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Der Ermittler überquerte die Nieder-Ramstädter-Straße, fuhr noch einige Meter auf dem Böllenfalltor-Weg Richtung Uni-Campus und bog hinter dem Bessunger Forsthaus rechts in den Waldweg ein. Auf dem Waldparkplatz vor dem Vereinshaus stand eine Horde Nordic Walker, die in Zweiergruppen mit ihren Stöcken ein lächerliches Aufwärmballett vorführten. Dass Darmstadts Nordic Walking Instructors ausgerechnet den Parkplatz vor seinem Vereinshaus als Meeting Point auserkoren hatten, empfand Rünz als persönlichen Affront. Sie versperrten ihm die Zufahrt zu seinem Stammplatz. Er stellte seinen Wagen vor der Pizzeria ab, die den Ostflügel des schmucklosen einstöckigen Gebäudes nutzte, wuchtete seine Waffenkiste aus dem Kofferraum und ging zum Schießstand, die Freizeitsportler keines Blickes würdigend. In der kleinen Halle stand Brecker mit ein paar Vereinskameraden um eine schwarze Metallkiste herum.

»Ah, da schau her«, begrüßte ihn Brecker, »da kommt der Richtige. Schau dir das Baby mal an, Karl, da schlagen Männerherzen höher!«

Rünz warf einen Blick in die Kiste und hatte spontan alle physiologischen Reaktionen, die die meisten seiner Geschlechtsgenossen bei einem überraschenden Auswärtssieg ihrer Fußballmannschaft oder beim Klang eines doppelt aufgeladenen Zehnzylindermotors hatten – Gänsehaut, feuchte Hände, erhöhter Puls und Blutdruck, gerötete Gesichtshaut. In einem sauber ausgestanzten Hartschaumblock, der die Kiste komplett ausfüllte, lagen die Einzelteile einer Scharfschützenwaffe der neuesten Generation. Ein Repetierer mit elegantem, dunkelgrün eloxiertem Aluminiumchassis und einem über 60 Zentimeter langen Matchlauf, raumsparendem Klappschaft und justierbarer Hinterschaftplatte, Zielfernrohr und diversem Zubehör. Brecker nahm die Waffe aus dem Koffer, löste die Verriegelung, klappte den Schaft auf und legte an.

»Die Jungs von der Insel machen unseren deutschen Waffenschmieden ganz schön Feuer unterm Arsch. Arctic Warfare von Accuracy International in 300er Winchester Magnum.«

Brecker fischte den Verschluss am Kammerstängel aus dem Kasten und hielt ihn wie eine Monstranz in Augenhöhe.

»Sechs Verriegelungswarzen, die sich direkt im Lauf festkrallen!«

Er führte den Metallzylinder sanft von hinten in die Waffe ein. Brecker konnte mit seinen Wurstfingern eine überraschend sensible Feinmotorik entwickeln, wenn er mit Waffen umging. Wirkliche Liebe konnten Männer nur für Maschinen empfinden. Er grinste.

»KSK-Konfiguration. Zeiss-Hensold-Zielfernrohr 3-12/56 SSG-P, optional gibts einen Bildverstärker, wenns mal etwas später wird. Kannelierter 26-Zoll-Matchlauf mit 280er-Drall – da kommt richtig Freude auf. Und vorne am Ausgang haben wir noch eine hübsche kleine Mündungsbremse, schließlich wollen wir ja keine blauen Flecken bekommen! Konnte mir für unser kleines Baby auch noch einen Brügger & Thomet-Schalldämpfer organisieren. Habe eine leckere Laborierung für eine kleine Testreihe geköchelt, 190 grains RWS Match-Geschosse mit 43 grains Treibladung, das sollte für eine Präzision von unter 10 Millimetern auf 100 Meter gut sein.«

»Ich dachte, Accuracy International wäre pleite«, fachsimpelte Rünz.

»Korrekt, Karl. Aber seit Mai 2005 auferstanden wie Phönix aus der Asche – mit neuem Management und neuen Modellen. Demnächst wollen die Jungs eine handliche kleine Artillerie im Kaliber 50 BMG auf den Markt bringen. Kanns kaum erwarten.«

Rünz beneidete Brecker um seine Beziehungen zur Waffenindustrie. Er verließ die Gruppe, stellte seinen Koffer an einer freien Übungsbahn ab und widmete sich seiner Leidenschaft, der Arbeit mit großkalibrigen, kurzläufigen Revolvern, der perfekten Kombination von Durchschlagskraft und einfacher, solider Technik. Das einzige Zugeständnis an den technischen Fortschritt war die Double-Action-Mechanik seiner Ruger Super Redhawk Alaskan, die das Spannen und Auslösen der Waffe in einer Bewegung des Abzuges ermöglichte. Mit über 1.600 Joule Geschossenergie war sein Revolver gut für respektable Wanddurchbrüche, die Lauflänge von 2,5 Zoll erlaubte allerdings keine präzisen Schüsse auf größere Entfernungen. Er testete verschiedene Laborierungen, Kombinationen von Geschossen und Treibladungen, um sich nach und nach dem optimalen Kompromiss aus maximaler Schussleistung bei noch akzeptablem Rückstoß zu nähern. Nach wenigen Minuten war er völlig versunken in das heilige Ritual aus Konzentration, Schuss, Entspannung und Nachladen. Er verlor jedes Zeitgefühl.

Rünz’ Frau hatte sich vor Jahren mit der ganzen Euphorie einer Junganalysandin, die glaubte, mit Freuds Lehre die Welt erklären zu können, auf die Deutung seines Hobbys gestürzt. Sie hatte das psychoanalytische Interpretationsuniversum auf ihr Telekollegniveau heruntergebrochen, auf dem Schusswaffen natürlich als phallisch besetzte Objekte auftraten, die die Omnipotenzfantasien ihrer Nutzer bedienten – sie waren lang, aus hartem Metall, ejakulierten auf Befehl und unter Kontrolle des Besitzers Geschosse, mit denen andere Objekte und Personen penetriert werden konnten. Für Rünz waren derlei analytische Deutungen so universal wie beliebig. In Wahrheit resultierte der Lustgewinn bei der Beschäftigung mit Waffen aus der bedingungslosen Hingabe an Funktion, Präzision und Qualität.

Gegen 21.30 Uhr öffnete er seine Wohnungstür und hörte gedämpfte Unterhaltung aus dem Wohnbereich. Das Essen mit ihren Freunden aus der Pilates-Gruppe! Er fluchte leise. Sie hatte ihn morgens noch daran erinnert, aber er hatte es verdrängt wie einen Termin beim Zahnarzt. Er war über eine Stunde zu spät, aber er konnte sich jetzt unmöglich zu ihren Gästen an den Tisch setzen, ohne seinem Baby die Liebe und Zuwendung zuteil werden zu lassen, die es nach dem harten Einsatz auf dem Schießstand verdient hatte. Für diese sakrale Zeremonie zu Ehren der Herren Smith & Wesson gab es nur einen Altar – den Couchtisch. Er betrat das Wohnzimmer, den Waffenkoffer in der Hand. Seine Frau saß mit zwei Männern und ihrer besten Freundin beim Essen. Die Teller waren fast leer, anderthalb Flaschen Chablis geleert. Alle schwiegen und schauten ihn an.

Rünz versuchte, mit einem lockeren und jovialen Auftritt die Stimmung positiv zu beeinflussen.

»Hallo allerseits, bin ein bisschen spät dran. Ich hoffe, Sie haben mit dem Essen nicht allzu lange gewartet.«

Er stand mit seinem Waffenkoffer in der Hand am Tisch, hielt es aber nicht für zwingend erforderlich, den Gästen die Hand zu geben. Seine Frau stellte ihn den beiden Männern vor, aber er hatte ihre Namen gleich darauf wieder vergessen. Die beste Freundin seiner Frau kannte er bereits, eine Kontrollfanatikerin, die sich ein Jahr zuvor von einem Brasilianer hatte scheiden lassen. Sie hatte diesen Mann ursprünglich geheiratet, weil er ihr auf eine liebenswerte Weise südländisch spontan und ungezwungen erschien. Die Scheidung wollte sie dann, weil er so planlos und unkoordiniert in den Tag hineinlebte. Wie viele geschiedene Frauen litt sie als Trennungsfolge unter einer zerebralen Dysfunktion. Fielen in ihrer Gegenwart Schlüsselworte wie ›Ehe‹, ›Trennung‹ oder ›Scheidung‹, fing sie an, in einer Art verbaler Diarrhöe ihre gesamte Beziehungs- und Ehegeschichte auszuscheiden. Sie hatte in dieser Hinsicht einen durch nichts zu bremsenden Mitteilungsdrang, sodass inzwischen sogar Rünz’ Frau einschlägige Gesprächsthemen vermied.

Die beiden Männer am Tisch waren kaum zu unterscheiden, sie trugen beide halblange, etwas verwuschelte Haare, Brillen mit filigranen Titangestellen, Breitcordhosen und hochwertige, anatomisch geformte Bequemschuhe von Ecco oder Clarks. Sie vermittelten alles in allem den Eindruck aktiver und aufgeklärter Zeitgenossenschaft, akademische Mittelschicht, die sich in der Zivilgesellschaft engagierte. Rünz’ Synapsen feuerten spontan Assoziationsketten, die von Elternbeiratssitzungen über Anwohnerversammlungen, Manufactum, Krieg-ist-keine-Lösung, Deeskalierung und Vaterschaftsurlaub bis zu Arte-Themenabenden und Toskanaurlauben reichten.

Er setzte sich in Sichtweite der Runde mit seinem Koffer auf die Couch und legte eine Korkmatte auf die Glasplatte des Tisches. Vorsichtig nahm er die Ruger aus dem Koffer, demontierte sie und sprühte die Einzelteile sorgfältig mit Hoppes Elite Foaming Gun Cleaner ein, einem exzellenten Schaumreiniger für Handfeuerwaffen mit bis zu 30 Prozent reduzierter Einwirkungszeit. Das Reinigungsmittel verbreitete einen leicht ätzenden Geruch im Raum, ein Duft, der auf Rünz die gleiche wohlig sedierende Wirkung hatte wie eine Flasche Bier.

Die Gäste starrten ihn schweigend an, seine Frau spießte mit ihrer Gabel Tofuwürfel von ihrem Teller auf; sie stach regelrecht auf die unschuldigen Sojaprodukte ein. Schließlich versuchte sie, den Gesprächsfaden wieder aufzunehmen, ihre Tischnachbarn nahmen die Vorlage dankbar an. Im Kern drehte sich das Gespräch um bewusste Ernährung und die Frage, ob Veganer Vegetariern ethisch noch überlegen seien, somit also die höchste Stufe moralisch integrer Ernährungsformen für sich in Anspruch nehmen konnten.

Rünz befreite den Lauf seiner Ruger mit einer Bronzebürste von Bleiablagerungen. Er hatte ein schlechtes Gewissen. Seine Frau war gekränkt, weil er über eine Stunde zu spät nach Hause kam, er konnte sie jetzt unmöglich noch dadurch kompromittieren, dass er sich nicht am Gespräch beteiligte. Er wartete den richtigen Moment ab, um in die Diskussion einzusteigen.

»Wussten Sie eigentlich, dass Hitler Vegetarier war? Und ein großer Tierfreund noch dazu!«

Schweigen. Die Gabel seiner Frau blieb regungslos auf halbem Weg zwischen Teller und Mund stehen, ein Tofuwürfel kam auf den Zinken ins Rutschen und landete knapp neben dem Rand ihres Tellers. Rünz spürte die Möglichkeit eines Missverständnisses und fühlte sich genötigt, eine Erklärung nachzureichen.

»Ich meine, das ist doch faszinierend, diese Dualität. Ein Mensch hat keine Skrupel, Millionen in den Tod zu schicken, kümmert sich aber gleichzeitig mit viel Liebe und Zuwendung um Tiere. Ich habe ohnehin manchmal den Eindruck, dass große Tierliebe meist mit ebenso großer Menschenverachtung einhergeht. Was meinen Sie?«

Seine Frau kippte sich den restlichen Chablis in ihr Glas und leerte es in einem Zug. Einer der Bequemschuhe fühlte sich herausgefordert. In diesem zivilisierten Citoyen mussten Reste urzeitlicher Triebe schlummern, die ihm befahlen, mit Rünz um die Dominanz im Rudel und die Gunst der Weibchen zu rivalisieren.

»Sie wollen doch nicht ernsthaft Hitler als Maßstab nehmen für die moralische Bewertung von Menschen, die versuchen, sich bewusst zu ernähren!«

»Natürlich nicht, da haben Sie mich missverstanden.«

Rünz klappte die Trommel aus seiner 454er Casull, richtete die Waffe auf die Leuchte über dem Esstisch, drehte den Metallzylinder und peilte mit einem Auge durch die Patronenlager auf der Suche nach Verbrennungsrückständen.

»Ich wollte die Thematik nur um einen interessanten Aspekt erweitern. Dinge sind oft komplexer, als sie auf den ersten Blick zu sein scheinen. Wie hat Freud doch so schön gesagt: Es sind die Heiligen, die die breitesten Blutspuren hinterlassen.«

Seine Frau knallte die Gabel auf den Teller, ihre Freundin legte ihr die Hand auf den Unterarm. Der zweite Citoyen versuchte sich als Fahnenträger seines Tischnachbarn zu positionieren und die Gruppe geschlossen gegen Rünz in Stellung zu bringen.

»Könnten Sie Ihre Waffe vielleicht in eine andere Richtung halten? Wir empfinden das als Bedrohung.«

»Wen meinen Sie mit ›wir‹, haben Sie ein Verhältnis mit meiner Frau?«

Rünz versuchte es mit Humor, aber es half nicht wirklich. Der Mann starrte erst ihn und dann seine Frau an. Er sah aus wie ein Schuljunge, der beim Diebstahl eines Radiergummis erwischt wurde. Der Ermittler verriegelte die Trommel der Waffe und legte sie sanft auf die Korkmatte. Er war sich bewusst, dass dieser Abend einen ungünstigen Kurs zu nehmen drohte, aber er war fest entschlossen, das Ruder herumzureißen. Wer weiß, vielleicht war dieser unglückliche Start der Beginn einer langen und intensiven Männerfreundschaft? Er wendete sich den beiden Zivilisten zu und ging in die Offensive. Er war bereit, sein Allerheiligstes mit ihnen zu teilen.

»Sagen Sie, haben Sie nicht Lust, mich nächste Woche auf den Schießstand zu begleiten? Ich verspreche Ihnen ein einmaliges Erlebnis. Sie werden sich fühlen wie« – Rünz suchte sekundenlang nach dem richtigen Wort – »wie Männer.«

Der Ermittler war sich nicht sicher, ob er die passende Formulierung gefunden hatte. Die beiden reagierten reserviert auf seine Einladung und verabschiedeten sich bald, die Ex-Frau des Brasilianers im Schlepptau. Als sie alleine waren, brach seine Frau einen furchtbaren Streit vom Zaun, warf ihm vor, er hätte sich total danebenbenommen. Rünz war perplex über die Intensität der Stimmungsschwankungen, die der weibliche Zyklus verursachen konnte.

7

Die Luft im Raum war zum Schneiden. Leere Thermoskannen standen auf dem Tisch. Bunter hatte eine halbvolle Tasse Kaffee umgekippt, den er mit drei Zuckerwürfeln angerührt hatte. Die Pfütze vertrocknete auf der Tischplatte zu einem klebrigen braunen Sirup.

Rünz stand auf, ging zum Fenster und öffnete einen Flügel.

»Herr Bunter, was ist mit der Jugendherberge?«

Bunter seufzte.

»Bis jetzt ohne Ergebnis. Und ohne genauere Eingrenzung des Todeszeitpunktes sollten wir uns auch keine größeren Hoffnungen machen. Wir haben einen unüberschaubaren Kreis möglicher Zeugen. Es gibt drei relevante Zeugengruppen – Gäste, Mitarbeiter und Handwerker, die bei Umbau, Modernisierung und Instandhaltung tätig waren. Nehmen wir die Übernachtungsgäste – das Haus wurde Anfang der 50er-Jahre vom DJV gebaut, zuletzt von Oktober 2003 bis Mai 2004 komplett umgebaut und modernisiert. Die Sonnenterrasse zum Woog ist jetzt überdacht und bildet den Essbereich. Die haben fast 20.000 Übernachtungen im Jahr, die Hälfte davon Jugendgruppen mit Leitern, die andere Hälfte Individualreisende, Familien oder Kleingruppen. Selbst wenn wir uns nur auf die Gruppenleiter konzentrieren, sind das mehrere 100 Leute – pro Jahr!«

»Was ist mit dem Pächter und den Angestellten, nehmen Sie sich die zuerst vor.«

»Wir sind dran, bis jetzt ohne Erfolg. Im Schnitt arbeiten 25 festangestellte Voll- und Teilzeitkräfte im Haus. Die Fluktuation ist relativ gering, sodass wir rund 60 Personen in den letzten 25 Jahren haben. Dazu kommen im Schnitt neun Zivildienstleistende, die sind natürlich immer nur für 9 Monate zur Verfügung, da kommt über die Jahre auch eine stattliche Gruppe zusammen. Die Zivis wohnen in der Herberge, in den Räumen unter der Kantine nach Süden zum See raus – zumindest die, die nicht aus der Region kommen. Die haben morgens bereits zweimal die Leichen aufgetriebener Ertrunkener vom Vortag entdeckt.«

»Wohnt der Pächter im Haus?«

»Hat er, bis zum Umbau 2003/2004. Aus seiner früheren Wohnung sind jetzt drei zusätzliche Schlafräume entstanden, alle mit Blick auf den See.«

»Gut, machen Sie weiter mit den Angestellten und den Zivis, wir werden später sehen, wen wir uns von den Übernachtungsgästen vornehmen. Was ist mit diesen Woogsfreunden, Herr Meyer?«

»Negativ. Hatte die Ehre, mit dem Vorsitzenden persönlich zu sprechen. Viele Anekdoten, nichts Verwertbares für uns. Bis auf eine interessante Geschichte …«

»Schießen Sie los!«

»Na ja, nehmen wir mal an, die Leiche liegt nicht erst seit zehn sondern schon seit 40 oder 50 Jahren dort, wir wissen ja noch nichts Genaues. Dann ist es möglicherweise diesen Woogsfreunden zu verdanken, dass sie nicht schon viel früher gefunden wurde.«

Rünz und Wedel schauten ihn verständnislos an.

»Ich sehe schon, ich muss da etwas ausholen. Anfang der 60er-Jahre trainierten im Woog deutsche Leistungsschwimmer für die Olympiade, da gehörte ein Darmstädter dazu, Hans-Joachim Klein …«

»Little-Klein«, rief Wedel, »der hat doch 1964 in Tokio dreimal Silber geholt! Und der hat hier im offenen See trainiert?«

Wedel war ein wandelndes Sportlexikon.

»Richtig, mit der deutschen Staffel. Genau genommen einmal Silber auf vier mal 100 Meter Freistil, einmal …«

»Gut, gut«, unterbrach Rünz. »Kommen Sie zur Sache.«

»War übrigens das letzte Mal, dass eine gesamtdeutsche Mannschaft bei olympischen Spielen angetreten ist, wenn Sie mir die Bemerkung noch erlauben. Nach diesem Erfolg hatte der DSW hier natürlich richtig Oberwasser, die haben dann irgendwann gemerkt, dass man in einem offenen Gewässer nicht ordentlich trainieren kann. Die haben dann mit Schützenhilfe der SPD den Bau eines Hochleistungszentrums gefordert.«

»Aber das wurde doch im Bürgerpark am Nordbad gebaut«, stellte Wedel fest.

»Richtig, aber zuerst wollten sie es in den Woog setzen!«

Rünz schüttelte den Kopf.

»Ein Hallenbad in einem See? Wie kamen die denn auf diese Schnapsidee?«

»Zuerst sollte das eine offene Wanne werden. Hat sich natürlich sofort Widerstand gebildet, war ja auch eine Schildbürgernummer. Die Jungdemokraten haben sich damals besonders engagiert, unterstützt von den Schlammbeißern und vielen Badegästen. Das war die Geburtsstunde der Woogsfreunde. Jedenfalls war 1973 die Diskussion abgeschlossen, der DSW hat sein Leistungszentrum bekommen, aber nicht im Woog, sondern im Bürgerpark, und die Heiner haben ihren Badesee behalten.«

Rünz wurde ungeduldig.

»Und was hat das jetzt mit unserem Toten zu tun?«

»Sie können keine Betonwanne in den See setzen ohne das Wasser komplett abzulassen! Jedenfalls ging das mit den damaligen technischen Mittel nicht so einfach. Heute gibts da Spundwände und so weiter. Stellen Sie sich den freiliegenden Seegrund vor, da wäre doch eine halb aus dem Schlick ragende Leiche sofort aufgefallen!«

»Wenn ich Sie richtig verstehe, dann könnten die Jungdemokraten damals gegen die Woogswanne opponiert haben, damit der Juso-Vorsitzende nicht gefunden wird, den sie vorher im See versenkt haben. Wir sollten die Liberalen in der Stadtverordnetenversammlung in Beugehaft nehmen!«

Bunter lachte.

»Bei der Größe der Partei wird denen das auf Bundesebene einen schweren Schlag versetzen!«

Meyer ließ sich von den Frotzeleien nicht beeindrucken.

»Unsinn, die hatten damals alle gute Gründe, gegen das Projekt zu sein. Das hätte den See doch völlig verschandelt. Aber als ich mit dem Vorsitzenden der Woogsfreunde über das Thema sprach, fiel ihm einer ein, der bei den zahlreichen öffentlichen Diskussionen damals völlig aus dem Rahmen fiel. Ein Anwohner, richtig unangenehmer Choleriker, hat die DSW-Leute und Kommunalpolitiker, die das Projekt unterstützten, Verbrecher genannt und mehrfach mit Sabotage gedroht, falls die Wanne gebaut würde. Der Vorsitzende konnte sich an keinen Namen erinnern, der Mann soll aber einige ziemlich verletzende Leserbriefe verfasst haben.«

Der Rest der Gruppe lachte, Rünz schüttelte den Kopf.

»Da haben Sie sich ja eine hübsche Räuberpistole zusammenfantasiert, Herr Meyer. Das ist definitiv die heißeste Spur, von der ich je gehört habe. Solche Protestrentner tauchen doch auf, sobald irgendwo ein Schlagloch ausgebessert wird. Aber was solls, Sie haben mich auf eine Idee gebracht. Charli, könnten Sie morgen im Verlagshaus der ›Allgemeinen‹ in der Holzhofallee im Archiv stöbern? Nehmen Sie sich die Kriegsjahrgänge vor und die Ausgaben bis 1950, vielleicht finden Sie etwas Verwertbares. Und wenn Sie schon mal da sind, werfen Sie doch mal einen Blick auf die Leserbriefseiten des Jahrgangs 1973, vielleicht findet sich ein Pamphlet dieses Cholerikers. Leserbriefe werden doch immer unter dem entsprechenden Namen veröffentlicht. Was ist mit der Spurensuche an den Uferbereichen, was wissen die Leute von der Badeaufsicht?«

Die Mitglieder des Teams referierten ihre Ermittlungsergebnisse, aber Rünz hörte nur noch mit einem Ohr zu. Die smoking gun fehlte, es war die erwartete Mischung aus verschiedensten Gerüchten, von denen jedes einzelne völlig belanglos sein oder aber eine Schlüsselrolle spielen konnte, je nachdem, in welchen Kontext man es stellte. Und den Kontext lieferte Bartmann. Rünz hasste es zu warten.

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Дата выхода на Литрес:
25 мая 2021
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277 стр. 12 иллюстраций
ISBN:
9783839233108
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