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2.3 Beim allgemein-menschlichen Helfen einsetzen

Schliesslich werden wir bei der Frage nach einer theologischen Deutung solidarischer, in praktischem Handeln sich äussernder Mitmenschlichkeit den Blick mit Absicht nicht sogleich auf das spezifisch christliche Helfen richten, sondern ernst nehmen, dass Helfen zuallererst einmal etwas Urmenschliches ist, ein allgemein-menschliches Phänomen, das als solches in seinen vielfältigen Formen wahr- und ernst genommen werden muss – bei Christen und Juden, bei Vertretern anderer Religionen und bei Atheisten gleichermassen. Man kann geradezu sagen, dass wir es beim Phänomen des Helfens bzw. beim Hilfebegriff mit einer «anthropologischen Universalie und Urkategorie des Gemeinschaftshandelns»29 unter Menschen zu tun haben.

Ob Menschen, die andern Menschen aus christlicher Motivation, mit einer christlich-theologisch geprägten Perspektive oder in kirchlichem Kontext helfen, dies anders tun als anders motivierte Menschen in einem nicht spezifisch christlichen Kontext, ist demgegenüber eine sekundäre Frage. Primär geht es darum, mitmenschliches Helfen gerade in seinem allgemein-menschlichen Charakter theologisch ernst zu nehmen und zu deuten. Nur auf dieser Basis kann ein angemessenes Diakonieverständnis gewonnen werden, das theologisch breit genug fundiert ist, damit Diakonie sich in der |35| Praxis nicht überheblich oder ängstlich von andern Formen helfenden Handelns in unserer pluralistischen Gesellschaft abzugrenzen braucht.

Theologisch geht es dabei darum, Diakonie bzw. helfendes Handeln nicht, wie es meist geschieht, christologisch zu deuten, also als Ausdruck eines spezifischen Christus-Glaubens, sondern schöpfungstheologisch, das heisst als Ausdruck einer Fähigkeit zu solidarisch-helfendem Handeln, die Gott allen Menschen immer schon mitgegeben hat und die deshalb quer durch alle Religionen und Weltanschauungen hindurch zu finden ist. Einer der ganz wenigen, die unmissverständlich klar gemacht haben, dass helfendes Handeln primär schöpfungstheologisch gedeutet werden muss, ist der Neutestamentler Gerd Theissen. Leider ist sein Hinweis, «dass über Hilfe zunächst im Rahmen der Schöpfung nachgedacht werden muss», weil «Hilfe ein allgemein menschliches Phänomen ist und – theologisch gesprochen – zur Schöpfung gehört»,30 bisher noch zu wenig ernst genommen worden. Für unser Diakonieverständnis, das wir in diesem Buch darstellen, ist Theissens Hinweis jedenfalls massgebend.31 Wir bestreiten damit keineswegs, |36| dass im Neuen Testament zuweilen auch andere Begründungsansätze für helfendes Handeln vorkommen,32 vertreten aber die Meinung, dass für unsere heutige Situation in einem zugleich säkularen und multi-religiösen gesellschaftlichen Kontext allein eine schöpfungstheologische Begründung, die Helfen als allgemein-menschliches Phänomen versteht, tragfähig ist und die zahlreichen fragwürdigen Überhöhungen christlich motivierten Helfens vermeiden kann, von denen in Kap. 5 die Rede sein wird.

2.4 Zum Begriff des Helfens

Will man ganz knapp umschreiben, worum es der Diakonie geht, so stösst man auf Definitionsvorschläge wie denjenigen von Herbert Haslinger: «Diakonie ist das christliche Hilfehandeln zugunsten notleidender Menschen.»33 Es geht also ganz fundamental um Helfen in seinen vielfachen Formen. Nun kann man sich fragen, ob Helfen wirklich der beste Begriff ist, um das auszudrücken, was hier gemeint ist. Christiane Burbach und Friedrich Heckmann weisen darauf hin, dass der Begriff des Helfens «obsolet geworden ist in der Diskussion um die Professionalisierung der im Sozial- und Gesundheitswesen Tätigen»,34 und auch Ralf Hoburg geht davon aus, dass der Begriff des Helfens für die Sozialarbeitswissenschaft grundsätzlich als überholt gilt.35 Aber nicht nur der Begriff als solcher steht zuweilen infrage; das Phänomen des Helfens grundsätzlich wurde in den |37| vergangenen Jahrzehnten aus verschiedenen Blickwinkeln kritisch hinterfragt.36 Müsste vielleicht eher von solidarischem Handeln gesprochen werden oder von prosozialem Verhalten oder – in stärker theologisch orientierter Perspektive – von Praxis der Nächstenliebe? Es zeigt sich allerdings rasch, dass alle derartigen Begriffe ihre je besonderen Stärken und Grenzen haben. Letztlich kommt es immer darauf an, was man unter welchem Begriff auch immer versteht; und das ergibt sich aus dem sprachlichen Zusammenhang, in dem solche Begriffe stehen und aus den Phänomenen, die sie beschreiben.

Wir haben uns entschlossen, als Grundbegriff bei dem alltags- wie fachsprachlich geläufigen «Helfen» und verwandten Ausdrücken (helfendes Handeln, Hilfe) zu bleiben, weil sie allen Einwänden zum Trotz universell tauglich zu sein und sich als berufsgruppenübergreifender Universalcode sogenannt helfender Berufe durchzusetzen scheinen.37 Auch Helmut Lambers hält sich in seiner jüngsten Geschichte der Sozialen Arbeit «Wie aus Helfen Soziale Arbeit wurde» an diese Sprachregelung, selbst im Blick auf entsprechende Phänomene in modernen und spätmodernen Gesellschaften.38 Sogar unter Exponenten von Positionen, die fundamentale Kritik an klassischen Formen institutionellen Helfens üben, wird nach einer «neuen Kultur des Helfens» gefragt,39 wobei diese durchaus auch gesellschaftlich-politisches Engagement mit einschliesst. Anika Christina Albert hat unlängst in einer umfangreichen Studie über «Perspektiven einer Theologie des Helfens»40 gezeigt, wie die Begrifflichkeit des Helfens interdisziplinär Anknüpfungspunkte bietet und von daher durchaus geeignet ist, die damit bezeichnete Wirklichkeit als ein verschiedene Disziplinen übergreifendes Phänomen verständlich zu machen.41 Im Übrigen wechseln wir in diesem Buch bewusst zwischen Helfen/Hilfe, solidarischem Handeln, prosozialem |38| Verhalten und ähnlichen Begriffen ab, um so ein breites semantisches Feld abzustecken, innerhalb dessen deutlich wird, was Diakonie als «christliches Hilfehandeln zugunsten notleidender Menschen» meint.42

Helfen kann ganz allgemein-formal definiert werden als Intervention eines Akteurs zugunsten eines anderen – zur Erreichung eines von Letzterem vertretenen Ziels. Im sozialen Bereich erfolgt solch eine Intervention in der Regel als Beitrag zur Behebung einer Problemlage bzw. zur Befriedigung eines grundlegenden Bedürfnisses, das ohne fremde Hilfe nicht gestillt werden kann. Herbert Haslinger beschreibt solche Problemlagen als Situationen, «in denen Menschen unter einer aufgezwungenen Einschränkung von Lebensmöglichkeiten leiden, welche eine erfüllte individuelle Lebensführung bzw. eine gleichberechtigte Teilnahme am sozialen Geschehen erschwert oder verhindert».43 Dabei wird deutlich, dass die Frage, ob eine Situation als Problemlage angesehen wird oder nicht, nicht einfach objektiv beantwortbar ist, sondern immer mit kulturellen und individuellen Vorstellungen zusammenhängt. Ob Kinderlosigkeit in diesem Sinne ein Problem ist, dürfte in China, in Schweden und in Südafrika unterschiedlich gesehen werden, wie es auch innerhalb ein und desselben Landes von verschiedenen Paaren unterschiedlich empfunden werden dürfte. «Ganz offenbar ist es eine Frage der Interpretation, der Betrachtungsweise, ob eine bestimmte Wirklichkeit als soziales Problem bezeichnet wird oder nicht. Anders gesagt: Situationen oder Lebenslagen sind nicht in sich und von vornherein soziale Probleme, sondern werden als solche definiert» und «in einem sozialen bzw. letztlich gesellschaftspolitischen Definitionsprozess als solche durchgesetzt».44

Helfen beinhaltet dann all jene Aktivitäten, durch die jemand eigene Handlungsmöglichkeiten einsetzt, um den Mangel an Handlungsmöglichkeiten auszugleichen, der aufseiten derjenigen Person besteht, die sich mit dem betreffenden Problem konfrontiert sieht und dessen Lösung wünscht.45

Hilfe kann gewährt werden46

 |39| als Vermittlung von Gütern zur Behebung eines Mangels,

 als Vermittlung von Dienstleistungen, z. B. Therapien zur Behebung von krankhaften Zuständen,

 als Anleitung zum Handeln,

 als Beratung zur Orientierung oder Entscheidungsfindung,

 als Begleitung zwecks Ermutigung und Unterstützung oder

 als Engagement für gerechte, menschenwürdige Lebensbedingungen.

Sie bezieht sich je nachdem auf den ökonomischen, rechtlich-politischen, sozialen, pädagogischen, psychischen oder somatischen Bereich. Wenn man Seelsorge als Teilbereich der Diakonie versteht, kann sich Hilfe auch auf den spirituellen Bereich beziehen.

Sie kann erfolgen

 als spontane Tat,

 als planmässig organisiertes, professionelles Verfahren (z. B. einer Sozialarbeiterin),

 als Dienstleistungsangebot einer Institution (z. B. eines Heims) oder

 als öffentliche Einrichtung (z. B. Sozialversicherungen).

Dabei erfolgt Hilfe aus unterschiedlicher Veranlassung oder Motivation:

 aus einer empfundenen moralischen Forderung heraus,

 aufgrund der Bestellung einer entsprechenden, zu vergütenden Dienstleistung,

 aufgrund eines Rechtsanspruchs.

Idealtypisch lassen sich drei Modalitäten des Helfens unterscheiden:

 die Gabe (v. a. in archaischen Gesellschaften, wobei Reziprozität impliziert ist),

 das Almosen (in höher entwickelten Gesellschaften ist diese Art des hierarchischen Helfens ohne Erwartung irgendwelcher Reziprozität der Prototyp der guten, verdienstlichen Tat47) und

 die moderne, organisierte, professionalisierte, monetarisierte und bürokratisierte Hilfe, auf die zum Teil ein Rechtsanspruch besteht.

In diesem sehr breiten, allgemeinen Sinn sprechen wir im Folgenden von Diakonie als einer vielfältigen Praxis solidarisch-helfenden Handelns.

|40| 2.5 Der Kontext prägt die Perspektive

Auf einen letzten Punkt sei hier noch hingewiesen. Er hat zwar nicht die Bedeutung einer methodischen Grundentscheidung, dürfte aber für die Perspektive, die wir im Folgenden einnehmen, und für manche Akzente, die wir setzen, nicht ganz unerheblich sein: Wir schreiben aus einem schweizerisch-reformierten Kontext.

Fast alles, was heute an diakoniespezifischer, insbesondere diakoniewissenschaftlicher Literatur auf Deutsch geschrieben wird, steht auf dem Hintergrund der Diakonieverhältnisse in Deutschland mit einer stark abgestützten, flächendeckend präsenten, institutionellen Diakonie, die Tausende von Institutionen und Hunderttausende von Mitarbeitenden umfasst.48 Etwas Vergleichbares gibt es in der Schweiz nicht; viele der ursprünglich als diakonische Werke entstandenen sozialen Institutionen sind inzwischen von der öffentlichen Hand übernommen worden. Auch gibt es keinen nationalen Zusammenschluss diakonischer Werke.49 Davon, dass die diakonischen Institutionen zusammen das Gewicht von so etwas wie einem eigenen Wohlfahrtsverband hätten, kann nicht die Rede sein.

Auch wenn es uns nicht darum geht, uns von anderen Ausprägungen diakonischer Praxis und theologischer Diakonie-Reflexion in anderen Kontexten grundsätzlich abzugrenzen, sind wir uns doch bei der Ausarbeitung der folgenden Kapitel je länger je mehr bewusst geworden, wie sehr die institutionelle Realität und die gesellschaftliche Praxis, die uns umgibt, unsere Perspektive prägt. Neben der im Vergleich mit Deutschland völlig andersartigen Diakonielandschaft gehört dazu, dass wir in einem Land leben, das zwar weitgehend säkularisiert und zunehmend religiös pluralistisch ist, aber immer noch stark von einer christlich-volkskirchlichen Tradition geprägt wird. Es mag durchaus sein, dass z. B. vor dem Erfahrungshintergrund osteuropäischer Diakonie, die noch stark unter den Nachwehen eines jahrzehntelangen, militant atheistischen gesellschaftlichen Kontextes steht, ein stärkeres Bedürfnis nach einer sich dezidiert christologisch begründenden und vom nichtchristlichen Kontext abgrenzenden Diakonie besteht. Insofern ist unsere Perspektive zweifellos durch unseren Kontext bestimmt, der nicht für alle anderen repräsentativ und normativ sein kann.

Schliesslich werden die theologisch sensibilisierten Leserinnen und Leser unseres Buches wohl da und dort herausspüren, dass unser kirchlicher |41| Hintergrund reformiert, nicht lutherisch ist.50 Dazu kommt, dass wir uns auf die evangelische Diakonie-Tradition beschränkt haben; wir sind uns bewusst, dass dadurch die Entwicklung der katholischen Caritas-Praxis wie auch das diakonische Wirken anderer Konfessionen nicht gebührend gewürdigt werden können. Auch das wollen wir transparent machen. Denn es ist unseres Erachtens einfacher, ein faires Gespräch mit anderen Positionen zu führen, wenn man von vornherein offenlegt, woher man kommt und was die eigene Perspektive mit bestimmt.

|43| Teil 2: Hintergründe
|45| 3. Biblische Grundlagen
3.1 Alttestamentliche Perspektiven

Im alttestamentlichen Kontext geschieht helfendes Handeln in mancherlei Form. Wir wenden uns im Folgenden drei spezifischen Aspekten zu: Hilfe geschieht einmal als individuelles soziales Handeln zwischen Personen in vielfältigsten Lebenslagen, und zwar meist im Horizont einer Grossfamilie. Das unmittelbare mitmenschliche Hilfehandeln erfährt sodann im Laufe der Zeit eine Erweiterung in kodifiziertem Recht. Eine besondere alttestamentliche Form von Hilfe kann schliesslich in der Errichtung öffentlicher Räume für die Klage erfahrener Not gesehen werden.

3.1.1 Hilfe als soziales Handeln im Kontext von Sippensolidarität

Hilfe kommt im Alten Testament vor allem als Lebenshilfe im Rahmen der Familien- bzw. Sippensolidarität in den Blick. Solidarisches Handeln kam in diesem gesellschaftlichen Kontext ohne spezielle Institutionen und Expertenwissen aus. Die Sippe war in vorstaatlicher wie auch in staatlicher Zeit lange der einzige Bezugsrahmen, der Leben und Überleben ermöglichte. Beispiele solch gelebter Solidarität sind etwa die sogenannte Schwager- oder Leviratsehe (Dtn 25,5–10), also die Verpflichtung eines Mannes, beim vorzeitigen Tod seines Bruders dessen verwitwete Frau zu heiraten, damit deren soziale Einbindung und materielle Absicherung gewährleistet blieb; oder das Gebot, Vater und Mutter zu ehren (Ex 20,12), was konkret deren materielle Unterstützung und soziale Würdigung im Alter meint.

In den alttestamentlichen Texten kommen immer wieder typische existenzielle Notsituationen zur Sprache, zu deren Behebung Menschen auf die unmittelbare Hilfe anderer angewiesen waren. So zeigt etwa die Rut-Novelle in der Person von Rut sehr schön, wie im Horizont der Sippensolidarität die Probleme der Witwenschaft, der Kinderlosigkeit und des drohenden Hungers gelöst wurden: Ruth wurde ermöglicht, bei ihrem Verwandten Boas Ähren auf dem Feld zu sammeln (Rut 2,3 ff.), um so sich und ihre ebenfalls |46| verwitwete Schwiegermutter Noomi zu ernähren. Zugleich verhalf Boas Rut zu einer neuen (Schwager-)Ehe und zeugte mit ihr einen Sohn (Rut 3,1–17). Dadurch war sie bis an ihr Lebensende rechtlich, sozial und materiell abgesichert.

Für helfendes Handeln erweist sich das Ethos der selbstverständlichen Gastfreundschaft immer wieder als massgebend. Die Gastfreundschaft, insbesondere gegenüber Fremden, gehört zur allgemeinen altorientalischen Kultur und kommt in der Szene des Besuchs der drei Fremden beim Erzvater Abraham und seiner Frau Sara exemplarisch zum Ausdruck (Gen 18,1 ff.). Helfen heisst, Fremde als Gäste aufnehmen, sie mit Höflichkeit und Respekt behandeln, ihnen Schutz, Obdach und Speise gewähren. Die eigene Erfahrung von Fremdsein und Angewiesensein auf die Gastlichkeit Einheimischer prägt dabei die ganze Geschichte der Erzväter (Abraham: Gen 17,8; 23,4; Isaak: Gen 26,3; Jakob: Gen 28,4) sowie die Exodus-Tradition (Ex 6,4).

Exemplarisch für Notsituationen, die zu helfendem Handeln herausfordern, werden einerseits immer wieder Menschengruppen genannt, die ihre fundamentalen Lebensbedürfnisse nicht selbst abdecken können: Hungrige etwa, die darauf angewiesen sind, dass jemand ihnen Nahrung gibt, oder Nackte, die der Kleidung bedürfen (Ez 18,7). Andererseits kommen stereotyp Menschen in den Blick, die selbst nicht rechtsfähig und darum besonders leicht zu manipulieren und zu unterdrücken sind: Fremde, Witwen und Waisen (Jer 7,6).51

Die Funktion des Helfens im Blick auf in Not geratene Menschen wird nicht nur als selbstverständliche Pflicht jedes Israeliten verstanden. Beispielhaft dafür stehen weise Frauen oder Ratgeberinnen. Neben Prophetinnen kennt die alttestamentliche Tradition «weise» Frauen, die sich in politischen Notsituationen hilfreich einmischen und sich so massgeblich für die Rettung von Menschenleben einsetzen (vgl. 2Sam 14,1 ff.; 20,14 ff.). Explizit wird erwähnt, dass Frauen bei der Geburt helfen (Ex 1,15–22), Fluchthilfe betreiben (Jos 2), diplomatische Verhandlungen führen und durch weise Vermittlungsarbeit Konflikte für das ganze städtische Gemeinwesen schlichten (1Sam 25; 2Sam 20,14–22) sowie Fremde aufnehmen (1Kön 17).52

|47| Der explizite Auftrag des Helfens wird jedoch auch exemplarisch der Funktion des Königs zugeschrieben. In Psalm 72 wird das Idealbild eines Königs entworfen und von ihm erwartet, dass er «Recht schaffe den Elenden des Volkes, helfe den Armen und zermalme die Unterdrücker. […] Denn er rettet den Armen, der um Hilfe schreit, den Elenden, dem keiner hilft. Er erbarmt sich des Schwachen und Armen, das Leben der Armen rettet er. Aus Bedrückung und Gewalttat erlöst er ihr Leben» (Ps 72,4.12–14). Die Ausübung von Herrschaft wird an der Hilfekultur und Sorge im Blick auf die Armen gemessen.53 Die Kategorie Arme umfasst dabei sehr weit verstanden Menschen in irgendwelchen Situationen von Not und Bedrängnis.

3.1.2 Das Gebot der Nächstenliebe

Zentral für das alttestamentliche Ethos ist das Gebot der Nächstenliebe in Lev 19,18: «Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.» Herbert Haslinger macht deutlich, dass dieses Gebot «nichts von der individualistischen Pflege eines harmlosen, diffusen Sympathiegefühls an sich hat, aber – wie an seiner Rückbindung an die eigene Person (‹wie dich selbst›) abzulesen ist – auch nichts von der Naivität einer altruistischen Aufopferungsideologie. Die unmittelbar vorausgehenden bzw. nachfolgenden Bestimmungen zur Armenfürsorge (Lev 19,9 f.), zum Verbot von Diebstahl und Meineid (Lev 19,11 f.), zum Verbot der Ausbeutung und Schädigung Schwacher (Lev 19,13 f.), zum Verzicht auf Parteilichkeit oder Verleumdung (Lev 19,15 f.), zum Respekt vor Alten (Lev 19,32), zur Fremdenliebe (Lev 19,33 f.) und zur Ehrlichkeit vor Gericht (Lev 19,35 f.) definieren die Qualität des Gebots der Nächstenliebe. Es ist eingebunden in das Bemühen um Gerechtigkeit speziell für sozial benachteiligte Menschen und zielt auf die Verwirklichung einer solidarischen, humanen Gesellschaft, die getragen ist von dem Bewusstsein, dass jedem Menschen gleiche Würde und gleicher Wert zukommen.»54 Meint der Begriff Nächster hier wohl primär den Volksgenossen (unter Einschluss der in Israel ansässig gewordenen Fremden), tendiert die geforderte Haltung solidarischer Liebe doch ganz entschieden |48| dazu, die engen Volksgrenzen zu sprengen, was sich daran zeigt, dass in Lev 19,34 das Gebot der Nächstenliebe mit der gleichen Redewendung zum Gebot, den Fremden zu lieben, erweitert wird: «Du sollst ihn (sic. den Fremden) lieben wie dich selbst.»

Diese Haltung von Lev 19 macht deutlich – v. a. wenn sie noch zusammen gesehen wird mit Dtn 6,5 («Du sollst den HERRN, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit deiner ganzen Kraft») –, dass die für das Diakonieverständnis verhängnisvolle Behauptung Gerhard Uhlhorns, das Liebesgebot sei eine christliche Neuerung, weil die Welt vor Christus eine Welt ohne Liebe gewesen sei,55 vollkommen verfehlt ist. Im Gegenteil erweist sich das sogenannte Doppelgebot der Liebe, das immer wieder als christliches Proprium gedeutet wurde, als eindeutiges Erbe des Alten Testaments.

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