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Kapitel 3,5


Nichts! Diese Dummköpfe hatten genug Zeit, die Unfähigkeit dieses Psychologen ans Licht zu zerren. Ich wollte, dass die ganze Stadt nach seinem Tod davon erfährt. Aber nichts passiert. Zwei mickrige Artikel in der Zeitung. Kein Wort über die Gegenstände, die ich so sorgfältig ausgesucht habe. Nur vage Angaben über die Verletzungen. Warum erkennen sie meine Kreativität nicht an? Die Polizei hält sich absichtlich bedeckt. Diese Idioten verheimlichen der Öffentlichkeit wichtige Fakten, weil sie wissen, dass es noch nicht vorbei ist. Sie wollen keine Angst schüren, aber die Menschen sollen Angst vor mir haben. Beim nächsten oder übernächsten Toten werden einige Leute ahnen, dass sie ebenfalls auf meiner Liste stehen. Sie werden sich irgendwo verkriechen, aber ich finde sie. Alle. Mir entkommt niemand. Sie werden bitter bereuen, was sie mir angetan haben. Sie haben mein Leben zerstört. Ich muss sie dafür bestrafen, hart bestrafen. Am eigenen Leib sollen sie spüren, was es bedeutet, wenn es keinen Ausweg gibt. Wenn niemand da ist, der ihnen hilft. Sie haben sich das selbst eingebrockt. Auch wenn inzwischen Jahre vergangen sind. Wahrscheinlich haben sie es längst vergessen. Aber ich werde sie daran erinnern, ihnen vor Augen führen, dass ihr Handeln für mich so etwas wie ein Todesurteil bedeutete. Ich will, dass sie ihre Fehler einsehen. Sie sollen zugeben, dass sie versagt haben. Sollten sie sich herausreden, ist es nur gerecht, dass sie sterben müssen – und vorher genauso leiden, wie ich gelitten habe. Endlich kann ich tun, was ich mir seit Jahren ausgemalt habe. Ihre Uhr ist abgelaufen …

Kapitel 4


An diesem Samstag läutete Hauptkommissar Bremers Handy eine Stunde später als in der Vorwoche. Schlaftrunken tastete er nach dem Telefon.

»Wer wagt es?«

»Moin, Hannes«, vernahm er die Stimme seiner Kollegin, die bereits morgens um sieben frisch und munter klang. »Wir haben eine Leiche.«

Sofort war er hellwach.

»Wo?«

»In der Aegidienkirche.«

»Weiß Horst Bescheid – und die Spusi?«

»Sind alle unterwegs. Die Staatsanwältin habe ich eben informiert.«

Mit einer Hand schlug Bremer die Decke zurück und schwang die Beine aus dem Bett.

»Okay, ich komme.«

Barfuß lief er ins Bad. Nach kurzer Morgentoilette zog er sich an und verließ ohne Frühstück das Haus. In seinem Beruf kam das häufiger vor – genau wie die Tatsache, dass er selten pünktlich Feierabend machen konnte. An seinen unregelmäßigen Dienstzeiten scheiterten regelmäßig seine Beziehungen.

Auf dem Weg von Döhren in die City kramte er in seinem Gedächtnis nach Informationen über den Fundort der Leiche. Er war kein waschechter Hannoveraner, kam ursprünglich aus Celle. Erst nach der Ausbildung hatte es ihn in die Leinemetropole verschlagen, aber das war immerhin knapp 30 Jahre her. Er wusste dennoch nicht viel mehr, als dass die alte Kirche in der Innenstadt stand und kein Dach hatte.

Er bog vom Friedrichswall nach rechts in die Osterstraße ein, worauf sich die Ruine in sein Blickfeld schob. Uniformierte Beamte waren damit beschäftigt, das Gelände um die Kirche herum abzusperren.

Pia stand an der Straßenecke, sah seinen Wagen und gab Hannes Zeichen, links über die Breite Straße auf den Aegidienkirchhof zu fahren. Dort standen mehrere Autos der Spurensicherung. Als der Hauptkommissar aus dem Fahrzeug stieg, kam seine Kollegin von der anderen Seite herbei. Sie öffnete die Beifahrertür ihres Dienstwagens und holte einen roten Hannoccino-Becher heraus.

»Moin«, begrüßte sie ihren Chef und reichte ihm den Kaffee. Sie wusste, dass Hannes erst einmal eine Ladung Koffein brauchte.

»Danke.« Er schaute sich kurz um. »Wo ist der Eingang?«

Mit dem Kopf deutete sie nach rechts und führte ihn an die zur Breite Straße gelegene Seite der Kirche. Die Gittertür der ersten Spitzbogenpforte war verschlossen. Bei der zweiten war das Metalltor weit geöffnet. Hannes trat in den dachlosen Kirchenraum, blieb stehen und ließ die Szenerie auf sich wirken. Das Innere der Ruine mit seinen charakteristischen dreieckigen Seitengiebeln wurde durch Scheinwerfer bis in den letzten Winkel ausgeleuchtet. Die in Schutzanzüge gekleideten Leute von der Kriminaltechnik sicherten Spuren.

Vor dem Chor war eine große Bodenplatte mittig zum Altar eingefügt. ›Unseren Toten‹, war darin in großen Buchstaben eingemeißelt. Auf dem steinernen Altar befand sich die männliche Leiche. Der Tote lag lang ausgestreckt auf dem Rücken, die Hände wie zum Gebet gefaltet.

Der beleibte Rechtsmediziner Horst Fleischmann begann gerade mit der Leichenschau. Hannes wusste, dass der Freund dabei nicht gestört werden wollte, und blickte sich weiter um. Er sah die weißen gezackten Linien auf den Steinplatten des Kirchenbodens und runzelte die Stirn.

»Das ist die Schattenlinie der Südseite der Ruine. Sie soll an Leben und Tod an diesem besonderen Ort erinnern.«

»Wie passend«, brummte Hannes. Er wunderte sich über die prompte Erklärung, da Pia aus Lübeck stammte. »Woher weißt du das?«

»Als ich damals nach Hannover versetzt wurde, habe ich eine Stadtführung mitgemacht. War interessant. Außerdem habe ich viel über die Stadt gelesen, in der ich lebe. In unserem Beruf kann es nie schaden, gut informiert zu sein.« Schelmisch blinzelte sie ihm zu. »Vorsichtshalber habe ich die Kirche aber vorhin gegoogelt.«

Eine Führung durch Hannover mitzumachen, hatte er sich oft vorgenommen, aber ihm fehlte die Zeit. Seine Augen schweiften zum Turm, der mit herbstlich rot gefärbtem wildem Wein bewachsen war. Ein schöner Anblick, zu dem der Leichenfund nicht so recht passte.

»Wer hat den Toten entdeckt?«

»Männer von der Straßenreinigung. Die werfen morgens immer einen Blick in die Ruine, weil es vorkommt, dass hier Trinker ihre Bierdosen entsorgen. Martin befragt sie gerade draußen auf der anderen Straßenseite.«

Hannes setzte sich in Bewegung, um die links neben dem Altarraum angebrachte Wandtafel näher zu betrachten. Er las, wie viele Todesopfer Krieg und Katastrophen unter den Einwohnern der Stadt gefordert hatten. Über Mordopfer aus jüngerer Zeit stand nichts auf der Gedenktafel.

»Hier hat während meiner ganzen Laufbahn keine Leiche gelegen«, sprach ihn Benno Winkler, der Leiter der Kriminaltechnik, an. »Der Fundort ist allerdings nicht der Tatort.«

Der Hauptkommissar wandte sich um und zählte insgesamt fünf Eingänge mit Gittertüren: an jeder Längsseite zwei und einen direkt in der Mitte des Kirchturms.

»Kann man hier rund um die Uhr überall rein?«

»Nur durch dieses«, Benno wies nach rechts, »und das Tor gegenüber. Die anderen sind permanent verschlossen und durch Vorhängeschlösser gesichert.«

»Also kann der Täter das Opfer nur über den Eingang Breite Straße oder über die Osterstraße hier reingebracht haben. Dabei hat er in Kauf genommen, dass man ihn beobachtet. Warum hat er das riskiert?«

»Nachts ist hier nicht viel Verkehr.«

»Aber von Freitag auf Samstag sind mehr Nachtschwärmer unterwegs als unter der Woche.«

Er ließ den Kollegen stehen, als der Rechtsmediziner mit der ersten Leichenschau fertig war. Mit wenigen Schritten war er bei ihm, wartete jedoch, bis Pia hinzukam.

»Schieß los, Horst.«

»Männliche Leiche, Todesursache unklar.«

»Ist das alles?«

»Er war 72 Jahre alt, Pastor im Ruhestand und …« Er unterbrach sich, als erstaunte Blicke ihn trafen. »Verblüffe ich euch? Ich habe sogar einen Namen: Berthold Rugard. Diesmal hat der Mörder seinem Opfer die Brieftasche gelassen. Wahrscheinlich hat ihm die Identifizierung beim letzten Mal zu lange gedauert.«

»Wenn du davon ausgehst, dass es der gleiche Täter wie bei der Leiche aus dem Georgengarten war, hast du noch was für uns.« Fordernd streckte Pia die Hand aus. »Gib her.«

Ein Klarsichtbeutel wechselte den Besitzer. Die Kommissarin hielt das Tütchen etwas von sich, damit Hannes das kleine, zerbrochene Holzkreuz ebenfalls sehen konnte.

»Der Tote hatte die Teile in den gefalteten Händen«, kommentierte Horst und reichte einen zweiten Beweismittelbeutel weiter. »Die Sanduhr steckte in der Jackentasche. Ein Handy hatte er nicht bei sich. – Alles wie gehabt. Vermutlich werde ich bei der Obduktion auf ähnliche Verletzungen wie bei Flachsbarth stoßen.«

»Verdammt, ich habe es geahnt!«, stieß Hannes hervor. »Wir haben es mit einem Serienkiller zu tun.« Sein Blick suchte den des schwergewichtigen Rechtsmediziners. »Schick uns deinen Bericht so schnell wie möglich.« Ohne eine Antwort abzuwarten, wandte er sich an Pia. »Koordinierst du die Befragung der Anwohner? Ich fahre zur Staatsanwaltschaft. Wir brauchen dringend mehr Leute.«

Da die Staatsanwältin unterrichtet war, würde er sie in ihrem Büro antreffen.

Die Strecke von der Aegidienkirche über den Schiffgraben bis zum Amtssitz im Volgersweg legte er in sieben Minuten zurück. Um diese frühe Stunde herrschte ein geringes Verkehrsaufkommen.

Ohne den großen roten Skulpturen vor dem Haupteingang einen Blick zu schenken, eilte der Hauptkommissar daran vorbei und betrat das Gebäude. Im Lift fuhr er in die 5. Etage. Die Tür zum Arbeitszimmer von Frau Dr. Pauli stand weit offen.

»Kommen Sie rein, Herr Bremer«, sagte sie, als er an der Schwelle zögerte, und winkte ihn heran. »Setzen Sie sich hin – und mich in Kenntnis.«

Er kannte ihre Vorliebe für Wortspielereien, kommentierte sie aber nicht.

»Es ist, wie ich befürchtet habe«, sagte er und nahm auf dem bequemen Lederstuhl vor ihrem Schreibtisch Platz. »Wir können den Toten in der Aegidienkirche dem gleichen Täter zuordnen wie die Leiche aus dem Georgengarten.«

»Woraus schließen Sie das?«

Er berichtete von der Auffindsituation und den bei dem Toten sichergestellten Gegenständen.

»Diesmal ein Kreuz – und eine Sanduhr«, wiederholte sie nachdenklich. »Warum ein kaputtes Kreuz? Zufall oder Absicht?«

»Das könnte bedeuten, dass der Mörder nicht gläubig ist. Oder der Pastor war in seinen Augen kein würdiger Mann Gottes. Vielleicht ist es unabsichtlich zerbrochen und symbolisiert einfach nur den Beruf des Toten.«

»Haben Sie eine Idee, was uns der Killer mit der Sanduhr sagen will?«

Ratlos zuckte Hannes die Schultern.

»Sie könnte was mit Zeit zu tun haben. Vielleicht das letzte Stündlein, das geschlagen hat.«

»Bringt uns das irgendwie weiter?«

»Erst mal nicht. Wir müssen das Obduktionsergebnis abwarten – und den Bericht der KTU. Möglicherweise ergibt sich daraus ein Hinweis auf den Tatort. Der Mann wurde definitiv nicht in der Ruine umgebracht.«

Sekundenlang dachte die Staatsanwältin nach.

»Wie viele Leute benötigen Sie zur Unterstützung?«

»So viele ich kriegen kann.«

»Ich kümmere mich darum.« Mit ernster Miene musterte sie den Hauptkommissar. »Wir brauchen schnelle Ergebnisse – und einen erstklassigen Profiler.« Ihr Blick wurde eindringlich. »Dafür kommt nur einer infrage.«

Sie musste nicht ins Detail gehen.

»Das gefällt mir nicht.«

»Es gibt keinen besseren.«

»Ich weiß.«

Kapitel 5


Durch gedämpfte Geräusche erwachte Charlotte. Sie war am Vorabend mit Philipp, seiner Schwester Sophia und seinem Schwager Axel Martens auf einer Vernissage im SofaLoft gewesen. Anschließend hatten sie in ihrem Lieblingsclub, dem Musikladen, ein Glas Wein getrunken. Dadurch war es spät geworden.

Widerstrebend schlug Charlotte die Augen auf. Trotz geschlossener Jalousien fiel vom Flur her genug Licht in den Raum, um zu sehen, dass Philipp, ihr den Rücken zugewandt, an einer Kommode hantierte.

»Was machst du denn da mitten in der Nacht?«

Er drehte sich herum und setzte sich auf die Bettkante.

»Entschuldige, ich wollte dich nicht wecken.«

»Wie spät ist es denn?«

»Gleich acht.«

»Egal«, entschied sie und hob die Decke etwas an. »Heute ist Sonntag. Komm wieder ins Bett.«

Rasch zog er den Morgenmantel aus und schlüpfte zu ihr unter die Decke. Wohlig schmiegte sie sich an ihn. Er duftete nach einem herben Duschgel. Hatte er die Morgentoilette bereits hinter sich?

»Warum bist du schon aufgestanden?«

»Ich habe nur was vorbereitet.«

»Wofür?«

»Für ein kleines Jubiläum.«

Sie richtete sich etwas auf, stützte den Kopf in die rechte Hand und versuchte, in Philipps Gesicht zu lesen.

»Habe ich etwa einen Termin vergessen?«

Er legte den Arm um Charlottes Schultern und zog sie dicht zu sich heran.

»Vor genau 40 Tagen hat sich mein Leben auf wundervolle Weise verändert.«

»Aha …« Nun wusste sie, was er meinte, tat aber ahnungslos. »Vor etwa sechs Wochen? Da haben wir unsere neue Gemeinschaftskutsche bekommen.«

»Das war tatsächlich ein Highlight«, ging er darauf ein. »Schwer zu toppen, aber du hast es geschafft.«

»Ich? Wie konnte mir denn das gelingen?«

»Du hast mich in dein Bett eingeladen und verführt.«

»Ich dich?«, tat sie entrüstet. »Das habe ich aber ganz anders in Erinnerung.«

»Egal«, wiederholte er mit einem Lächeln in der Stimme. »Wichtig ist das Ergebnis.«

»Es hätte schlimmer kommen können.«

»Du bist ganz schön keck am frühen Morgen.«

»Tja …« Spontan beugte sie sich über ihn und küsste ihn sanft auf die Lippen. »Das hast du nun davon.« Sie schmeckte seinen frischen Atem und strich mit den Fingerspitzen über seine glatt rasierte Wange. »Hast du was vor?«

»Ich dachte, wir frühstücken heute mal im Bett, aber so einen stoppeligen Kerl wollte ich dir nicht zumuten.«

Flink drehte sie sich herum und stand auf.

»Wohin willst du?«

»Nur kurz ins Bad.« Sie wollte sich wenigstens etwas frisch machen und die Zähne putzen.

Wie meistens nach einer Nacht in seinem Bett, hatte sie nur das Oberteil seines Pyjamas an, das ihr knapp bis über die Schenkel reichte. Die passende Hose trug Philipp.

Als sie in sein Schlafzimmer zurückkehrte, sah sie im Licht der Nachttischlampe ein mit Köstlichkeiten beladenes Tablett auf der Matratze. Auf dem Nachtschrank entdeckte sie eine bunte, etwa 30 Zentimeter große Figur. Als Hannoveranerin wusste Charlotte natürlich, dass es sich um die Plastik einer französischen Künstlerin handelte. Am Leibnizufer der Leine bildeten drei dieser Nanas den Grundstein der Skulpturenmeile. Sie waren erst kürzlich gereinigt, poliert und mit einer neuen Hochglanzversiegelung versehen worden, wodurch sie in neuer Pracht erstrahlten.

»Gefällt sie dir, Sternchen?«

»Sehr.«

»Weißt du, wie sie heißt?«

»Mir hat mal jemand erzählt, dass Niki de Saint Phalle sie nach der von Goethe verehrten Charlotte Buff benannt hat.«

»Der Geheimrat hat sie geliebt, aber er musste auf sie verzichten. Ich habe mit meiner Charlotte mehr Glück.«

»Hast du die Skulptur deshalb gekauft?«

»Auch weil ich sie schön finde. Sie symbolisiert viel von dir.«

Skeptisch schaute sie ihn an.

»So üppig bin ich aber nicht.«

»Du hast die Figur eines jungen Mädchens. Aber das meinte ich nicht. Die Bezeichnung ›Nana‹ steht im Französischen für eine moderne, selbstbewusste, erotische Frau mit Lebenskraft.« Dicht zog er sie an sich. »Das bist du auch. Es macht dich unwiderstehlich.«

Unterdessen saßen die anderen WG-Bewohner in der großen Küche des Hauses beim Frühstück.

»Wo bleiben denn Charlotte und Philipp?«, fragte Anneliese, während sie ihrem Lebensgefährten Kaffee nachschenkte. »Bei den beiden ist es gestern wohl spät geworden.«

»Ich habe sie weit nach Mitternacht nach Hause kommen hören«, sagte Conrad. »Sie schlafen sicher noch.«

Mit wissendem Lächeln bestrich Elisabeth eine Brötchenhälfte mit Butter.

»Als ich vorhin den Tisch gedeckt habe, war Philipp hier. Er hat ein Frühstück für zwei mit raufgenommen.«

»Schön, dass er sich Gedanken macht, wie er seinem Sternchen was Gutes tun kann«, sagte die Strick-Liesel versonnen. »Das ist beneidenswert.«

Prompt meldete sich Conrads Gewissen. Er zeigte Anneliese viel zu selten, wie viel sie ihm bedeutete. In diesen Dingen war er ungeübt, wodurch er sich unsicher fühlte. Seit der Trennung von seiner Frau vor fast 35 Jahren hatte es für ihn außer einigen Sexualkontakten keine näheren Beziehungen gegeben.

Als Charlotte später herunterkam, begegnete sie Conrad am Fuße der Treppe.

»Moin.«

»Guten Morgen«, grüßte er zurück, wobei er sie musterte. Sie besaß die Ausstrahlung einer Frau, die mit sich selbst im Einklang war. »Du siehst richtig glücklich und zufrieden aus.«

»Das bin ich. Meiner Familie geht es gut, ich bin gesund, habe keine finanziellen Sorgen, lebe in einem schönen Haus mit wundervollen Menschen zusammen – und habe einen Mann, der mich liebt und den ich liebe. Das ist so viel mehr als manch anderer hat.«

Zustimmend nickte er. Es schien, als wolle er etwas hinzufügen, jedoch er unterließ es.

»Alles gut bei dir?«

Abermals nickte er.

»Entschuldige, Albert wartet auf mich. Wir wollen eine Partie Schach spielen.«

Rasch wandte er sich um und strebte auf die Räume des Generals zu.

Charlotte zuckte die Schultern und ging in die Küche. Dort begrüßte sie Elisabeth, die mit dem Einräumen der Spülmaschine beschäftigt war.

»Kann ich dir helfen?«

»Nicht nötig. Ich bin gleich fertig. Hast du euer Frühstücksgeschirr nicht mitgebracht?«

»Das trägt Philipp gleich runter. Hast du ihm bei der leckeren Auswahl geholfen?«

»Das hat er mir nicht erlaubt. Er wollte das Frühstück für sein Sternchen ganz allein zubereiten.« Sie schloss den Geschirrspüler und drehte sich herum. »Wie war es denn gestern Abend?«

»Die Vernissage war beeindruckend. Tolle, farbgewaltige Bilder und interessante Lichtinstallationen. Danach waren wir mit Sophia und Axel im Musikladen.«

»Magst du sie?«

»Ich bin Philipps Schwester vorher nur einmal im Vorbeigehen begegnet. Ihren Mann kannte ich gar nicht. Zuerst habe ich befürchtet, dass sie mich vielleicht nicht mögen oder genau unter die Lupe nehmen würden, aber sie waren sympathisch offen, als wären wir alte Freunde.«

»So liebenswürdig haben wir Sophia vor kurzem auch kennengelernt. Anneliese hatte sie nach deinem Verschwinden aus dem Internat Rabeneck angerufen. Philipp war fix und fertig. Seine Schwester ist sofort gekommen, um ihm beizustehen.«

»Darüber hat sie kein Wort verloren. Ich bin froh, dass wir uns auf Anhieb so gut verstanden haben.« Sie wandte sich zur Tür. »Hast du unser fleißiges Lieschen gesehen?«

»Ich glaube, Anneliese wollte drüben im Wohnzimmer Zeitung lesen.«

Als Charlotte eintrat, saß die Mitbewohnerin, ihr Tablet-PC in den Händen, auf dem Sofa. Sie war blass und wirkte, als hätte ihr jemand einen Schock versetzt.

»Alles in Ordnung?«

Mit ernster Miene reichte sie das Tablet weiter.

»Lies das bitte mal.«

Charlotte setzte sich und richtete den Blick auf das Display. Dort war eine Website der HAZ zu sehen. ›Leichenfund in der Aegidienkirche‹ lautete die Schlagezeile. Konzentriert las sie den Artikel, bevor sie das abgebildete Foto des Toten mit zwei Fingern größer zog, um es genauer zu betrachten. Es zeigte einen etwa 70-Jährigen mit kurzem grauem Haar und gütigem Lächeln.

Charlotte legte den flachen Computer auf den Tisch und schaute die Freundin an. Sie ahnte, dass Anneliese aus einem bestimmten Grund Interesse an diesem Toten hatte.

»Du kanntest Pastor Rugard.«

»Er war vor Jahren neben der Gemeindearbeit als Jugendseelsorger tätig.«

»Hattet ihr engen Kontakt?«

»Seit seinem Weggang nicht mehr.«

»Und davor?«

Hilflos hob sie die Schultern, ließ sie langsam sinken.

»Wir hatten mal was miteinander, … vier oder fünf Monate. Bert war ein lieber Kerl, aber furchtbar konservativ. Das ging auf die Dauer nicht gut.«

»Wie lange ist das her?«

»Über 35 Jahre.«

»Trotzdem berührt es dich, wenn du erfährst, dass ein Mensch, der dir mal nahestand, ermordet wurde.«

»Nicht nur das. Außerdem ist er der zweite Mann, den ich kannte, der umgebracht wurde. – Und das innerhalb einer Woche.« Forschend blickte sie ihre Mitbewohnerin an. »Was glaubst du, was das bedeutet – aus kriminalistischer Sicht?«

»Ohne die näheren Umstände zu kennen, ist das schwierig.«

»Komm schon, Charlotte. Was sagt dir deine Spürnase?«

Die ehemalige Leiterin des Kriminalarchivs musste nicht lange darüber nachdenken.

»Kannten sich die Toten?«

»Mit Sicherheit.«

»Da eine Verbindung zwischen beiden Männern besteht, würde ich auf einen Serientäter tippen.«

»Das habe ich befürchtet«, gestand Anneliese. »Darf ich dich um einen Gefallen bitten?«

»Was soll ich tun?«

»Ich muss mit Kommissar Bremer darüber sprechen. Begleitest du mich morgen zu deinen Polizeifreunden?«

»Mach ich. – Wir sollten das aber vorläufig für uns behalten, um unsere Mitbewohner nicht zu beunruhigen.«

Anneliese schien etwas erleichtert zu sein, aber Charlotte ließ sich alles, was sie über die beiden Toten gehört und gelesen hatte, noch einmal durch den Kopf gehen. Nach längerem Nachdenken war sie überzeugt davon, dass sie es hier mit einem Serienkiller zu tun hatten. Sie erinnerte sich, was Horst über den Zustand der ersten Leiche gesagt hatte. Der ermordete Psychologe war auf vielfältige Weise gefoltert worden. Es lag nahe, dass der Pastor ähnliche Qualen durchlitten hatte. Das ließ auf eine große Wut des Täters schließen. Man musste mit weiteren Toten rechnen. Was Charlotte aber am meisten Sorge bereitete, war die Tatsache, dass Anneliese beide Opfer gekannt hatte. Es bestand eine Verbindung zwischen ihr und den Ermordeten. An einen Zufall glaubte sie nicht. Außerdem hatten alle drei mit Kindern und Jugendlichen gearbeitet. Nüchtern betrachtet, könnte die Freundin in großer Gefahr schweben. Darüber sprach Charlotte jedoch nicht.

Später saßen die WG-Bewohner in der Küche beim Mittagessen zusammen, das fast immer Conrad zubereitete. Seit seiner Jugend zählte Kochen zu einer seiner Lieblingsbeschäftigungen. An diesem Sonntag brachte er überbackenes Schweinefilet mit Senf – Sahne-Kruste, Champignons und Kartoffelspalten auf den Tisch. Wie gewöhnlich, lobten die Freunde seine Kochkünste.

»Es freut mich, dass es euch schmeckt.« Seine Augen schweiften von einem zum anderen, kamen bei Anneliese zur Ruhe. »Wann wart ihr eigentlich das letzte Mal auf dem Jahrmarkt?«

»Bei mir ist das Ewigkeiten her«, sagte seine Lebensgefährtin. Mit einem Blick gab sie die Frage an Charlotte weiter.

»Ich war im Sommer vor zwei Jahren mit meinen Enkelkindern auf dem Heiligengeistfeld in Hamburg. ›Dom‹ heißt das Schützenfest dort. Es findet dreimal im Jahr statt.«

Philipp und Albert konnten sich ebenso wenig wie Elisabeth daran erinnern, wie lange ihr letzter Kirmesbesuch her war.

»Heute endet das Oktoberfest. Ich möchte euch einladen. Wir fahren gegen Abend, bummeln über den Festplatz, essen und trinken was und lernen in der Geisterbahn das Gruseln.«

Während seine Mitbewohner zustimmten, schüttelte der General den Kopf.

»Macht das lieber ohne mich. Auf dem Rummelplatz herrscht bestimmt viel Gedränge. Da bin ich mit meinem Rollstuhl nur im Weg.«

»Das könnte dir so passen«, sagte Philipp. »Mitgefangen, mitgehangen.«

»Genau«, stimmte Charlotte ihm zu, während sie Albert anschaute. »Mich interessiert seit damals, ob dein Meisterschuss im Eichengrund nicht reines Glück war. Heute bekommst du die Gelegenheit, uns von deinen Schießkünsten zu überzeugen. Jede von uns Mädels würde sich über eine Rose von der Schießbude freuen.«

Auch die anderen redeten ihm zu. Dadurch konnte er nicht mehr ablehnen. Im Grunde freute er sich sogar darüber. Seit ihrem Kennenlernen wurde er trotz seines Handicaps akzeptiert und in alle Aktivitäten einbezogen. Anfangs hatte er sich aus Unsicherheit hinter seinem Kasernenton versteckt. Er war fast sein ganzes Leben lang Soldat gewesen – mit Einsätzen im In- und Ausland. Für eine enge Beziehung hatte es an Zeit und Gelegenheit gemangelt. Er hatte sich stets eingeredet, nichts zu vermissen. Erst im Alter war ihm bewusst geworden, wie sehr ihm eine Familie und nahe Freunde fehlten, wie einsam er war. Schließlich hatte ihn diese kleine Gruppe in ihren Kreis aufgenommen. Dass seine ruppige Fassade zerbröselt war, verdankte er nicht zuletzt Charlotte. Er würde für sie durchs Feuer gehen.

Am späten Nachmittag orderte Philipp ein Großraumtaxi, das sie zum Schützenplatz brachte. Am Gilde-Tor stiegen sie aus. Der General, der wegen einer Verletzung bei einem Auslandseinsatz nur wenige Schritte laufen konnte, setzte sich in seinen faltbaren Reiserollstuhl. Wie selbstverständlich fasste Elisabeth nach den Schiebegriffen. Anneliese hängte sich bei Conrad ein; Philipp legte den Arm um Charlottes Taille. An geparkten Autos vorbei schlenderten sie auf den Rummel. Ein Gemisch aus lauter Musik, Lockrufen der Betreiber von Fahrgeschäften und Losverkäufern empfing sie. In der Luft hing der Duft von Zuckerwatte, gebrannten Mandeln und Gegrilltem. Vorbei an Kinderkarussell, Autoskooter und Riesenrad bummelten sie über den Festplatz. Philipp zog an einer Bude 20 Lose aus einem kleinen gelben Eimer, erwischte aber nur Nieten. Beim zweiten Versuch war wenigstens ein Trostpreis dabei. Er wählte einen kleinen Teddy aus, den er Charlotte mit großer Geste reichte.

»Pech im Spiel«, flüsterte er ihr dabei zu, »aber unglaublich viel Glück in der Liebe.«

Sie lächelte nur und ließ den Kuschelbären in ihrer Umhängetasche verschwinden, während sie Blickkontakt zu Anneliese aufnahm. Die Freundin hatte eine Schießbude entdeckt und deutete mit dem Kopf hinüber. Charlotte zwinkerte ihr unmerklich zu und ging ein paar Schritte voraus. Die anderen folgten ihr.

»Kompanie halt!« Sie schaute Albert an und salutierte schneidig. »Zeit für Ihre Schießübung, Herr General!«

Würdevoll nickte ihr der aristokratisch wirkende Rollifahrer zu.

»Wegtreten, Rekrut Stern!«

Über seine Schulter gab er Elisabeth ein Zeichen, ihn näher an die Schießbude zu schieben. Er ließ sich vom Schausteller eine Flinte geben und begutachtete sie.

»Das Ding stammt ja aus der Zeit, als das Schießpulver noch gar nicht erfunden war«, monierte er und verlangte ein neueres. Der Budenbesitzer sog scharf die Luft ein und übergab ihm eine andere Büchse. Diese inspizierte Albert genauso gründlich und schien einigermaßen zufrieden mit dem Ergebnis zu sein.

»Schon besser«, brummte er und stemmte sich aus dem Rollstuhl. Er legte das Gewehr an und konzentrierte sich kurz. Den ersten Schuss feuerte er ab, um zu testen, wie die Waffe reagierte.

»Die Justierung scheint in Ordnung zu sein.«

Abermals legte er an. Unter den gespannten Blicken der Freunde visierte er das untere Drittel der Plastikhalterung an, in der eine Rose steckte. Nach zwei Schüssen fiel die Blume. Bei den nächsten beiden Rosen benötigte er nur jeweils einen Schuss.

Der Schausteller legte die Plastikblumen vor ihn auf die Ablage. Albert zückte seine Geldbörse und bezahlte. Die rote Rose überreichte er Charlotte, die gelbe bekam Elli und die orangefarbene schenkte er Anneliese. Gut gelaunt setzte er sich in seinen Rolli.

»Sind die Golden Girls nun zufrieden?«

Charlotte legte die Hand auf seine Schulter.

»Und tief beeindruckt.«

Sie zogen weiter und blieben schließlich an einer Süßwarenbude stehen. Dort gab es Zuckerwatte, Schaumküsse, Waffeln und andere Kalorienbomben. Philipp deutete auf die reiche Auswahl, bevor er Charlotte erwartungsvoll anschaute.

»Wie wäre es mit einem Liebesapfel?«

»Das kann ich meinen Zähnen nicht antun.«

Diese Begründung akzeptierte er, ging näher an den Verkaufsstand und flüsterte mit der Verkäuferin. Zielsicher fasste sie nach den Lebkuchenherzen und fischte eins aus einem der Bündel, die an einer Stange der Bude baumelten. Während Conrad die Herzen sichtete, trat Philipp mit seiner Errungenschaft zu Charlotte und hängte ihr das Lebkuchenherz um. In weißer Zuckerschrift stand darauf, von kleinen roten Herzchen umrahmt: ›Du bist mein Stern‹. Sie bedankte sich mit einem Kuss. Conrad hatte gleich zwei Herzen erstanden. Auf dem blauumrandeten für Elisabeth war: ›Schön, dass es dich gibt‹ zu lesen. Auf dem, das er Anneliese umhängte, ›Traumfrau‹.

Ihr nächstes Ziel war der Grillimbiss. Philipp und Conrad kümmerten sich um die Essensbestellung. Unterdessen brachten die anderen die Getränke zu einem überdachten Tisch im Freien und setzten sich.

Anneliese saß am Ende einer Bank und schaute, an Albert vorbei, zum Kettenkarussell hinüber. Im gleichen Moment drehte sich dort eine rundliche Frau herum. Ihr graues Haar war zu einer altmodischen Frisur hochgesteckt, die wahrscheinlich unter Denkmalschutz stand. Ihre Blicke trafen sich, worauf die Dame mit erstauntem Lächeln herüberkam.

»Frau Grothe? Sind Sie das wirklich?«

Nach kurzem Zögern stand Anneliese auf.

»Hallo, Frau Wüstenhagen. Lange nicht gesehen.«

»Seit acht Jahren bin ich im Ruhestand.« Schnell taxierte sie die anderen Personen am Tisch. »Sie arbeiten nicht mehr im Sonnenhof, oder? Irgendwer hat mir erzählt, dass Sie die Christa-Bernhardt-Stiftung leiten.«

»Dadurch habe ich als Rentnerin noch was um die Ohren.«

»Haben Sie gehört, dass Dr. Flachsbarth und Pastor Rugard tot sind?« Angewidert verzog sie das faltige Gesicht. »Sie wurden ermordet. Man stelle sich das mal vor. Die beiden haben fast ein ganzes Leben lang anderen beigestanden – und nun so etwas. In was für einer Zeit leben wir eigentlich? Ist das nicht schrecklich?«

»Ja, das ist furchtbar.«

Forschend schaute sie Anneliese an.

»Standen Sie denn noch in Kontakt mit Herrn Rugard? Damals wurde ja gemunkelt, dass Sie mal was mit ihm hatten.«

»Die Leute reden viel, wenn der Tag lang ist. Haben Sie das etwa geglaubt?«

»Na ja, so richtig vorstellen konnte ich mir das nicht. Der Herr Pastor war so seriös. Im Gegensatz zu ihm haben Sie immer ein bisschen … flippig gewirkt.«

Innerlich verdrehte Anneliese die Augen. Sie sah Philipp auf den Tisch zukommen, wobei er wie ein gelernter Kellner mehrere Teller in den Händen balancierte.

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Дата выхода на Литрес:
22 декабря 2023
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354 стр. 57 иллюстраций
ISBN:
9783839270028
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