthaar verfügt. Charlottes Mann war ein befreundeter Kollege, mit dem er zusammen im Vinzenzkrankenhaus gearbeitet hatte. Maximilian Stern hatte ihn irgendwann einmal zum traditionellen Tiergartenfest eingeladen, das er mit seiner Familie jedes Jahr am zweiten Samstag im Oktober besuchte. Dieses Fest war ein Dankeschön für die vielen Eicheln und Kastanien, die Kinder für die Tiergartenbewohner sammelten. Sie bekamen dafür eine Baumscheibe als Eintrittskarte. Horst hatte das Bild vor Augen, wie Charlotte damals auf ihn zukam: an jeder Hand ein Kind und ein fröhliches Lächeln im Gesicht. Diese Mischung aus Wärme, Intelligenz und Humor hatte ihn sofort fasziniert. Sie besaß eine Ausstrahlung, der er sich nicht entziehen konnte. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er sich Hals über Kopf verliebt. Gleichzeitig wurde ihm die Aussichtslosigkeit dieser Empfindungen klar. Man musste Charlotte nur mit ihrem Mann zusammen sehen, um zu wissen, dass jeder Versuch, sie für sich zu gewinnen, zum Scheitern verurteilt war. Maximilians Tod vor etwa drei Jahren hatte nichts daran geändert. Horst liebte Charlotte seit jeher in der Stille. Dieses Gefühl war für ihn so selbstverständlich geworden wie das Atmen. Die Baumscheibe, die ihre kleine Tochter für das Sammeln der Herbstfrüchte erhalten und ihm geschenkt hatte, besaß er immer noch.

Der Rechtsmediziner streifte einen weißen Arztkittel über, bevor er auf den Flur trat.

Charlotte hörte das leise Quietschen seiner Gummisohlen und wandte sich schuldbewusst vom Fenster um.

»Entschuldige den Überfall. Ich hätte vorher anrufen sollen.«

»Kein Problem.« Forschend musterte er sie. »Du kommst nicht oft hierher, Charlotte.« Er war der Einzige aus dem Kreis, der sie selten Charly nannte. »Was ist passiert?«

»Nichts – jedenfalls bislang. Das ist etwas kompliziert. Darf ich dich zum Mittagessen einladen? Oder kannst du hier nicht weg?«

»Gib mir ein paar Minuten zum Umziehen.«

Sie legte kurz die Hand auf seinen Arm.

»Danke, Horst. Ich warte draußen.«

Verständnisvoll schaute er ihr nach. Niemand kam wirklich gern ins Rechtsmedizinische Institut. Für ihn gehörte der Geruch des Todes längst zu seinem Alltag. Besucher taten sich schwer damit.

Bald darauf saßen sie in Charlottes schwarzem Golf. Da Horst erst am Nachmittag den nächsten Termin hatte, konnten sie sich Zeit lassen. Deshalb fuhren sie zu einem von Charlottes Lieblingsrestaurants, dem idyllisch am Maschsee gelegenen Pier 51.

Sie nahmen an einem freien Fenstertisch Platz und bestellten beide ein Fischgericht. Charlotte entschied sich für Strozzapreti mit Champignon-Lauchsauce und geräucherter Forelle, Horst wählte das Schwertfischsteak mit Knoblauch und Kräutern. Als sie die Vorspeise – Blumenkohl-Currysuppe mit Hähnchenstreifen – genossen hatten und auf das Hauptgericht warteten, schaute der Rechtsmediziner sein Gegenüber erwartungsvoll an.

»Nun erzähl mal, was du auf dem Herzen hast.«

»Es geht um den Toten aus dem Georgengarten und um den aus der Aegidienkirche …«, begann sie, wurde aber sofort von ihm unterbrochen.

»Drüber kann und will ich nicht mit dir sprechen.«

»Ich weiß, Frau Dr. Pauli hat euch zum Schweigen verdonnert.«

»Bei aller Liebe, erwartest du etwa, dass ich mich darüber hinwegsetze?«

»Selbstverständlich nicht.« Sie berichtete zunächst, was sie über den Fall mitbekommen hatte. Horst hörte ihr mit unverkennbar wachsendem Erstaunen zu.

»Woher hast du diese ganzen Infos? Von uns weißt du nur, was am Stammtisch geredet wurde. Philipp hat dir garantiert nichts erzählt – und von dem Brief wird dir erst recht keiner was gesagt haben.«

»Das meiste habe ich mir nach meinen eigenen Wahrnehmungen zusammengereimt – dazu ein bisschen Logik und Intuition.«

»Wie machst du das bloß?«, fragte er sichtlich beeindruckt. »Man könnte meinen, dass du zum Ermittlungsteam gehörst. Allerdings weiß ich nicht, wie ich dir helfen kann.«

»Ich brauche deinen Rat. Es geht um Anneliese. Sie hatte nicht nur beruflich mit beiden Opfern zu tun. Mit Rugard war sie sogar eine Zeit lang liiert. Hältst du es für möglich, dass sie in Gefahr ist?«

»Nur weil sie die beiden kannte? Die hatten mit zahlreichen anderen Personen Kontakt – beruflich wie privat.«

»Und wenn mehrere davon sowohl untereinander als auch mit einem einzigen ehemaligen Heimbewohner in Verbindung stehen?«

»Ist das nicht ein bisschen zu weit hergeholt?«

Hilflos zuckte Charlotte die Schultern.

»Ich habe über viele Möglichkeiten nachgedacht. Es könnte sein, dass sie alle irgendwie an der Heimunterbringung eines Kindes beteiligt waren. Vielleicht wurde es aus irgendwelchen Gründen aus der Familie genommen, hat sehr darunter gelitten und will sich im Erwachsenenalter dafür rächen.«

»Das kann ich mir nicht vorstellen. Beide Opfer waren bereits einige Jahre im Ruhestand. Soviel ich weiß, haben sie seitdem ehrenamtlich für das Diakonische Werk gearbeitet, auch in der Obdachlosenhilfe oder mit psychisch Kranken. Vielleicht sind sie dort jemandem auf die Füße getreten.«

»Mmm.« Sollte der Täter aus diesem Bereich stammen, war ihre Angst um Anneliese unbegründet. Nachdenklich ließ sie den Blick aus dem Fenster über das Wasser schweifen. Der See lag völlig ruhig. Einige Schwäne und Enten dümpelten in Ufernähe. »Du hast vorhin einen Brief erwähnt. Was ist damit?«

»Ach, das war nichts Wichtiges. Das habe ich nur am Rande mitbekommen.«

Charlotte glaubte ihm kein Wort. Sie wollte ihn aber nicht in einen Konflikt bringen.

»Nach deiner Meinung ist es also Zufall, dass Anneliese die beiden Toten kannte.«

Nachdrücklich nickte der Rechtsmediziner.

»Mach dir nicht immer so viele Sorgen. Deine Freundin hat sicher nichts zu befürchten.«

Während des Essens zerstreute er Charlottes letzte Bedenken.

Später brachte sie den Freund zum Institut zurück. Auf dem Heimweg dachte sie über das Gespräch mit Horst nach. Es hatte ihr gutgetan – und sie beruhigt. Wahrscheinlich neigte sie dazu, Gespenster zu sehen.

Als sie heimkam, war es still im Haus. Einige ihrer Mitbewohner zogen sich nach dem Mittagessen gern in ihre Räume zurück, um ein wenig zu ruhen. Philipp zählte nicht dazu. Ihr war klar, wo sie ihn suchen musste. Da das Profil des Doppelmörders so schnell wie möglich gebraucht würde, vermutete sie den Professor in seinem Arbeitszimmer. Sie durchquerte den Wohnraum und steuerte auf die offen stehende Verbindungstür zu. Als sie näher kam, hörte sie Philipps Stimme. Offenbar telefonierte er. Um nicht zu stören, wandte sich Charlotte ab. Im gleichen Moment schnappte sie Wortfetzen auf:

»Killer … verdammt gefährlich …«

Abrupt blieb sie stehen. Einen Moment lang war nur Papierrascheln zu hören.

»Ich kann Ihnen nur raten, den Mann unter Polizeischutz zu stellen«, ertönte Philipps eindringliche Stimme. »Der ›Regisseur‹ hat ihm praktisch einen Auftrag erteilt, den er nicht erfüllt hat. Darüber wird er sehr wütend sein. Es ist nicht auszuschließen, dass er sich dafür rächen will.«

Unbemerkt und sehr nachdenklich verließ Charlotte den Raum.

Kapitel 9


Normalerweise war Hannes wach, bevor ihn das Klingeln des Weckers aus dem Schaf reißen konnte. An diesem Morgen war es anders. Er war erst weit nach Mitternacht ins Bett gekommen und hatte das gegen Morgen einsetzende penetrante Gepiepe im Halbschlaf durch einen gezielten Schlag zum Schweigen gebracht, bevor sein Bewusstsein abermals abgetaucht war. Etwa zwei Stunden später vernahm er aus weiter Ferne das Brummen seines stummgeschalteten Smartphones. Schlaftrunken tastete er danach und bewahrte das dicht an der Nachttischkante zappelnde Gerät im letzten Moment vor dem Absturz. Hannes schlug die Augen auf, wischte über das Display und führte das Handy ans Ohr.

»Was?«

»Ich bin es«, vernahm er Pias Stimme. »Wir haben eine Leiche.«

Leise stöhnend drehte er sich von der Bauch- in die Rückenlage.

»Schon wieder? Wo?«

»Vorm Anzeiger-Hochhaus, im Eingangsbereich.«

»Sind die Kollegen informiert?«

»Noch nicht, die Nachricht kam eben erst rein.«

»Alles klar. Wir treffen uns dort. Ich beeile mich.«

Nach einem kurzen Abstecher ins Bad stieg er in seine Klamotten und verließ mit leerem Magen das Haus. Nach kurzem Zögern setzte er sich in Bewegung. In der letzten Nacht war er minutenlang im Flussviertel herumgekurvt, bis er einen Parkplatz in einer Nebenstraße gefunden hatte. Nun musste er mehrere Hundert Meter bis dorthin laufen. Dabei überlegte er, dass es sich eigentlich nicht um einen Mord des ›Regisseurs‹ handeln konnte, der seine Leichen beide Male in der Nacht von Freitag auf Samstag an einem besonderen Platz der Stadt abgelegt hatte. Wenn der Täter seine Vorgehensweise nicht geändert hatte, müssten sie es an diesem Montagmorgen mit einem anderen Mörder zu tun haben.

Hannes setzte sich hinters Steuer, griff nach dem Magnetblaulicht und schob es durchs Seitenfenster aufs Fahrzeugdach.

Zügig fuhr er Richtung Innenstadt. Über Friedrichswall, Leibnizufer und Goethestraße erreichte er die Goseriede. Uniformierte Beamte waren dabei, das Gelände weiträumig von der Sparkasse bis zur Kestner-Gesellschaft abzusperren. Die Taxen auf dem Halteplatz vor dem Anzeiger-Hochhaus mussten den Einsatzfahrzeugen weichen.

Der Hauptkommissar stieg aus und schaute an der rotbraunen Klinkerfassade des Gebäudes hinauf. Die grüne, erst 2019 restaurierte Kupferkuppel ließ sich von seinem Standort aus nur erahnen. ›Hannoversche Allgemeine Zeitung‹ stand in großen goldenen Lettern über der ersten Fensterreihe.

»Backsteinexpressionismus«, sagte Pia, die neben ihm stehenblieb und ihm einen Becher Kaffee reichte. »Das war mal das erste Hochhaus der Stadt.«

»Danke.« Vorsichtig nahm er einen Schluck von dem heißen Getränk, bevor er sich umsah.

In der mittleren der breiten Eingangsnischen des Bauwerks herrschte emsiges Treiben. Zwischen abgestellten Fahrrädern und spurensuchenden Kriminaltechnikern führte Horst die erste Leichenschau durch. Hannes wollte einen Blick auf den Toten werfen, aber der Rechtsmediziner verdeckte ihn durch seine massige Gestalt.

»Weißt du Näheres?«

Mit ernster Miene trat Pia dicht vor ihn hin.

»Das wird dir nicht gefallen.« Sie zog ihr Handy aus der Tasche. »Als die Meldung reinkam, dachte die Besatzung des Streifenwagens zuerst, ein Obdachloser würde hier seinen Rausch ausschlafen.« Sie zeigte ihm das Foto des Toten, das sie vor Eintreffen der Kollegen aufgenommen hatte.

»Scheiße!« Verärgert blickte er sie an. »Ich habe seine Überwachung gestern gleich nach dem Anruf des Professors veranlasst. Irgendwas muss da schiefgelaufen sein.«

»Die beiden Kollegen stehen seit gestern Abend gegen 19.00 Uhr vor seiner Bruchbude. Sie sagten, seitdem sei niemand raus- oder reingegangen.«

»Demnach war er zu dem Zeitpunkt nicht mehr daheim. Möglicherweise hat der ›Regisseur‹ ihn beobachtet. Er hat BP im Präsidium verschwinden sehen und ihn später aus dem Haus gelockt.« Er dachte einen Augenblick nach. »Wenn Martin kommt, soll er gleich mit einem Team der Spusi hinfahren. Wenn wir Glück haben, finden sie in seiner Wohnung Fingerabdrücke oder andere Spuren.«

Pia entfernte sich ein paar Schritte und rief den Kollegen an. Unterdessen sah Hannes, dass der Rechtsmediziner seinen Aluminiumkoffer schloss. Anscheinend war er mit der ersten Begutachtung fertig. Der Hauptkommissar trat zu ihm und konnte dadurch den Toten sehen. Er wandte sich aber schnell ab. Der Anblick einer Leiche war für ihn nicht mehr so schrecklich wie in seiner Anfangszeit bei der Mordkommission. Wenn es sich bei dem Toten jedoch um jemanden handelte, den er kannte, setzte ihm das fast genauso zu wie bei einer Kinderleiche.

»Moin, Horst. Kannst du was zur Todesursache sagen?«

»Er wurde erschlagen. Ich tippe auf einen Baseballschläger. Nach den Verletzungen zu urteilen, war dabei große Wut im Spiel.«

»Todeszeitpunkt?«

»Ungefähr vor zehn bis zwölf Stunden. Fundort ist nicht der Tatort.« Er wischte sich mit dem Ärmel des dünnen weißen Overalls über die Stirn. »Sonst alles wie gehabt.«

»Sicher?«, fragte Hannes, obwohl er nicht daran zweifelte.

»Unter seinem Arm klemmte die Morgenausgabe der HAZ. Und in seiner Jackentasche steckte eine kleine Sanduhr. Der Kollege von der Technik hat die Sachen eingetütet.«

Er winkte die beiden Männer mit der Zinkwanne heran, die den Toten ins Rechtsmedizinische Institut überführen würden.

Wie gewohnt saßen die WG-Bewohner nachmittags in der Küche bei Kaffee und Kuchen zusammen. Elisabeths Backkünsten waren die leckeren Brombeer-Birnenschnitten zu verdanken. Von Montag bis Freitag probierte sie neue Kuchenrezepte aus. Was übrig blieb, wurde fürs Wochenende eingefroren.

Anneliese stand neben dem General und schenkte Kaffee für ihn ein, während die Radionachrichten liefen.

»… wurde heute Morgen in der Innenstadt von Hannover eine Leiche gefunden.«

Die Strick-Liesel zog die Hand mit der Kanne zurück, obwohl die Tasse erst zu einem Viertel gefüllt war.

Als Albert protestieren wollte, schnitt sie ihm durch eine Geste das Wort ab.

»Psst!«

»… aus zuverlässiger Quelle erfahren haben, handelt es sich bei dem Toten um einen Reporter.«

Zur Verwunderung aller sprang Philipp auf.

»Das darf nicht wahr sein!«

Auf dem Weg hinaus fischte er sein Handy aus der Jackentasche. In der Wohnhalle rief er den Hauptkommissar an.

»Wie konnte das passieren?«, fragte er, ohne sich mit einer Begrüßung aufzuhalten. »Glauben Sie, ich habe Sie zu meinem Vergnügen gewarnt, bevor das Profil fertig war? Warum haben Sie ihm nicht ein paar Aufpasser geschickt oder ihn in Schutzhaft genommen? Dadurch wäre …«

»Halten Sie mal die Luft an, Professor«, fiel Hannes ihm ins Wort. »Wir haben ihm sofort zwei Mann vor die Tür gestellt. Offenbar war er zu dem Zeitpunkt aber nicht mehr zu Hause.«

»Tut mir leid«, entschuldigte sich Philipp sofort. »Wurde er aus seiner Wohnung entführt?«

»Wahrscheinlich nicht. Jedenfalls gab es dort keine Kampfspuren. Unsere Spezialisten überprüfen seine Telefonverbindungen und seinen Mailverkehr auf einen Kontakt, den wir vielleicht dem ›Regisseur‹ zuordnen können.«

»Halten Sie mich auf dem Laufenden?«

»Geht klar.«

»Danke. – Und nichts für ungut.«

Auf dem Weg zurück in die Küche steckte er das Handy ein. Seine Mitbewohner, die einen Teil des Gesprächs mitgehört hatten, blickten ihn erwartungsvoll an. Philipp setzte sich jedoch wortlos und griff nach der Kuchengabel.

»Nun sag schon«, forderte Anneliese ihn auf. »Wer ist der Tote?«

»Das tut nichts zur Sache.«

»Hat er was mit den anderen beiden Toten zu tun?«

»Das kann ich dir nicht beantworten.«

Unterdessen versuchte Albert, auf sich aufmerksam zu machen, indem er die Hand hob.

»Kann ich bitte noch etwas Kaffee …«

Anneliese brachte ihn durch einen Blick zum Schweigen.

»Ich muss es wissen, Philipp.«

Er blieb stumm – mehr aus Verwunderung darüber, dass sich Charlotte völlig heraushielt.

»Morgen steht es sowieso in der Zeitung. Also kannst du es mir jetzt sagen.«

Während Philipp mit sich rang, schielte der General nach der Warmhaltekanne, die Anneliese zwar abgestellt hatte, aber festhielt. Charlotte zog behutsam daran, worauf die Freundin sie losließ, ohne Philipp dabei aus den Augen zu lassen. Albert atmete hörbar auf und lehnte sich in seinem Rolli zurück, als Charlotte seine Tasse füllte. Ein dankbarer Blick belohnte sie.

Der Professor sah sich weiterhin forschenden Blicken ausgesetzt. Er nippte an seinem Kaffee, bevor er die Strick-Liesel aus ernsten Augen ansah.

»Der Tote von heute hatte nichts mit den beiden anderen Leichen gemeinsam.«

»Woher weißt du das?«

»Ich habe mit Herrn Bremer gesprochen.«

»Weil der Tote irgendwas mit deinem Profil zu tun hat«, schob sie nach. »Also gibt es eine Verbindung zu den ermordeten Männern.« Mit einem Seufzer setzte sie sich. »Halte mich bitte nicht für blöd, Philipp. Ich habe zwar nicht Charlottes kriminalistisches Talent, aber logisch denken kann ich. Du warst aufgebracht, weil es trotz deiner Warnung – wovor auch immer – einen weiteren Toten gab.«

Er wechselte einen Blick mit Charlotte, sah, dass sie nicht nur amüsiert war, sondern gespannt schien, wie er sich aus der Affäre ziehen würde.

»Also gut«, sagte er schließlich. »Der Killer hat den Reporter sozusagen beauftragt, über das Versagen der Opfer zu recherchieren und die Ergebnisse zu veröffentlichen. Außerdem sollte er in seinem Artikel die Genialität des Täters hervorheben.«

»Des ›Regisseurs‹, oder?«, vermutete Charlotte, worauf er die Stirn runzelte.

»Woher hast du diesen Namen?«

»Den habe ich irgendwo aufgeschnappt.« Blitzschnell kombinierte sie. »Er hat dem Reporter einen Brief mit Anweisungen geschrieben. – Oder?«

Fassungslos lehnte sich Philipp zurück.

»Ich kapituliere. Vor euch kann man anscheinend nichts verbergen.«

Gespannt blickte Anneliese ihn an.

»Bitte sag uns, wie der Reporter hieß.«

»Bartholomäus Plaschke.«

»BP?«

Zum ersten Mal schaltete sich nun Conrad in das Gespräch ein.

»Du kanntest den Mann?«

»Wir hatten ja nicht nur auffällig gewordene Kinder bei uns«, erklärte seine Lebensgefährtin. »Vor langer Zeit gab es mal einen Missbrauchsfall. Ein Vater hatte seine Tochter über Jahre misshandelt und sexuell missbraucht. Die Kleine kam übergangsweise zu uns auf den Sonnenhof. BP ist auf der Jagd nach Infos dauernd auf dem Gelände rumgeschlichen. Schließlich habe ich ihn durch die Polizei entfernen lassen und ihn wegen Hausfriedensbruchs angezeigt.«

»So was sieht ihm ähnlich«, fügte Charlotte hinzu. »Man soll ja über Tote nichts Schlechtes sagen, aber ich habe öfter von seinem rücksichtslosen Vorgehen gehört, wenn er eine gute Story witterte. Er ist den Kollegen nicht nur einmal in die Quere gekommen.«

»Das war kein besonders sympathischer Typ.« Anneliese schüttelte sich. »Mit seinen kleinen Augen, den fettigen Haaren und dem dünnen Zopf hat er mich immer an Hop Sing, den chinesischen Koch der Cartwrights, erinnert.«

»Aus ›Bonanza‹«, fügte Conrad verstehend hinzu. »Es ist ewig her, dass die Jungs durch den Wilden Westen geritten sind.«

»Diese ganze Geschichte gefällt mir nicht«, fasste Elisabeth ihre Befürchtungen zusammen. »Einer von euch hat immer mit Mord und Totschlag zu tun. Normal ist das nicht für Leute, die im Lehnstuhl ihren Ruhestand genießen sollten.«

»Das machen wir, wenn wir alt sind«, erklärte Anneliese trocken. »Mir wäre es allerdings auch lieber, wenn ich mit den Toten nichts zu tun gehabt hätte. Es ist schlimm, wenn Menschen, die man kannte, sterben. Wenn sie aber alle ermordet wurden, ist das echt ätzend.«

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Дата выхода на Литрес:
22 декабря 2023
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354 стр. 57 иллюстраций
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9783839270028
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