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Читать книгу: «Die illegale Pfarrerin», страница 3

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Zürich,
9. September 1929

Zwei Bilder. Greti trägt auf beiden ein sackartiges Kostüm, der Rock reicht bis weit über die Knie. Erst die Bildlegende102 ­erzählt von einem nahezu revolutionären Akt. 9. Sept. 1929 in ­Zürich vor dem Haarschnitt steht links, nach dem Haarschnitt rechts. Eben noch, auf dem Mühlesteg beim Hauptbahnhof, trägt sie die schwarzen Strähnen kunstvoll in einem Zopf hochgesteckt. Geistesgegenwärtig macht ihr Begleiter, vermutlich Gian, einen Schnappschuss von ihr. Nach vollbrachter Tat posiert Greti mit der neuen Frisur am Bahnsteig. Die Haarspitzen kräuseln sich gleich bei den Ohren. Die Haare sind gefallen: das äussere Symbol der inneren Selbständigkeit,103 hat Verena der ­Freundin vor einem halben Jahr geschrieben. Auch Gians Schwester ­Elisabeth, die Pferdekutschen und sogar Autos lenken kann, trägt ihr Haar kurz.104

Den Kopf neigt Greti leicht zur Seite – wie um zu relativieren: Gar so aufmüpfig bin ich doch nicht, wie es der Bubikopf ­signalisiert. Die Gesichtszüge wirken gelöst, die Augen blitzen voller Schalk dem Gegenüber direkt ins Gesicht. Einen Tag ­zuvor, am 8. September 1929, haben Greti und Gian in Igis ­geheiratet, im Kreis der engsten Verwandten. Von diesem Tag gibt es ein unprätentiöses Foto einer Gruppe auf einer Wiese, die Braut in einem schwarzen Kleid zwischen ihren Schwestern, der Bräutigam am Rand. Der Anlass liesse sich nicht erkennen, stünde da nicht das Datum. Wichtiger scheint es Greti, den Haarschnitt am Tag danach zu dokumentieren, kurz vor der ­Abreise nach Brasilien. Ihre linke Hand drückt den Daumen. Seit langem hat sie sich danach gesehnt, mit dem Liebsten in die Welt hinauszuziehen. Nun ist es so weit.

Genese
einer Feministin

Wie hatten sich Greti und Gian nacheinander verzehrt, damals in den Jahren ihrer Studentenliebe in Zürich! Oft war es ihnen schwer gefallen, ihr Begehren zurückzuhalten. Dass sie stark bleiben und das Letzte – den Koitus – erst in der Ehe tun würden, war beiden klar. Als sie darüber sprachen, äusserte Gian seine Angst, sie könnten sich in einem innigen Moment vergessen. Greti teilte seine Sorge, konterte aber gleichzeitig: Für mich ist die Leidenschaft nicht etwas Schlechtes. Sie ist die Erlösung aus der Gefühlsarmut, der «Wohlanständigkeit» und kulturüberkleisterten Unechtheit. (…) Sie lässt uns die Welt in ihrer ganzen Farbigkeit und Schönheit empfinden und sehen.105 Freilich war es für Greti ebenso wichtig, im rechten Augenblick Nein sagen zu können.106

Ein Erlebnis mit dem Liebsten blieb Greti besonders im Gedächtnis.107 Es war das Jahr 1927, ein lauer Frühsommerabend, und Gian holte sie von einem Seminar an der Universität ab. Gemeinsam schritten sie in die sternenhelle Nacht hinaus, als er sie in seine Studentenbude einlud. Dort sassen sie eine Weile lang schweigend Schulter an Schulter nebeneinander. Die Leidenschaft kam über uns. Wir lagen Hand in Hand, Mund auf Mund in dem dämmerartigen, guten, ausgleichenden Dunkel. Was nun geschah, verschlüsselte Greti im Tagebuch mit griechischen Buchstaben. «Du wäre es so schrecklich, wenn wir uns einmal ganz nackt umarmen würden?» Er fragte es leise und zaghaft. Was mochte es gebraucht haben, bis er es überhaupt sagen konnte! Meine Antwort war ein banges Fragen: «Können wir dann noch stark bleiben?» (…) In plötzlichem Entschluss streifte ich mir das Gewand von der Schulter und barg in heisser Scham meine nackte Brust an der seinen – und dann lagen wir Mann und Weib. (…) Es war ganz anders als ich es je gedacht. Ein grosses, reines, ruhiges Stillsein erfüllte uns. Es war keuscher, als da wir uns je in Gewändern berührt. Selbst der Trieb schien ausgelöscht. Ein grosses Staunen über sein Gutsein über sein wundersames Stillesein erfüllte mich. Wenn ich mich auch einen Augenblick geschämt, so war das doch nur der Kampf ge­gen unsere Erziehung (…). Schämte ich mich denn vor meinen Schwestern, schämten wir uns denn vor einem Arzt, der uns doch ein ganz fremder Mensch? Hier aber war es das Wesen, das zu dem meinen gehörte, der Mensch, der meinem Sein, Sinnen und Fühlen am Engsten verbunden (…).108

Greti vertraute das Erlebnis Hildi Hügli an,109 ihrer besten Freundin aus der Kantonsschule, die in Bern studierte. Doch die konnte in der Entsagung kein höheres Ziel erkennen. Wir mögen eines vom andern noch so tolles Zeug verlangen, keines kann nein sagen,110 offen­barte sie Greti und spitzte deren Argumentation zu: Wenn Sinnlichkeit gut (…) – ja, sogar göttlich – war, dann musste das doch auch für die Zeit vor der Ehe gelten. Denn der Mensch ist Eines, er zer­fällt nicht in einen verachteten gierigen Leib und in eine vergötternde, verachtende Seele.111 Die Leidenschaft zu bekämpfen sei ein Vorurteil. Diesen Schritt konnte und wollte Greti jedoch nicht mitgehen. Du hast den kostbaren, unendlich süssen Kern, der im Warten (…) liegt, nicht erkannt,112 verteidigte sie sich. Und dennoch brachten Hildis Worte sie ins Grübeln. Ich suche schon lange zu finden, warum ich Deinen Weg verurteile, oder vielmehr, warum etwas in mir so gegen die Liebe ohne Papier weht. (…) Vielleicht wird es auch mit der Zeit anders. Als ich im Frühling bei Dir war, sah ich, wie just das, was ich verurteile, Dich geändert, liebwerter, menschlicher gemacht, Dein ganzes Wesen in frühlingshafter Lieblichkeit durchflutete. (…) Und als ich letzten Sonntag (…) beim Gianin in seiner Bude war, gab er mir ein Buch mit: «Das Liebesleben in der Ehe», und als ich es las, fragte ich mich: «Warum stemme ich mich eigentlich dagegen, dass dasselbe ohne Band getan??» Ich weiss nur das Eine, dass dadurch mein ganzes Wesen vernichtet würde und ich nie mehr aufstehen könnte.113

Unter dem Eindruck der innigen Zeit mit Gian fragte sich Greti schliesslich, ob sie das Studium an den Nagel hängen sollte. Wäre es nicht schön, bald zu heiraten, anstatt sich weiterhin mit Dogmengeschichte und Eschatologie abzumühen? Gegenüber einer Freundin, die vor kurzem geheiratet hatte, gab sie sich am Ende des vierten Semesters überzeugt: Du und ich, wir werden unser Lebtag nichts Rechtes als studierte Frauenzimmer. Wohl stecken in uns zwei tüchtige Mütter und treue, starke Kameradinnen für einen Mann. Aber laut darf man solche Dinge nicht sagen, (…) sonst werden gewisse ­Väter ­rabiat.114 In den Sommerferien in Igis bei ihren Eltern, als sie das an­derthalbjährige Tineli, die Pflegetochter, im Wagen herumschob, wuchs in ihr die Sehnsucht nach einem eigenen Kind.115 Doch als sie im Herbst wieder an die Universität zurückkehrte, erwachte die Leidenschaft für die Theologie wieder.116

Inzwischen hatte Joos Roffler bei der Bündner Landeskirche den Stein ins Rollen gebracht, der seiner Tochter den Weg ins Pfarramt bahnen sollte.117 Am 13. Juli 1927 beantragte er beim kantonalen Kirchenrat, die Bündner Landeskirche solle künftig auch Frauen in die Synode (das kantonale Pfarrerparlament) aufnehmen. Aus­serdem solle man Studentinnen zur Zwischenprüfung, dem Propädeutikum, zulassen, denn es waren nicht die Universitäten, sondern die Landeskirchen, die angehende Theologen prüften. Zwar hatte die Universität Zürich 1914 eigens Fakultätsexamen für Frauen eingerichtet,118 dieses berechtigte aber nicht zum Pfarramt. Joos Roffler begründete seinen Antrag rhetorisch geschickt mit dem angeblich typischen Bündner Pioniergeist. Wenn unser Kanton (…) auf diesem Gebiete vorangeht, so würde ihm das sicher nicht zur Unehre gereichen. Er ist schon einmal, 1526, durch die Einführung der Glaubens- und Gewissensfreiheit, der ganzen Welt vorausgegangen, und wir freuen uns heute noch darüber.119 Rofflers Forderung erregte derart grosses Aufsehen, dass in den Zeitungen tagelang hitzig debat­tiert wurde, ob eine Frau das Recht und die Fähigkeit habe, Pfarre­rin zu sein. Das Wort ergriffen meist andere Pfarrer, jedoch anonym.

Der freie Rätier, 24. September 1927

Autor: R. [Pfarrer Heinrich Roffler, Vicosoprano,

ein Namensvetter von Joos]120

Ist die Frau rein physisch schon den Anforderungen des Pfarramts121 gewachsen? Man denke an unsere oft weit auseinander liegenden, zur selben Pfarrgemeinde gehörenden und nur durch lange und mühevolle Wege zu erreichenden Bündner Bergdörfer! Man denke an Sturm und Wetter, Eis und Schnee! Im ganzen darf wohl gesagt werden, dass das Pfarramt Kraft und Männlichkeit erfordert.

Neue Bündner Zeitung, 20. Oktober 1927

Autor: Cu. [Pfarrer Peter Paul Cadonau, Ardez]122

Nach evangelischer Auffassung soll die Predigt die Verkündigung des Wortes Gottes sein, also einer objektiven Grösse. Je klarer, ruhi­ger, sachgemässer das geschieht, desto besser ist die Predigt. Nun ist aber gerade die Objektivität nicht die Stärke der Frau. Wir ­haben im praktischen Leben ja oft Gelegenheit, uns darüber zu freuen, dass unsere Frauen die Dinge von der persönlichen, empfindsamen Seite betrachten, und dass sie gerade dadurch uns Männern vielfach überlegen sind. Nun ist aber das eine Eigenschaft, die gerade auf der Kanzel nicht an ihrem Platze ist.

Neue Bündner Zeitung, 24. Oktober 1927

Autor oder Autorin: L.

Es mag dies in vielen Fällen richtig sein. Der Mann ist zumeist Verstandesmensch, während die Frau Gemütsmensch ist. Nun ist aber die Religion eine Sache des Gemütes in erster Linie. Und ­darum halte ich dafür, dass die Frau für das Predigeramt nicht so ganz ungeeignet ist, wie der verehrte Artikelschreiber es dartun will.

Neue Bündner Zeitung, 25. Oktober 1927

Autorin: Eine alte Frau

Sitzen derzeit manchenorts in der Kirche nicht mehrheitlich ältere Frauen und Kinder, und die Männerstühle sind fast leer? Wir Frauen haben nun das kirchliche Stimmrecht. Freuen wollen wir uns, wenn eine oder mehrere Predigerinnen bündnerische Kanzeln besteigen.

Neue Bündner Zeitung, 3. November 1927

Autor oder Autorin: D.

Der natürliche Frauenberuf ist eigentlich der Mutterberuf, und es ist nicht vom Guten, dass sich die Frauen immer mehr in die Männerberufe hineindrängen, auch in die sogenannten Gelehrtenberufe (…). Darunter hat die Familie schwer zu leiden.

Greti schnitt jeden einzelnen Artikel aus und klebte sie alle in ein graues Heft, das sie mit Gehört die Frau auf die Kanzel? beschrif­tete. Die Vehemenz, mit der die Gegner des Frauenpfarramts zum Kampf bliesen, weckte ihren Widerstandsgeist.123 Es war ihr bisher fern ge­le­gen, sich als Frauenrechtlerin zu bezeichnen. Wie die meisten ihrer Freundinnen und Kollegen empfand sie nur Grauen, wenn sie die Stichworte Frauenstimmrecht und Frauenbewegung hörte.124 Eine Frauenrechtlerin war für sie nichts anderes als ein ­Drachen, der nichts von Haushalt versteht, die Kinder und den Mann vernach­läs­sigt, in Versammlungen läuft und Vorträge hält (…).125 Doch angesichts der Debatten um ihren Wunsch, Theologin zu werden, angesichts der Distanz zwischen ihrem eigenen Selbstverständnis und dem, was andere ihr zugestehen wollten, und angesichts der Fremdheit, die sie empfand, wenn sie die Kommentare in den Zeitungen las,126 erkannte sie die Notwendigkeit zu kämpfen und für ihre Sache Begriffe zu finden. Der Kampf der Theologin mit ihrem Weg liess die Frau in mir ihrer Gebundenheit, ihrem Sklaventum – trotz der Freiheit der Schweizer! – erkennen. Und ich sah verwundert dem Umschwung meiner Ansichten zu.127 Erstaunt erzählte sie Gian davon, bange, wie er wohl reagieren würde. Siehst Du, dass ich auf dem Weg zur Frauenrechtlerin bin? Kannst Du mich auch so noch lieb haben? Er jedoch lachte, nahm sie in seine Arme und beruhigte sie: Du hast ja recht!128

Greti war unendlich erleichtert über Gians Verständnis. Zu ­Beginn des Jahres 1928 drückte sie ihre Verwunderung und Dankbarkeit darüber aus, dass sie sich gefunden hatten. Sie erkannte sich in der Protagonistin eines Romans wieder, den sie gerade las.129 Vor allem erfüllte mich eine tiefe Freude, dass Du schon das bist, wozu die Erna ihren Verlobten erst erziehen muss: dass er sie nicht als Weib, als Erholung und besseres Spielzeug, sondern als ganzen Menschen mit eigenem Selbst, als Kameraden und Freund werte. Aber frei zu werden aus der Bemutterung durch das Vaterhaus und die engere Heimat hatte auch ich, und dazu solltest Du mir helfen. Hinaus in die weite Welt und fremde Lande und Schicksale sehen!130 Vielleicht war ihr Vater sogar allmählich bereit, sie loszulassen. Immerhin hatte er in seiner Weihnachtspredigt davon gesprochen, wie er einst an der Wiege seines ältesten Kindes gestanden hatte, voll Freude und Hoffnung, es möchte einmal grösser, stärker und freier als er selbst werden.131 War sie nicht auf dem besten Weg, diese Hoffnung zu erfüllen?

Wenn sie sich ihre Zukunft mit Gian ausmalte, dann hatte sie ein komplett anderes Bild vor sich als das, das ihre Eltern abgaben. Ihrer Schwester Elsi erklärte Greti: Siehst Du, unsere Eltern bilden eine der glücklichsten Ehen, die es überhaupt gibt. Aber ich möchte sie doch nicht erleben, weil ich von einer Ehe noch mehr verlange.132 Ihre Mutter sei dem Vater ein liebes und tüchtiges Weib, könne aber bei vielem nicht mitreden, weil sie zu wenig gebildet sei. Aber siehst Du, unser Vater empfindet dies gar nicht (…). Dass eine Frau dem Manne aber Kameradin und Geistesgefährtin sein kann, die ihn auch in seinem wissenschaftlichen Streben versteht, weiss er gar nicht, und deshalb fehlt es ihm auch gar nicht. Unsere heutige Generation aber weiss dies alles.133 Greti war sich sehr wohl bewusst, dass es auch in ihrer Gene­ration viele Männer – und Frauen – gab, die anders dachten, und setzte ihre Hoffnung darum in die Zukunft: Es wird die Zeit kommen, da jeder Mann erkennen wird, dass er sich selbst erniedrigt, wenn er meint, ein ungleichwertiges Wesen zu seiner Liebsten zu machen.134

Anfang Februar 1928 – seit der Begegnung am Bündnerball waren nun zwei Jahre vergangen – wollte Greti ihrer Liebe zu Gian eine Zukunftsperspektive geben. Da war die Erfahrung, von ihm mit all ihren Facetten, ihrem schroffen Charakter und ihrer neuen Identität als Frauenrechtlerin, geliebt zu werden, aber auch die Sehnsucht danach, endlich mit ihm zusammenzuleben und sich in der Sexualität nicht mehr zügeln zu müssen. Zwar hatte sie sich entschieden, weiter zu studieren, weswegen sie den Gedanken an eine baldige Familiengründung beiseiteschob. Dies schloss ­jedoch eine Heirat nicht aus. Sie fasste sich ein Herz und setzte ihren Eltern den Plan in einem Brief auseinander: Giannin und ich werden in einem Jahre heiraten (…). Kinder werden wir dann ca. fünf Jahre noch keine haben (aber nicht nach altväterischer Verhütungs­methode, weil die zu unsicher ist und ich nicht jeweilen in der Luft hangen gelassen sein will.) Euch werden die Haare zu Berge stehen: horribile dictu, ist dies eine schamlose Jugend, dass sie solche Dinge so frei und frank heraus sagt. Reinheit im landläufigem Sinne heisst aber nichts anderes als Nichtwissen um Dinge, die nun einmal sind. Wirkliche Reinheit ist etwas ganz, ganz anderes. (…) Ich kann nicht aus meiner Haut und hoffe, dass Ihr mich nicht an dem hindern werdet, was ich für recht und notwendig, mir und Gott gegenüber erkannt habe.135

Gretis Brief löste im Igiser Pfarrhaus helles Entsetzen aus. Glaubst Du etwa, dass Papa hocherfreut darüber ist?,136 schalt Betty ­Roffler die Tochter. Als ich ihm den Brief vorlas, ist er im Studierzimmer herumgereist und hat Euch nicht die sanftesten Namen gesagt. Dann meinte er aber, es hätte (…) gar keinen Wert, dass Du noch weiter studierest; das sei ja das Geld zum Fenster hinausgeschmissen. Da sei es am gescheitesten, Ihr verlobet Euch bald und nachher sage er dem Bündner Kirchenrat, er solle die ganze Motion ins Kamin hängen. Es habe doch keinen Wert, dass man solches Tam Tam mache um nichts. Auch das Examen im Frühling lässest Du dann gescheiter beiseite.137 Erst kürzlich hatte der Kirchenrat Greti zum Propädeutikum, der kanto­nalen theologischen Zwischenprüfung, zugelassen, und sich dafür ausgesprochen, künftig auch Frauen in die Synode aufzunehmen. Nun lag der Ball bei den regionalen Pfarrerparlamenten, den Kol­lo­quien, und auch dort liessen die Diskussionen hoffen. Nur in Prätti­gau-Herrschaft, wo auch Rofflers Heimatdorf Furna lag, hatte man seinen Antrag abgelehnt.138 Leider war von dort nichts ande­res zu erwarten gewesen, schliesslich führte Jakob Rudolf Truog die Geschäfte, Pfarrer unten im Tal in Jenaz und vehementer Gegner des Frauenpfarramts. Truog liess keine Gelegenheit aus, im Kirchenrat gegen die Theologinnen zu wettern, und auch in den Zeitungen schoss er mit scharfer Munition. Von allen andern Kolloquien kamen aber positive Signale, und so sah Joos Roffler zuver­sichtlich der Synode entgegen, die die Sache im Sommer besiegeln sollte. Wenn Greti nun aber heiraten wollte, waren seine Bemühungen umsonst gewesen, denn die Debatten drehten sich nur um ledige Theologinnen.

Die Mutter wunderte sich mehr über Gretis Illusionen punkto Familienplanung. Die Tochter stellte sich das mit der Verhütung etwas gar einfach vor. Und zuletzt kommt dann ungerufen ein Pöps nach dem andern. Auch, dass Greti so offen über ihre Lust schrieb – dass sie nicht in der Luft hangen gelassen werden wollte, hiess ja nichts anderes als: Sie wollte nicht unbefriedigt bleiben139 –, missfiel Betty Roffler. Vermutlich hatte die Lektüre des feministischen Sexualratgebers von Marie Stopes, Das Liebesleben in der Ehe, der Tochter die Ehefreuden nähergebracht.140 Von wem hast Du eigentlich das mir gegebene Buch? Ich habe es zwar noch nicht fertiggelesen, aber soviel habe ich doch daraus gesehn, dass mein Mann auch ohne Buch ein sehr rücksichtsvoller Gatte war, der nie etwas forderte, was ich nicht selbst wollte, oder ohne dass er mich dazu geneigt machte, ausgenommen freilich die alte Verhütungsmassregel.141 Die Mutter bat Greti, das Buch ihren Schwestern nicht zu geben, besonders der unbesonnenen Elsi nicht, denn dadurch würde sie sich ihrer Regungen erst bewusst.142

Greti gefiel weder Ton noch Inhalt der elterlichen Reaktion. Ihr behandelt mich auch gar als naiven Gof,143 beklagte sie sich. Das Buch ermuntere nicht zum Sex, vielmehr diene es dazu, die eigenen Gefühle zu verstehen und einen Umgang damit zu finden, sei es, indem man sie sublimiere oder indem man heirate. Oder meinst Du Mama, es sei besser, vor Elsi werde einfach alles totgeschwiegen, «es» komme dann einmal über sie und sie sei der Sache ausgeliefert?144 Nein, das konnte die Mutter unmöglich wollen. War Euer Jahrhundert denn so ganz anders als wir sind?145 Greti weigerte sich, auf die Argumen­­ta­tion der Mutter einzusteigen und hielt an ihrer schonungs­losen Offenheit fest. Sie offenbarte den Eltern gar, dass sie, als Gians Schlummermutter aus dem Haus war, einmal bei ihm übernachtet habe, beide keusch in Kleidern nebeneinander liegend.146 Diesmal versuchte Joos Roffler die Tochter nicht mit einer Stand­pauke, sondern mit rationalen Argumenten zur Vernunft zu bringen. Ein unbeherrschter Augenblick, und es ist geschehen. Nein Greti, traue Dir nicht zu viel zu. Unverhofft ist schon oft über manchen Frommen die Versuchung kommen. Du bist nicht einmal fromm. Also arrangiere Dich anders.147

Zunächst blieb alles beim Alten: Greti studierte weiter, und die Heirat war vorerst kein Thema mehr. Unter den Augen des ganzen Kantons legte sie ihr Propädeutikum ab. Kurz zuvor spottete sie Gian gegenüber: Wenn ich durchkomme, hast Du die berühmteste «Frau» in Graubünden zur Liebsten, und wenn ich fliege, die unmöglichste. Für mich ist es natürlich dann schon am schönsten, wenn ich einfach unter einem andern Namen verschwinde, d. h. das Greti Roffler aufhört zu existieren und daraus ein Greti Caprez wird. Nur der Ätti ist zu erbarmen, denn seine Tochter wird es immer sein, die durchgeflogen ist.148 Der Vater brauchte sich nicht zu schämen: Seine Tochter bestand die Prüfung mit der Note gut. Sechs Wochen später trafen sich alle Pfarrer aus Graubünden in Klosters zur Synode, um über die Zulassung der Frau zum Pfarramt zu diskutieren. Nach den regionalen Kolloquien beschloss nun auch die Synode mit 51 zu 4 Stimmen, dem Volk eine Vorlage zur Abstimmung vorzulegen: ­Zulassung der (ledigen) Theologin zum Pfarramt.

Der Vater schöpfte Hoffnung, doch Greti fühlte sich eingeengt ob der Pläne, die er für sie schmiedete. Er habe kein Recht, stolz zu sein auf seine Tochter, hielt sie ihm vor: Ich bin weder ein Genie noch sonst etwas Besonderes, sondern nur ein ganz, ganz mittelmäs­siger Mensch (…).149 Besonders regte sie sich darüber auf, dass er die Gesetzesvorlage in einem Artikel als Lex Grete bezeichnet hatte. Erstens heisse sie gar nicht so, und zweitens wolle sie keinesfalls mit dem Gesetz in Verbindung gebracht werden. Mir ist diese ganze Komödie zum Davonlaufen verekelt. (…) Spotten werden sie sowieso, wenn sie erfahren, dass ich heirate, und es wird ihrer etliche geben, die es mir sehr, sehr verübeln, dass ich die ganze Aufregung für nichts verursacht habe.150

In den Weihnachtsferien 1928 kam es im Pfarrhaus in Igis zum Eklat. Nach dem Ende der Vorlesungen war das Liebespaar aus Zürich angereist. Gian, frisch gebackener ETH-Ingenieur, wollte zu den Festtagen weiter nach Pontresina zu seinen Eltern fahren. Beim Mittagessen am Pfarrhaustisch sprachen Greti und Gian ­davon, sich zum Jahresende verloben zu wollen. Joos Roffler stand abrupt auf und verliess den Raum mit den Worten: Ich bin wenigstens noch nicht gefragt worden!151 Gian, sich des Ernsts der Lage offensichtlich nicht bewusst, lief ihm nach und fragte, ob der Schwiegervater in spe einen offiziellen Briefbogen hätte, er wolle einen formellen Antrag stellen. Doch Joos Roffler ertrug keinen Spass. Er liess Gian stehen, ging zurück zur Tochter und bellte: Wenn Du diesen heiratest, kommst Du mir nie mit ihm ins Haus und gebe ich Dir keinen roten Rappen.152 Dann ging er aus dem Haus und liess den Rest der Familie konsterniert zurück.

Später redete Greti ihm ins Gewissen: Er könne doch nicht im Ernst erwarten, dass der Freund der Tochter, die er so frei erzogen habe, bei ihrem Vater um ihre Hand anhalte – ausser sie würde dasselbe bei seinem Vater tun!153 Gian seinerseits schickte Joos Roffler einen Brief, in dem er einen versöhnlichen, allerdings immer noch ironischen Ton anschlug. Ich bin ein hochmütiges, freches ­Engadinerfrüchtlein, das ist doch Ihr Urteil über mich, und Sie haben vollkommen recht; denn was sich heute Mittag im Studierzimmer zugetragen hat, bestätigt es, und mich wundert, dass Sie mir nicht sofort die Türe gewiesen haben.154 Nachdem der Zorn verraucht war, besann sich Gretis Vater. Ich will gerne zugeben, dass ich noch in altväterischen Anschauungen befangen bin. (…) Dass Sie anders eingestellt sind, kommt wohl weniger von Ihnen als von Greti (…). Ich betrachte sie mit ihren modernen, der Frauenemanzipation entsprungenen Ideen als die intellektuelle Urheberin der ganzen Geschichte.155 Schliesslich gab der Vater den beiden seinen Segen. Es nützte ja doch nichts, gegen den harten Schädel seiner Tochter kam er nicht an.

Auch Gians Eltern stimmten der Verlobung zu. Seine Mutter, die zu Beginn ihrer Beziehung noch grosse Vorbehalte gegenüber Greti geäussert hatte, sah in ihr nun eine verständnisvolle liebe ­Gefährtin für den einzigen Sohn.156 Um sie noch mehr für sich zu gewinnen, stellte sich Greti als beflissene Schwiegertochter dar. Ich möchte noch viel von Ihnen lernen, um einmal Gianin eine tüchtige Hausfrau zu werden. Wir sind auf dem Wege, der uns zueinander führt, schon ein gut Stück gegangen. Wir müssen ihn aber doch zu Ende gehen, bis Sie mir auch zur Mutter werden (…).157 Damit war das Eis endgültig gebrochen, und Gians Mutter trug ihr das Du an.158

Vor der Verlobung überreichte Greti ihrem Liebsten ein blaues, liniertes Heft, das sie auf der ersten Seite mit Illustration einer ­Studentenliebe. Gian Caprez zu Weihnachten 1928 in Liebe zugeeignet beschriftete. In das Heft hatte sie 76 Ansichtskarten geklebt, die Schauplätze der ersten drei Jahre ihrer Liebe, von Zürich in diversen Perspektiven über die Halbinsel Au und den Säntis bis hin zu den Orten ihrer Kindheit, Igis und Pontresina. Am 30. Dezember 1928 verlobte sich das Paar in Pontresina. Anstelle eines grossen Festes zündeten sie nachts um zwei Uhr zwei rote Kerzen an und steckten einander zwei schmale, goldene Ringe an den Finger. Im Tagebuch prophezeite Greti: Die Kerzlein sollen wieder brennen in unserer Hochzeitsnacht, dann wenn unsere Kinder getauft werden, und dann wenn wir sterben, sollen auch sie verlöschen.159

Nun stellte sich die Frage nach der gemeinsamen Zukunft drängender. Gian zog es in die Ferne, und Greti wollte mit ihm ­gehen.160 Im Juli 1929 reiste er nach Paris, klopfte bei verschiedenen Schweizer Ingenieuren an und fragte nach einer Stelle. In der französischen Hauptstadt erhielt er dank einem Schweizer Kontakt ein Angebot, allerdings nicht in Paris, sondern im fernen São Paulo, als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Polytechnikum. Aufgeregt berichtete er der Liebsten davon. Sie könnten heiraten und zusammen nach Brasilien reisen! Oder Greti würde zuerst in der Schweiz Examen machen und dann nachkommen. Eigentlich tust Du mir leid, Du Liebes. Du solltest Deine Kräfte für das Examen brauchen, ohne Dich erst mit solchen Problemen zu plagen. (…) Nur davor fürchte ich mich, dass Du Dir und vielleicht im stillen auch mir Vor­würfe machen könntest, wenn Du nun abbrechen würdest. Überleg es Dir in aller Ruhe und arbeite so weiter wie bis jetzt, noch ist kein «fait accompli» da.161

Greti faszinierte die Vorstellung, mit Gian nach São Paulo zu ziehen und ihr Eheleben fern von Eltern und Schwiegereltern zu beginnen. Auch ihre Freundin Hildi hatte kürzlich geheiratet, war mit ihrem Mann nach Amerika gegangen und fasste dort eine Laufbahn an der Universität ins Auge.162 Warum sollte Greti es ihr nicht gleichtun und in Brasilien das Examen vorbereiten? ­Natürlich hatte ihr Vater grosse Vorbehalte gegen diesen Plan. Die Tochter solle den Liebsten ziehen lassen und erst das Studium abschliessen, zumal es in Brasilien Wilde gebe.163 Das heisst also, ich soll Dich allein hineingehen lassen, um zu sehen, ob sie Dich eventuell auffressen und wenn nicht, nachkommen! Da sollen sie mich lieber gleich mitfressen, spottete Greti. Die Motivation des Vaters für solche Aussagen kannte sie nur zu gut. Er möchte mich auch im Glaskästlein auf der Kommode seiner Studierstube haben. Wenn dies ginge! Mich zieht es mit tausend Fäden nach Brasilien oder Sibirien oder sonstwohin. Mit Dir allein sein, endlich Du und ich und sonst niemand, der immer alles zu wenig vernünftig und würdig, zu wenig bürgerlich und reserviert findet. Endlich «Haare abschneiden» und tun, was ich will und Du, was Du willst! Es sitzt mir ganz tief im Herzen. (…) Liebes, wir gehen, gell, wir gehen! (…) Besser, von Wilden gefressen zu werden als zu Hause mit einem Zopf und tausend weitern «Zöpfen» fast zu ersticken.164

Trotz Enthusiasmus fiel Greti die Entscheidung nicht leicht. Da war ihre Freundin Verena, die fand, sie müsse unbedingt vorher Examen machen.165 Da war Pfarrer Christian Lendi aus Ragaz,166 der sie einlud, bei ihm ihr Praktikumssemester zu absolvieren.167 (Ragaz war zwei Dörfer von Igis entfernt, lag aber im Kanton St. Gallen, und da man sich dort noch gar nicht mit der Zulassung von Pfarrerinnen befasst hatte, fühlte sich Lendi vermutlich unbelastet.) Und da war die geplante Abstimmung über die Zulassung lediger Theologinnen zum Pfarramt in Graubünden. Doch bis zum Urnen­gang konnte noch viel Zeit verstreichen – da konnte Gian noch dreimal nach Brasilien gehen und wieder zurückkommen. Ach Du, ich bin doch wahrhaftig nicht schuld, dass die Andern es für so unendlich wichtig ansehen (…), ob nun ein Mensch eine Hose oder einen Rock anhat,168 seufzte Greti. Ich habe mich nun einmal in den «Glaskasten» gesetzt. Aber ich (…) habe in meiner Liebe für Dich entschieden und habe nun auch diesen Weg zu gehen.169

Gian konnte Greti gut verstehen. Er redete ihr zu, mit ihm zu kommen und die Examensliteratur mitzunehmen. Ich begreife, dass Dir die Entscheidung schwerfällt, denn Du steckst nun mittendrin in Deiner Arbeit, Du hast das Examen als etwas Konkretes vor Dir und bist umkränzt oder umzingelt vom bündnerischen Kirchen- und Grossen Rat. Versuche Dich einmal nach Brasilien zu versetzen und lass dann dies alles auf Dich einwirken. Die Wichtigkeit und Tragweite der verschiedenen Räte wird dann wesentlich geschmälert (sag es bitte Deinem Ätti nicht) (…).170

Gians Worte überzeugten Greti, und nun ging alles Schlag auf Schlag. Er telegrafierte seine Zusage nach Brasilien, buchte die Überfahrt für den September, und die machtlosen Eltern und Schwiegereltern stimmten der Hochzeit zu. Am 8. September 1929 traute Josias Roffler Tochter und Schwiegersohn in seiner Kirche in Igis. Form und Inhalt der Feier bestimmte Greti. Sie setzte ihren Wunsch durch, die Ehe an einem Sonntag vor versammelter Gemeinde zu schliessen anstatt abseits des öffentlichen Interesses171 an einem Werktag, wie es der Vater lieber gehabt hätte.172 Und sie wehrte sich gegen seinen Vorschlag, als Trauspruch Ruth 1,16 Wo Du hingehst, da gehe ich auch hin zu verlesen. Den Vers fand sie abge­droschen, denn dass sie dem Liebsten folge, sei ihr selbstverständlich. Wichtiger schien ihr, nie zu vergessen, dass unsere Liebe geschenkte Gnade Gottes ist, (…) dass uns unsere Ehe nicht das Letzte und das Höchste sein darf,173 wie sie Gian einschärfte: Wir dürfen nie in unserer Ehe aufgehen.174 Die Verse 34 und 35 aus Lukas 20 passten da besser, denn sie war sich nun gewiss, dass sie der Theologie auch in der Ehe treubleiben wollte: Und Jesus sprach zu ihnen: Die Kinder ­dieser Welt heiraten und lassen sich heiraten; welche aber gewürdigt werden, jene Welt zu erlangen und die Auferstehung von den Toten, die werden weder heiraten noch sich heiraten lassen.175 Kurz vor der Hochzeit schrieb sie ihre Interpretation des Lukas-Wortes: Ich nehme die Aufgabe meines Examens mit mir und die Aufgabe nie zu vergessen, dass ich Theologin bin. Wenn ich katholisch wäre, wäre ich Nonne, «Gottgeweihte». Aber als Protestantin habe ich die evangelische Freiheit, mich zu verehelichen.176

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9783038551935
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