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Читать книгу: «Die illegale Pfarrerin», страница 4

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Am Hochzeitstag stiegen die beiden, wie Greti es vorgesehen hatte, in schlichten schwarzen Kleidern die Stufen zum Taufstein hinauf, als zwei aufrechte, einfache Menschen, Kameraden, die sich vollkommen bewusst sind, dass ihre Ehe etwas Schweres und Ernst­haftes sein wird.177 Mit zwei schwarzen Überseekoffern und zwei kleineren Koffern mit Gians Akkordeon und Gretis Handschreibmaschine178 setzten sie sich am darauffolgenden Tag in den Zug nach Zürich.


Zürich,
1916 / 1926

Ein Hörsaal voller Studenten. Mit einer Studentin. Wer diese jungen Menschen unterrichtet, wird die Frau unter ihnen ­immer im Blick haben, nicht nur ihrer Position in der Mitte ­wegen. Die Männer wirken uniformiert, ihre Anzüge zeichnen sie als Teil der Gruppe aus, während die Frau in ihrem dunklen ­Samtkleid sofort als Exotin sichtbar ist. Die Verhältnisse sind klar, es ist eine Welt der Männer, und auf den jovialen Beau mit dem gegelten Haar wie den freundlichen Musterschüler mit der runden Brille wartet nach dem Studium eine Position. Die Frau hingegen wird, egal wie sie auftritt, in dieser Gruppe immer zuerst als Vertreterin ihres Geschlechts wahrgenommen. Sie wird geduldet in der männlichen Übermacht, und ihre ­berufliche Zukunft ist wie ihre Anwesenheit im Hörsaal nicht vorgesehen.

Das Bild ist im Jahr 1916 an der ETH Zürich entstanden.179 So ähnlich muss es am theologischen Seminar Ende der 1920er-Jahre ausgesehen haben. 61 Studierende waren dort eingeschrieben, darunter zwei Frauen, eine von ihnen Greti Roffler aus Igis.

Examen
oder #MeToo 1930

Oktober 1930. Als Greti in Zürich ankam, war ihr, als sei sie nie weggewesen.180 Beinahe vergass sie, dass sie selbst sich sehr wohl verän­dert hatte. In gewohntem Tempo lief sie von Laden zu Laden auf der Suche nach einem passenden Kleid für das Schlussexamen.181 Doch sie spürte die Mühen der Schwangerschaft. Zwei Tage nach der Ankunft begannen die schriftlichen Prüfungen. Von den vorgegebenen Themen entschied sie sich für Die Heiligkeit Gottes ­anstelle von Die Hauptsätze der liberalen Theologie. Im Fach Ethik wählte sie Die modernen Eheprobleme und christliche Ethik.182 Hier hatte sie die Gelegenheit, ihre eigene Ethik der Ehe darzulegen, die sie in den vergangenen Jahren mehr aus dem Leben als aus dem Studium entwickelt hatte.183 Mit grossem Selbstbewusstsein und einer Nonchalance, die der nachgeborenen Leserin den Atem stocken lässt, gab sie ihren persönlichen Standpunkt in der Prüfung kurzerhand als christliche Ethik aus.

Die modernen Eheprobleme und christliche Ethik.184

Als Gegenstand christlicher Ethik! Gibt es denn eine andere Ethik? Etwa eine philosophische oder eine rein praktische, spekulativ nicht begründete? Es gibt überhaupt keine andere. Jeder Versuch, die sittlichen Normen anderweitig abzuleiten als aus Gottes Willen bleibt ein Versuch, bleibt beim Warum. (…)185

Die Hauptprobleme sind wohl die Fragen: 1. Ist die Monogamie die richtige und die einzige Form für die Ehe, 2. Ist die Form unseres heutigen Familienlebens die beste?

Zu der ersten Frage kann nur Eines gesagt werden. Es handelt sich nicht darum, ob der Mensch nun nur eine Frau oder einen Mann liebhat, sondern darum, wie ihre Herzen dabei stehen. Denn wer will bestehen, wenn wir an die Forderung Jesu denken! Es gibt keine Sicherung dagegen, dass ein zweiter Mensch unserem Herzen ebenso lieb sein wird. Es gibt nur Eines: einander186 die Freiheit zu lassen und es miteinander zu tragen und erleben. Es geht allein um die Gesinnung und darum, die Verantwortung ­tragen zu wollen. Es ist genau dasselbe Wagnis, einen Menschen aus seinem Leben auszuschliessen, wie ihn daran teilnehmen zu lassen. (…)

Die Frage nach der Form unseres heutigen Familienlebens ist meiner Meinung nach heute falsch gelöst. Der Vater ausserhalb der Familie, die Mutter innerhalb der Familie ergibt eine ganz falsche Zusammensetzung. Dass der Vater seine Kinder oft überhaupt nicht kennt, weil er nur während der beiden Mahlzeiten mit ­ihnen zusammen ist, die Mutter – und vor allem unsere Schweizer und deutschen Mütter – vor lauter Flickkorb und Küche nichts anderes mehr sehen, dies bedeutet eine ungeheure Verarmung der ­Familie. Wenn unsere Zeit für die Frau Freiheit zum Beruf fordert, so ist dies nur die eine Seite, wenn auch eine ungeheuer wichtige, die andere ist: mehr Zeit dem Vater für seine Familie. Unsere Fami­lien sind innerlich so aufgelöst, weil der Vater verlernt hat, in ihr, und die Mutter, ausser ihr zu leben. Die Mutter versteht die Pro­bleme ihrer Kinder nicht, weil sie sich nur mehr in ihrer Stube auskennt und der Vater, weil er seinen Kindern ein Fremder ist.

Greti Caprez-Roffler.

Eine angehende Theologin stellt zwei Grundfesten des traditionellen Eheverständnisses in Frage: die Monogamie und die Rollenteilung zwischen Mann und Frau. Das musste auf Professor Emil Brunner, der die Arbeit korrigierte, wie ein Paukenschlag wirken. Ob ihr etwa erst nach der Abgabe die Sprengkraft ihrer Thesen ­bewusst wurde? Auf jeden Fall bröckelte ihr Mut, offenkundig schwanger vor die Professoren zu treten, je näher die mündliche Prüfung rückte. Sie nahm einen teuren Luftpostbogen und füllte ihn bis an den Rand mit engen Zeilen. Liebes Brüderlein, schlafe gut, das kleine lieb. Habe mir einen unglaublich schönen Hut und Schirm erstanden, auch Kleid ordentlich. Hoffe, dass sie es nicht merken, trotzdem «es» schon gross und lebhaft. Bewegungen durch Kleider sichtbar. Ich Heimweh nach Dir. 187

In Brasilien waren inzwischen soziale Revolten ausgebrochen,188 Greti las täglich auf der Frontseite der Neuen Zürcher Zeitung davon: Im Bundesstaat Rio Grande do Sul ganz im Süden des Landes rebellierte das Militär gegen den neu gewählten Präsidenten Julio Prestes, einen Vertreter der Oligarchie São Paulos.189 Seit dem Börsencrash vor einem Jahr waren die Kaffeepreise stetig gesunken, an manchen Orten litten die Menschen Hunger.190 Bald kam es auch zu gewaltsamen Protesten im Nachbarbundesstaat São Paulos, in Minas Gerais. Die Regierung schickte fünf Flugzeuge mit Bomben und liess die Vorräte in den Lagerhäusern beschlagnahmen, um Lebensmittelspekulationen zu verhindern.191 Nun drohten die Aufständischen, mit vierzigtausend Mann auf Rio und São Paulo zu marschieren, falls sich die beiden Städte der Revolte nicht anschliessen würden.192 Als die Regierung den Ausnahmezustand bis zum Ende des Jahres verhängte,193 versuchte das brasilianische Konsulat in Zürich die Angehörigen der Auslandschweizer im Land zu beschwichtigen: In São Paulo herrsche vollkommene Ruhe, und der Präsident werde auch in den andern Regionen für Ordnung sorgen.194 Auch Greti übte sich in Gelassenheit. Ich habe nicht Angst um Dich, liess sie ihren Liebsten wissen. Wenn es nicht gutgeht, kommst.195

Zwischen den Prüfungen traf Greti ihre Freundinnen Verena Stadler und Henriette Schoch,196 die ebenfalls Theologie studiert, das Examen aber schon hinter sich hatten. Alle beschäftigte dieselbe Frage: Wo würden sie nach dem Studium einen Platz finden? Die Wirtschaftskrise traf das Pfarramt zwar nicht, denn an vielen Orten der Schweiz wurden Pfarrer fieberhaft gesucht.197 Aber eben keine Pfarrerinnen: Noch kein Kanton hatte das Amt für Frauen geöffnet. Im Aargau, in Basel-Stadt und Graubünden wurden intensive Debatten um die Zulassung von Frauen zum Pfarramt ­geführt. Zwölf Jahre zuvor hatten die ersten Theologinnen, Rosa Gutknecht und Elise Pfister, ihr Studium an der Universität Zürich abgeschlossen.198 Greti und ihre Freundinnen verfolgten den Weg der älteren Kolleginnen bang und hoffnungsvoll. Die warmher­zige Rosa Gutknecht empfanden sie als Mutter, während ihnen Elise Pfister streng und kühl erschien.199 Vorbilder waren sie ihnen beide. Die Zürcher Landeskirche hatte sie sogar ordiniert, und beide hatten eine Anstellung als Pfarrhelferinnen in grossen Stadtzürcher Gemeinden gefunden, Rosa Gutknecht am Grossmünster und Elise Pfister am Neumünster.200 In dieser Funktion erhielten sie jedoch nur halb so viel201 Lohn wie die männlichen Kollegen, und sie hatten sich mit denjenigen Aufgaben zufriedenzugeben, die die Gemeinden ihnen zuwiesen. Während Elise Pfister am Neumünster Glück hatte und alle Amtshandlungen ausführen konnte, durfte Rosa Gutknecht jeweils nur dann predigen, wenn der Pfarrer ausfiel.202 Immerhin spürten beide viel Unterstützung in ihren Gemeinden; Männer wie Frauen sprachen sie als Fräulein Pfarrer an und nicht etwa als Fräulein Pfarrhelferin.203

Gretis Freundinnen, Verena und Henriette, hatten schon erste Gehversuche als Aushilfspfarrerinnen gemacht.204 Henriette ging nun nach Zürich Wiedikon als Gemeindehelferin.205 Dafür wurde zwar kein Theologiestudium vorausgesetzt – die Vorgängerin war eine Art «Mädchen für alles» gewesen –, aber Henriette setzte dar­auf, mit der Zeit immer mehr theologische Aufgaben übernehmen zu können.206 Greti und Verena rechneten sich noch geringere Chancen auf eine Pfarrstelle aus, weil sie nicht mehr ledig waren. Verena suchte mit ihrem Verlobten, dem Theologen Walter Pfenninger, eine Gemeinde, die ihn als Pfarrer anstellen und ihr erlauben würde, mitzuarbeiten.

Seit dem ersten Tag an der Universität hatten die Freundinnen sich daran gewöhnt, ignoriert, argwöhnisch beäugt oder belächelt zu werden. Als Greti sich an der Theologischen Fakultät einschrieb, war sie neben Henriette die einzige Frau unter den Studierenden, Verena studierte damals gerade in Marburg.207 Die männlichen Kommilitonen hielten höfliche Distanz zu den beiden Exotinnen.208 Unendlich viel Schönes lag brach,209 erinnerte sich Greti später. Ich fand mich in einer Luft, tat nichts dagegen, setzte ein möglichst ernstes, reser­viertes Gesicht auf (…). Mit der Zeit gewöhnten sich die Kollegen jedoch an sie. An der kleinen theologischen Fakultät kannten sich Studierende und Dozenten, manche Seminare fanden zu Hause bei einem Professor statt210. Die Mitstudenten näherten sich Greti mit Witzen, sie nannten sie Ruedi Roffler und spekulierten, ob sie überhaupt weibliche Eigenschaften habe.211 Einer hatte ihr damals gar ein Gedicht gewidmet:

GRETLI THEOL.212

Verliebt gar tief

Hut meist schief

Ob schwarz ob blau

Sie trägt zur Schau

zwei schöne Zöpfchen

geflochten ums Köpfchen

die Ohren verdeckend.

Und Liebe erweckend

die Nase und Augen.

Sie könnte wohl taugen

Was nicht jede kann,

als Frau einem Mann.

Doch bleibt sie halt ledig,

s’ist wegen der Predigt;

doch eh’ ichs vergesse

es bietet Int’resse,

dass nebenbei sie

studiert Theologie,

das ist ganz unverdreht

unsere liebe Gret.

Allmählich hatten die Studenten Greti in ihren Kreis aufgenommen.213 Sie baten sie sogar, für den Studentenrat zu kandidieren, und sie tat es mit Erfolg. Auch für die Professoren waren die Studentinnen etwas Besonderes, sie standen unter Beweisdruck. Manche Dozenten beäugten sie argwöhnisch, andere liessen ihnen besondere Aufmerksamkeit zuteil kommen. Kaum einer stand den Frauen an der Universität gleichgültig gegenüber.214

Der liberale Theologe Ludwig Köhler gehörte zu den Förderern. Er hatte sich schon 1914 in der Synode, dem Parlament der Zürcher Landeskirche, für die Zulassung von Frauen zum Pfarramt eingesetzt.215 Greti kannte ihn seit ihrem zweiten Semester, als sie zur Theologie wechselte und er ihr Hebräisch-Privatstunden erteilte. Ich habe ein Höllenrespekt vor ihm, denn er ist sehr streng, obwohl er manchmal den Arm um meine Schulter legt, mir die Haare aus der Stirne streicht oder mich am Ohr zieht.216 Auch als sie später ein Semester in Marburg studierte, führte sie das Gespräch mit ihm fort. Fasziniert berichtete Greti ihm von einer Auseinandersetzung unter deutschen Theologinnen: Die Gemässigten trugen den Rock bis zu den Schuhen und das Haar lang und wollten sich mit einem Hilfspfarramt zufrieden geben, die Radikalen zeigten Bein und Bubikopf und forderten das volle Pfarramt. Diese mutigen Frauen wollten kämpfen und nicht warten, ob ihnen die von anderen gebratenen Tauben ins Maul fliegen möchten.217

1930, als Greti Schlussexamen machte, war Ludwig Köhler nicht nur ein renommierter Wissenschaftler auf dem Gebiet des Alten Testaments, sondern seit wenigen Monaten auch Rektor der Universität Zürich. Zeitgenossen beschrieben ihn als brillanten Rektor218 und als Lehrer aus Passion219. Fiel ihm ein Student auf, ob durch Fleiss oder weil er denselben Heimatort hatte, lud er ihn zu sich nach Hause zum Mittagessen ein. Ein Erstsemestriger erinnerte sich noch Jahre später an die Audienz: Als man mich ins Studierzimmer führte, sass der Universitätsrektor barfuss und in Hemdsärmeln auf dem kleinen Balkon in der Sonne, rauchte die Pfeife und las noch rasch vor dem Essen die Zürich-Zeitung, nahm mir mit freundlichem Plaudern bald die Befangenheit und führte mich in den Kreis seiner Familie ein.220 So jovial der Rektor seine Studierenden empfing, so heftig waren seine Standpauken: Wer nicht sechzehn Stunden am Tag arbeitet, bringt es in der Theologie zu nichts!221 Und wehe dem, der es wagte, ihn kurz vor Beginn einer Vorlesung anzusprechen, in diesen kost­baren Minuten der inneren Sammlung.222

Der intellektuelle Austausch hatte Greti in Brasilien gefehlt,223 und so besuchte sie, kaum war sie zurück in Zürich, ihren Professor im Rektorat.224 Als sie an seine Tür klopfte, ahnte sie nicht, was auf sie zukam. Erst Wochen später, im November, als sie das Examen längst hinter sich hatte und in ihrem Elternhaus auf die ­Geburt ihres Kindes wartete, gelang es ihr, das Erlebte im Tagebuch in Worte zu fassen.225 Wir sassen im Rektorat und sprachen über dies und das. Dann standen wir auf, wir wollten beide in die Stadt. Als wir zur Türe gingen, nahm er mich an sich und es geschah, dass seine Hoheit der Rektor in dem eleganten und hochlöblichen Rektoratszimmer zweimal meinen Mund küsste, was für mich so komisch war, dass ich das Lachen kaum verbergen konnte.226 Doch das Lachen verging ihr schnell. Köhler insistierte dreimal, sie solle nachmittags zu ihm nach Hause kommen, er sei allein, Frau und Töchter seien fort. Es gab für mich aber keine Möglichkeit zur Illusion, ich musste wissen, dass er viel mehr als nur einen Kuss wollte. Und ich ging nicht. Es gelang mir, dies alles und die Erregung darüber, die Angst vor ihm hinauszuschieben, auszulöschen, wenn auch mit Gewalt.227 Um die Prüfungen erfolgreich zu überstehen, musste sie ihre Kräfte jetzt bündeln.

Am Tag des Examens – ein Kollege Köhlers sollte sie prüfen – wartete Greti im Korridor vor dem Examenszimmer. Seit der Begeg­nung im Rektoratsbüro hatte sie den Professor nicht mehr gesehen.228 Nun, unmittelbar vor der Prüfung, trat er zu ihr und wies sie an, am folgenden Tag um zwei Uhr nachmittags zu ihm zu kommen. Über das Examen verlor sie im Tagebuch kein Wort. Sie ging nur auf das Danach ein. Als es vorbei war und ich abends die Strasse hinaufging, spürte ich doch, dass es zu viel gewesen war für das kleine Wesen. In meinem Unterleib trug ich ein schrecklich verzogenes, überanstrengtes Gefühl, und ich schlief nicht bis vier Uhr. «Es» war sehr ­unruhig.229

Tags darauf ging sie zu Professor Köhler, wie dieser sie geheissen hatte. Sie fürchtete sich vor der Begegnung und hoffte zugleich auf eine Aussprache.230 In ihrer Fantasie begegnete sie Köhler als Ebenbürtige, mit einer zärtlichen Geste, sah sich seinen Kopf in ihre Hände nehmen und ihm sagen, dass sie Gian liebe und ein Kind von ihm erwarte.231 Doch dazu kam es nicht. Als sie läutete, öffnete Köhler selbst232 und führte sie in sein verrauchtes233 Studierzimmer. Kaum standen wir in seinem Zimmer, riss er mich an sich und es wäre wie ein Sturmwind über mich dahingebraust, wenn ich ihm nicht gewehrt. «Gib mir deinen Mund», bat er zweimal, und er nahm ihn sich. Ich riss mich los, und im selben Augenblick sprach er von etwas anderem, mir die Türe zur Aussprache verschliessend.234 Stattdessen machten die beiden einen Spaziergang. Doch auch jetzt fand Greti keine Gelegenheit zu reden. In grosser Beschämung ging sie nach Hause. Was sie Köhler mitteilen wollte, fasste sie in einen Brief. Sie hoffte, die Sache damit ein für alle Mal zu klären.235 Weder der Brief noch eine Antwort sind überliefert.

Zehn Jahre vorher, Köhler war damals vierzigjährig und bereits Professor für Altes Testament, verfasste er Sinnliche und sittliche Liebe, einen Ratgeber für christliche Studierende. Darin stellte er die Sexualität zuerst als einen Kampf des Kulturwesens Mensch gegen den eigenen Geschlechtstrieb dar. Irgendwie müssen wir alle mit unserer Sexualität fertig werden. Dieser Kampf ist ein ganz persönlicher Kampf und nur auf dem Wege der persönlichen Entscheidung lösbar. 236Ganz nach protestantischer Lehre verteufelte er jedoch nicht die Sexualität per se, sondern stellte sie als heilig dar, sofern sie innerhalb der Ehe gelebt werde. Alles Heilige verlangt, damit man es zu schützen, zu hegen und pflegen vermag, eine gewisse Reife.237 Den jungen Männern empfahl er, die nötige Selbstbeherrschung mit Sport, Mässigung beim Essen und Frühaufstehen zu erlangen. Ausserdem redete er ihnen ins Gewissen, dass die Liebe für die Frau unendlich viel mehr238 bedeute als für den Mann. Wir Männer sind alle schuldig an der Frau. Die Frau ist angewiesen auf die Ritterlichkeit des Mannes. (…) Wer ein Weib aber bloss um seiner Sinne willen haben will, der begeht mehr als Mord; er zerbricht das Weib.239

Die klaren Worte, die Greti im Tagebuch fand, fehlten ihr im Brief an den Liebsten. Sie berichtete ihm nur verklausuliert von ihrem Besuch bei Ludwig Köhler. Er war allein zu Hause und nach einem merkwürdigen, blödsinnigen Vorspiel wanderten wir mitein­ander zum Grabe seiner Mutter (!!). Den Übergriff tat sie als Spiel ab, ja – eine freudsche Fehlleistung? –, gar als Vorspiel. Sie schilderte ihn wie einen bösen Traum, aus dem man erwacht und feststellt, dass alles gar nicht wahr ist. Ach Lieber, dies alles war so unglaublich, so unwirklich, und so komisch. Schreiben kann ich es Dir natürlich nicht, trotzdem es sich schwieriger erzählen lässt.240 Sie sorgte sich darum, was Gian von ihr denken mochte und wie er auf die Nachricht reagieren würde. Gleichzeitig appellierte sie an seinen Humor und sein Verständnis. Wenn Du es aber nicht tragischer nimmst als ich, wird dies ein komischer Abend werden für uns.241

Kurz vor seiner Emeritierung befasste sich Ludwig Köhler in einem Seelsorgeratgeber mit einem Phänomen, das er die Lebenskrise der Männer nannte.242 Männer, die im Berufsleben stehen, machen häufig um ihr fünfzigstes Lebensjahr herum eine ernstliche Störung durch und begehen dann leicht eine ganz grosse Dummheit. (…) Ein ­Generaldirektor brennt mit seiner blonden Sekretärin durch, es kommt zu Scheidungen, zu unvermitteltem Hausverkauf und Wohnungswechsel.243 Das liege daran, dass ein Mann in diesem Alter alle seine Ziele – Ehe, Familiengründung, Beruf, öffentliche Stellung – erreicht habe.244 Er ist am Ziel. (…) Das Leben ist langweilig und schal geworden.245 Zur Überwindung der Lebenskrise hatte der Theologe einen einfachen Ratschlag: Die Hoffnung auf das Reich Gottes.246

Als Greti die Prüfungsresultate erfuhr, war sie nicht zufrieden. Sie hatte zwar bestanden, aber statt der Bestnote Eins hatte sie ledig­lich eine Zwei erhalten.247 Vier der sechs Frauen, die vor Greti ins Examen gegangen waren, hatten eine glatte Eins erreicht, dar­un­ter auch ihre Freundin Verena.248 Die Theologinnen wussten,249 dass ihre Leistungen in der Debatte um die Zulassung zum Pfarramt in die Waagschale geworfen wurden. Nur zu gern hätten sich die Kritiker bestätigt gesehen in ihrer These, eine Frau sei intellektuell ohnehin nicht fähig zum Pfarramt.250 Es war wirklich nicht glänzend, schrieb Greti dem Liebsten ernüchtert. Zuerst kam das Alte Testament bei Hausheer. Er prüfte schön, aber ich warf den Nebukadnezar und Pharao Necho durcheinander. Dann kam Dogmengeschichte, Gut fragte mich über Theologie des 19. Jahrhunderts, wovon er wusste, dass ich es nicht gearbeitet. Dann Brunner in praktischer Theologie: Verhältnis von Text und Thema in der Predigt. Dies war einfach schön. Dann eine Viertelstunde Pause. Es folgte Neues Testament bei Schenk, wo ich mich von vornherein auf eine Frage einstellte, die dann nicht kam.251 Die hoffnungsfrohe Gelassenheit, die sie auf der Überfahrt noch erfüllt hatte, war verflogen.

Ein Jahr getreulich geleisteter Arbeit, siebzehn Jahre Lernen und immer ein Ziel vor Augen, und nun nichts mehr. Nun mässig abgeschlossen und vor mir lauter Fragen. Ich fand mich ohne Boden unter den Füssen.252

Über drei Jahrzehnte später, im Alter von 55 Jahren, erinnerte sich Greti in einem Brief an eine Bekannte an ihre Studienzeit. Noch als Gymnasiastin habe sie einen riesigen Respekt vor Autoritäten gehabt. Dann verlor ich als Studentin vor Lehrern die Achtung, als ich hinter die Kulissen sah.253

2 704,51 ₽
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527 стр. 29 иллюстраций
ISBN:
9783038551935
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