Читать книгу: «Diakonie - eine Einführung», страница 4

Шрифт:

3.1.3 Theologisierung sozialer Forderungen

Im Verlauf der Reflexion und Verschriftung der mündlichen Tradition wurden die vorerst einmal einfach als weise erfahrenen und ethisch evidenten Forderungen an ein humanes Zusammenleben theologisiert, d. h. als in Gottes Willen und im göttlichen Gebot begründet interpretiert. «Es ist nicht zufällig, dass das biblische Liebesgebot der krönende Abschluss einer Reihe von Schutzbestimmungen für die Armen, die Fremdlinge, die Tagelöhner, die Tauben und die Blinden ist (Lev 19,9–18); und es ist auch nicht zufällig, dass biblische Rechtssetzungen und Gebote im Laufe der Entwicklung immer deutlicher religiös verstanden wurden, nämlich als Entsprechungen zum Handeln Gottes. Der barmherzige und gnädige Gott (Ex 34,6; Ps 103,8 etc.) selbst verschafft den Waisen und Witwen ihr Recht, liebt die Fremden und gibt ihnen Nahrung und Kleidung (Dtn 10,18). Er ist Vater der Waisen und Anwalt der Witwen (Ps 68,6). Sein Verhalten gilt es nachzuahmen.»56

Helfen beinhaltet Handlungen, die die Tendenz zeigen, die individuelle bzw. die Sippenmoral zu überschreiten. Das in der israelitischen Gesellschaft sich manifestierende Gefälle zwischen reich und arm wurde zuerst einmal durch den moralischen Appell an die Wohltätigkeit der Reichen zu lindern versucht: «Denn es wird immer Arme geben im Land, darum gebiete ich dir: Du sollst deine Hand willig auftun für deinen bedürftigen und armen Bruder in deinem Land» (Dtn 15,11).

|49| Weisheitliche Texte begründen die Evidenz der den Armen geschuldeten Hilfe schon früh in der Königszeit mit der Einbettung allen Lebens in den Schöpfungszusammenhang: «Reiche und Arme begegnen sich, erschaffen hat sie alle der Herr» (Spr 22,2). Es ist fundamental mit dem Menschsein gegeben, dass einer, der dem Armen das kärgliche Brot vorenthält, ein Blutsauger ist (Sir 34,25). Wer dem Mitmenschen den Unterhalt wegnimmt, ist ein Mörder (Sir 34,26). Und wer dem Arbeiter den Lohn vorenthält, vergiesst Blut (Sir 34,27 f.). Helfen gehört fundamental zum Menschensein, hat in der Sippe seinen Ort und wird von ausgewiesenen Personen oder dem König vermehrt erwartet. Mit Manfred Oeming ist allerdings auch festzuhalten: «Sozialhilfe in Form von Mildtätigkeit für die Unterschicht ist nichts Spezifisches für Israel, eher allgemein altorientalisch, besonders im Kontext der Königsideologie, ja, allgemein menschlich. Die diakonischen Ansätze sind in den gesellschaftlichen Verhältnissen nur bescheiden entwickelt; Israel war eine hierarchische, auch ökonomisch elitär organisierte Agrargesellschaft, in die kaum demokratische Strukturen oder ein gesicherter Mittelstand implantiert waren. Vieles, ja alles wird vom König oder vom kommenden Messias erwartet, statt klare Programme zu entwickeln.»57

3.1.4 Die Erweiterung individuellen Helfens zu Ansprüchen kodifizierten Rechts

In der Tradition des Alten Testaments liegen neben vielfältigen ethischen Handlungsprinzipien vor allem ausformulierte Grundsätze sozialen Rechts vor. Silvia Schroer weist auf «die drei grossen Säulen der israelitischen Religion und Theologie» hin: Gesetz, Propheten und Schriften. «Alle drei Traditionskreise haben sich mit den Grundrechten von Menschen befasst, vorab mit den Grundrechten von freien israelitischen Männern, aber auch mit denen von verarmten und verschuldeten IsraelitInnen, mit denen der Fremden, der GastarbeiterInnen im Land oder der KriegssklavInnen.»58 Mit den Grundrechten ist nicht die auf dem westlich-abendländischen Menschenbild |50| fussende Rechts- und Gesellschaftsordnung gemeint. «So gab es unseren Begriff von Eigentum, der individuelle freie Verfügung beinhaltet, nicht. Es ging vielmehr um Nutzungsrechte Einzelner, aber zugunsten einer ganzen Sippe. […] Innerhalb der patriarchalen Herrschaftspyramide gibt es ein erschreckendes Ausmass von Verfügungsgewalt von Vätern über den Körper ihrer Töchter, von Männern über ihre Frauen. Der damalige Staat bemühte sich um die Schaffung eines für alle verbindlichen Rechts, hatte aber noch wenig Möglichkeiten, Rechtsbrüche zu kontrollieren und zu sanktionieren. Er blieb darin abhängig vom engmaschigen Netz der Sippenkontrolle. Trotz allem ist es eine ungeheure Arroganz, wenn wir deshalb meinen, dass altorientalische Kulturen kein Rechtsempfinden oder keine Utopie von Gerechtigkeit gehabt hätten.»59

Die Inhalte der alttestamentlichen Sozialgesetze, die Gottes Liebe in klare Solidaritätsregeln gegenüber den sozial Schwachen und Benachteiligten giessen, erweitern das individuelle und soziale Helfen erheblich. Die Ausrichtung auf rechtliche Regelungen für das Helfen leistet an und für sich schon einen wichtigen Beitrag zu einer Hilfekultur.60 Frank Crüsemann hat in zwei grundlegenden Aufsätzen die Grundlinien alttestamentlicher Hilfekultur als Beitrag zu einem angemessenen Verständnis von Diakonie dargelegt.61 Sie sind auch für unsere Ausführungen wegleitend. Crüsemann ist überzeugt, dass die Diakonie vom alttestamentlichen Befund her dem «ausdrücklichen Bezug auf die den sozial Schwachen zustehenden Rechte und ihre deswegen anzuerkennenden Ansprüche»62 ein stärkeres Gewicht beimessen müsste.

Der Schutz des Fremden ist eine der zentralsten Pflichten aller alttestamentlichen Rechtssammlungen.63 Die älteste Sammlung aus dem 8. Jh. v. Chr. hält in einer Zeit grösserer Flüchtlingsströme nach Juda und Jerusalem, die von der aggressiven Deportationspolitik der Assyrer ausgelöst wurden, sozusagen als Grundregel fest: «Einen Fremden sollst du nicht bedrängen und nicht quälen, seid ihr doch selbst Fremde gewesen im Land Ägypten» |51| (Ex 22,20; 23,9). Darin eingebettet werden die Rechte der Witwen und Waisen (Ex 22,21–23) sowie der Armen (Ex 22,24–26). Diese vier Sozialgruppen werden exemplarisch für die chronische Gefährdung bestimmter Menschen eingeführt, eine Typologie, die später durch die prophetische und deuteronomistische Tradition aufgenommen wurde, die gegen die Unterdrückung dieser sozial schwachen Gruppen ankämpfen.

Der Schutz der Fremden wird radikal zugespitzt: «Ein und dasselbe Recht gilt für euch, für den Fremden wie für den Einheimischen» (Lev 24,22). Dieser Rechtssatz wird in Verbindung mit dem Gebot der Nächstenliebe (Lev 19,18) nun zum Gebot der Fremdenliebe: «Wie ein Einheimischer soll euch der Fremde gelten, der bei euch lebt. Und du sollst ihn lieben wie dich selbst, denn ihr seid selbst Fremde gewesen im Land Ägypten; ich bin der HERR, euer Gott» (Lev 19,34). Die Evidenz des hier postulierten Rechts des Fremden auf Schutz liegt in der Erfahrung eigenen Fremdseins und dadurch gegebener Lebensbedrohung. Mit der Erinnerung an eigene Erfahrung des Fremdseins in Ägypten wird das Engagement für die Fremden, die nun dieselbe Erfahrung in Israel machen, gefordert. Dieser Motivationszusammenhang von eigener Erfahrung und Schicksal fremder Menschen wird zur ethischen Begründung eines der fundamentalsten Rechtssätze in Israel. Und schliesslich wird dieses Gebot im autoritativen Zuspruch Gottes begründet: «Ich bin der HERR, euer Gott». In der ganz weltlich-praktischen Solidarität gegenüber dem Nächsten und dem Fremden erweist sich nach israelitischem Glauben nichts weniger als die Anerkennung des Gottseins Gottes und die Respektierung seines Willens.

3.1.5 Engagement für die «Armen»

Als Typos für auf Hilfe Angewiesene ist in der hebräischen Bibel oft von «Armen» die Rede. Wer ist nun im engeren Sinn die Gruppe, die mit diesem Begriff umschrieben wird? Die so umschriebenen Personen sind wohl nicht einfach besitzlose und obdachlose Outsider auf der untersten sozialen Stufe. Sie sind offenbar frei, aber verarmt und überschuldet, obwohl sie noch Land besitzen. Diese Kleingrundbesitzer, die durch ihre Verschuldung abhängig werden, riskieren, in eine Form von Schuldsklaverei zu geraten (Lev 25,39). Sie sind es, die mit dem Begriff «arm» im engeren Sinn bezeichnet werden.64 Diese Abhängigkeit geisselt der Prophet Amos, wenn er die Reichen kritisiert, dass «sie den Gerechten verkaufen für Geld und den |52| Armen für ein Paar Schuhe» (Am 2,6). Öffnet man den Blick auf die Gruppe der als «Arme» im weitesten Sinn bezeichneten Personen, so können auch Witwen, Waisen und Fremde unter diese Kategorie fallen. Die Hauptursache der Verarmung liegt dabei im Verlust des Versorgers sowie im Verlust der Heimat.65

Im Deuteronomium wird nun zum ersten Mal ein umfassendes sozialrechtliches Konzept entwickelt, durch das zwei Gruppen der Gesellschaft speziell sozial gesichert werden sollen. Die eine Gruppe sind die Armen, die andere die Landlosen. Normativer Leitgedanke dabei ist, dass der Reichtum, der durch Gottes Gabe und menschliche Arbeit entsteht, durch die gerechte Partizipation aller zum Segen und zum Wohlstand führen soll.

Im Blick auf die Landlosen, die nicht an Land und Reichtum teilhaben, wird das Gesetz über den Zehnten eingeführt: «Vom ganzen Ertrag deiner Saat sollst du den Zehnten geben, von dem, was auf dem Feld wächst, Jahr für Jahr, und du sollst vor dem HERRN, deinem Gott, […] den Zehnten deines Korns, deines Weins und deines Öls verzehren» (Dtn 14,22 f.). In jedem dritten Jahr soll diese Steuer des Zehnten an Menschen ohne Grund- und Erbbesitz ausbezahlt werden. So wird den Leviten, Witwen, Waisen und Fremden die Existenz gesichert (Dtn 14,28 f.). «Das ist die erste Sozialsteuer der Weltgeschichte, die Urzelle rechtlicher und staatlicher Verantwortung für die Schwächsten aus dem allgemeinen Steueraufkommen.»66 Nach Frank Crüsemann kann man diese Steuer sozialpolitisch nicht hoch genug einschätzen: «Dass alle Besitzenden und Produzierenden eine regelmässige Abgabe in Form einer Steuer zugunsten der materiell Ungesicherten und sozial Schwachen leisten sollen, diese also dadurch einen festen und geregelten Unterhalt haben, wird hier zum ersten Mal formuliert.»67 Diese Sozialsteuer des Zehnten ist eine der grundlegenden, schriftlich tradierten rechtlichen Regelungen zur Sicherung der materiellen Existenz von Landlosen.

Ebenso grundlegend ist das Zinsverbot. «Leihst du Geld dem Armen aus meinem Volk, der bei dir ist, so sei nicht wie ein Wucherer zu ihm. Ihr sollt ihm keinen Zins auferlegen» (Ex 22,24). Das Verbot kommt neben |53| dem Bundesbuch noch in veränderter Gewichtung und Form an zwei weiteren Stellen vor, im deuteronomistischen Gesetzbuch (Dtn 23,20 f.) und im Heiligkeitsgesetz (Lev 25,35–38). Alle drei Stellen verbieten, unter Volksgenossen Zinsen zu nehmen. So soll vermieden werden, dass der, der ein Darlehen aufnehmen muss, immer tiefer in den Strudel der Verarmung und Verschuldung gerät.68

Der Schuldenerlass ist das dritte Instrument, um gegen die Verarmung anzukämpfen. Armut ist eine Falle, aus der verschuldete Menschen oft nicht mehr herauskommen. Deswegen ist ein regelmässiger Schuldenerlass vorgesehen: «Alle sieben Jahre sollst du einen Schuldenerlass gewähren. Und so soll man es mit dem Schuldenerlass halten: Jeder Gläubiger soll das Darlehen erlassen, das er seinem Nächsten gegeben hat. Er soll seinen Nächsten und Bruder nicht drängen, denn man hat einen Schuldenerlass ausgerufen zu Ehren des HERRN […] Was du aber deinem Bruder geliehen hast, das sollst du ihm erlassen. Doch Arme wird es bei dir nicht geben, denn der HERR wird dich segnen in dem Land, das dir der HERR, dein Gott, zum Erbbesitz gibt» (Dtn 15,1–4).69

Solche grundlegenden rechtlichen Regeln konnten in der Zeit des Königs Joschija, in der viele von ihnen schriftlich formuliert wurden, aber auch bei seinen Nachfolgern faktisch kaum durchgesetzt werden. Es blieb also eine spannungsvolle Differenz zwischen sozial gerechtem Sollen und realpolitischem Sein, zwischen moralisch-theologischem Anspruch und gelebter Praxis.70 Dennoch wurden diese Regeln interessanterweise als Teil der Tora Israels weiter überliefert und nicht als realpolitisch nicht implementierbar wieder ausgeschieden. Sie wurden weiter überliefert, offenbar als bleibende kritische Anfrage an reale gesellschaftliche Verhältnisse und als Impuls zu |54| deren Humanisierung in Richtung auf mehr soziale Gerechtigkeit und weniger menschliche Not und Verelendung.

3.1.6 Errichtung von öffentlichen Räumen für die Klage von Not

Nach Frank Crüsemann ist «für die Menschen der Bibel die Klage die erste, wichtigste und alles andere erst ermöglichende Reaktion auf sie treffende Nöte. Wer in aktuelle Not gerät, klagt – laut, unüberhörbar, massiv, wild. Nahezu ein Drittel der Psalmen gehören zur Gruppe der Klagen einzelner, in Not geratener Menschen.»71

Ein Beispiel dafür ist Ps 13:

Wie lange, HERR! Willst du mich ganz vergessen?

Wie lange verbirgst du dein Angesicht vor mir?

Wie lange soll ich Sorgen tragen in meiner Seele,

Kummer in meinem Herzen, Tag für Tag?

Wie lange noch soll mein Feind sich über mich erheben?

Sieh mich an, erhöre mich, HERR, mein Gott.

Mache meine Augen hell, damit ich nicht zum Tod entschlafe,

damit mein Feind nicht sage: Ich habe ihn überwältigt,

meine Gegner nicht jauchzen, dass ich wanke.

Ich aber vertraue auf deine Güte,

über deine Hilfe jauchze mein Herz.

Singen will ich dem HERRN,

denn er hat mir Gutes getan.

Geklagt wird in drei Richtungen: 1. Gegenüber dem einen Gott, der als für alles zuständig erachtet wird. Klagen sind insofern immer Gebete. 2. Im Blick auf sich selbst, und zwar mit ganz allgemeinen, stereotypen Aussagen, die auch heute von Leid Geplagten Sprache verleihen können. 3. Gegenüber den Feinden, indem schonungslos ausgesprochen wird, was alles als das eigene Leben bedrohend und als verängstigend erfahren wird.

Die überlieferten Klagepsalmen sind bis auf den heutigen Tag immer wieder benutzte Gebete, obwohl die Antworten Gottes genauso wie die Riten, in die die Gebete einst eingebunden waren, nicht überliefert sind. Die Klagen können für sich stehen, weil in ihnen die authentische Stimme der sozial, wirtschaftlich, kulturell und gesundheitlich Bedrängten zu hören ist. |55| Nach Herbert Haslinger kommen in den Klagen «die Stimmen der von Not betroffenen Menschen authentisch zu Gehör. Folglich muss das Klagen in der Diakonie notwendig einen Ort haben und die Ermöglichung des Klagens in sich als eine Realisierung der Diakonie gesehen werden.»72

Nicht nur die Klage an und für sich gehört zur Hilfekultur Israels. Das bedeutsame Moment liegt im Öffentlichmachen privater Not. Denn «diese Öffentlichkeit der menschlichen Anklage und des göttlichen Zuspruchs, bei der die Notsituation aus dem Raum des individuellen Erlebens der betroffenen Person herausgeholt, in den Raum der Gesellschaft hineingestellt und so zur Sache aller wird, kann eine Hilfe sein, den Mechanismus von Notlage, gesellschaftlicher Isolierung und existentieller Bedrohung aufzubrechen».73

Tempelplatz und Vorhof waren öffentliche Räume der Klage. Weniger Trostzuspruch oder Segenswort, sondern vielmehr die Möglichkeit öffentlicher Klage auf öffentlichen Plätzen war das Hilfreiche, was religiöses Handeln anzubieten hatte.74 Diese Vernetzung von individueller Ohnmachtserfahrung und öffentlicher, kollektiv wahrgenommener Klage kann gesellschaftlichen Zusammenhalt restituieren und Sprachlosigkeit überwinden helfen.

3.1.7 Gottes Sein als Mit-Sein in Solidarität

Die Möglichkeit der Klage steht auf dem Hintergrund der Gewissheit, dass der Gott Israels ein Gott ist, der sich für die sozial Schwachen engagiert. Ein klassischer Ausdruck dieser wichtigen Verbindung von Gott und sozialem Engagement ist in Psalm 82 zu finden:75

|56| Gott steht in der Gottesversammlung, inmitten der Götter hält er Gericht: Wie lange wollt ihr ungerecht richten und die Frevler begünstigen? Schafft Recht dem Geringen und der Waise, dem Elenden und Bedürftigen verhelft zum Recht. Rettet den Geringen und den Armen, befreit ihn aus der Hand der Frevler. Sie wissen nichts und verstehen nichts, im Finstern tappen sie umher, es wanken alle Grundfesten der Erde. Ich habe gesprochen: Götter seid ihr und Söhne des Höchsten allesamt. Doch fürwahr, wie Menschen sollt ihr sterben und wie einer der Fürsten fallen. Stehe auf, Gott, richte die Erde, denn dein Eigentum sind die Nationen alle.

Ohne auf die bis in die spätexilische Zeit verbreitete religionsgeschichtliche Vorstellung eines Pantheon (einer himmlischen Götterversammlung), zu dem der Nationalgott Israels dazugehörte, eingehen zu können, fällt die direkte Verbindung von Eintreten für den Elenden mit dem Gottsein Gottes auf. Gottes Gottsein wird hier verstanden als sein Mit-Sein in Solidarität.76 So also denken und reden die sozial Schwachen, die kleinen Leute wie auch die gebildeten Theologen über Gott: «Im Ringen der Armen und Elenden um ihr Leben und ihr Recht, im Kampf gegen die sie unterdrückenden Frevler, geht es um nichts Geringeres als um das Gottsein Gottes.»77 Denn die Wahrheit des göttlichen Anspruchs erweist sich eben darin, dass Gott mit den Geringen und Elenden solidarisch ist und ihnen zu ihrem Recht verhilft – ihnen, die ihre Not in öffentlicher Klage vor Gott bringen. Damit zeigt sich nochmals die diakonische Bedeutung, die dem Errichten öffentlicher Räume für die Klage über erfahrene Not zukommt.

|57| Aus alttestamentlicher Perspektive ist im Blick auf helfendes Handeln grundlegend festzuhalten:

 Helfen orientiert sich weithin an den überlieferten moralischen Sitten und Gebräuchen, die über Israel hinaus im Alten Orient für das Zusammenleben in Sippe und Volk anerkannt waren. Man hilft, weil man weiss, was gut und recht ist (vgl. Mi 6,8).

 Diese Praxis mitmenschlicher Solidarität und Nächstenliebe entwickelt sich zu einer Kultur sozialen Engagements, die sich auf Rechtssätze stützt. Helfen orientiert sich am Rechtsanspruch der sozial, politisch und kulturell Benachteiligten und greift über das private Engagement im Rahmen des Sippenverbandes hinaus. «Während die Liebe stets an das Subjekt des Handelnden gebunden bleibt, formuliert das Recht eben ein Recht des Betroffenen, des potentiellen Opfers. Dieses Recht sollte nach biblischer Tradition gerade nicht (allein) auf die manchmal schwankende Liebe, schon gar nicht die von Einflussreichen und Mächtigen gegründet werden.»78

 Durch die Interpretation des Anspruchs der sozial Schwachen als Wille und Gebot Gottes wird helfendes Handeln in einem weiteren Kontext begründet. Zugleich gewinnt dadurch der Glaube an Gott, der sein Gottsein durch das Engagement für die Armen und Geringen erweist, ein besonderes theologisches und soziales Gepräge. Der Arme, der Gefangene und die Kranke, die Hungrige werden nicht nur Aufforderung zu helfendem Handeln, sondern zum Gegenstand theologischen Nachdenkens über Gottes Gottsein, und das gottesdienstliche Feiern am Sabbat lässt sich nicht mehr trennen von sozialer Verantwortung im Alltag. Gottes- und Nächstenliebe durchdringen sich aufs Engste.79

Es kann jedenfalls nicht übersehen werden, dass wir es beim Alten Testament in ausgeprägtem Mass mit einer «diakonisch ausgerichteten Schriftensammlung sozialer Gerechtigkeit und Barmherzigkeit»80 zu tun haben, die eine nicht zu unterschätzende, bleibende Bedeutung für diakonisches Handeln in der jüdischen, aber auch in der christlichen Tradition hat.

|58| 3.1.8 Eine frühjüdische Vision sozialen Handelns

Bevor wir uns den neutestamentlich-christlichen Aspekten zuwenden, sei mindestens noch ein kurzer Hinweis auf das diakonische Handeln des hellenistischen Judentums zur Zeit Jesu gegeben. Die Bedeutung des hellenistischen Judentums für die Diakonie liegt nach Klaus Berger darin, dass über die Überwindung der Volksgrenzen und die universale Ausweitung der praktizierten Nächstenliebe nachgedacht wird. Mehr noch: Praktische Nächstenliebe wird bei Philo von Alexandria zum Inbegriff der Gerechtigkeit.81

Eine eindrückliche Vision von dem Glauben entsprechendem sozialem Handeln zeigt sich in dem zwischen 100 v. Chr. und 100 n. Chr. entstandenen Testament des Hiob. In dieser Schrift wird Hiob als ein zum Judentum bekehrter Heide beschrieben. Ausgehend vom Hiobbuch der Bibel (vgl. Hiob 31,16 f.; 19,31 f.) wird gleichsam eine Vision vorbildlich organisierter Fürsorge beschrieben:

Es waren aber bei mir auch Tische in meinem Haus aufgestellt – dreissig an der Zahl und ständig zu allen Stunden, allein für Fremde. Ich hatte aber auch andere zwölf Tische für Witwen dastehen. Und wenn ein Fremder herantrat, Almosen zu erbitten, musste er erst an dem Tisch gespeist werden, bevor er das Benötigte empfing. Und ich gestattete nicht, dass man aus meiner Tür hinausging mit leerem Beutel. – Ich hatte 3500 Joch Rinder, und ich suchte daraus 500 Joch heraus und stellte sie zum Pflügen bereit, das einer auf jeglichem Acker machen konnte von denen, die sie nahmen. Und den Ertrag sonderte ich ab für die Armen zu ihrem Tisch. Ich hatte 50 Backöfen, von denen ich (einen Teil) bereitstellte zur Bedienung des Armentisches. (11,1) Es waren aber auch einige Fremde, die meine Bereitschaft sahen und die auch selbst beim Dienst (diakonia) dienen wollten. Und es gab auch bisweilen andere, die nichts hatten und nichts aufwenden konnten. Sie kamen und baten und sagten: Wir bitten dich, können wir auch diesen Dienst (diakonia) leisten? Aber wir besitzen nichts. Zeige Du Erbarmen mit uns und strecke uns Geld vor, damit wir in die grossen Städte gehen und Handel treiben und den Armen Dienst leisten können. Und danach werden wir dir dein Eigentum wiedererstatten. (10,1–11,4)82

|59| Hiobs «Diakonie» beschränkt sich nicht nur auf Unterstützung und Almosen, sondern «ist auf weit vorausschauende Planung und Aktivierung sowie (Wieder-)Eingliederung in das Erwerbsleben gerichtet. Dieses soziale Konzept ist, soweit ich sehe, für antike Verhältnisse einzigartig und erinnert eher an moderne soziale Massnahmen.»83

2 393,01 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Объем:
401 стр. 3 иллюстрации
ISBN:
9783290176747
Правообладатель:
Bookwire
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают