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Er versah seine Bürotür mit einem ›Bitte nicht stören‹-Schild und unterrichtete die zuständige Staatsanwältin telefonisch. Sie gab ihm vorab das mündliche Einverständnis für die besprochenen Aktionen am Fundort. Sein Vorgesetzter Eric Hoven würde ihn im Laufe des Tages sicher noch kontaktieren, aber nicht vor Mittag. Hoven hatte einen Termin beim BKA Wiesbaden, es ging um effizientere Zusammenarbeit zwischen BKA, LKAs und Präsidien, schlankere Entscheidungsstrukturen, optimierte Kommunikationsprozesse, verbessertes Qualitätsmanagement – die postmoderne Sintflut, die aus der Wirtschaftswelt heraus alle Lebensbereiche überschwemmte und vor der Staatsgewalt nicht Halt machte.

Rünz legte den Kopf auf den Schreibtisch und döste ein. Kurz vor Mittag schreckte er auf, in einem der Kreißsäle im Marienhospital mussten die Fenster offenstehen, er hörte die markerschütternden Schreie einer Gebärenden. Übelkeit und Kopfschmerzen waren leichtem Hunger gewichen. Er fand in seinem Schrank ein Ersatzhemd und machte sich in den Sanitärräumen der Bereitschaftspolizei frisch. Dann ging er in die Kantine und stellte sich einige Beilagen zusammen, gekochten Reis und Salzkartoffeln, Speisen mit denkbar geringem Risiko einer Kontamination durch pathogene Erreger, die sich in seinem Magen-Darm-Trakt unkontrolliert vermehren konnten. Zur Sicherheit würde er ohnehin nur einen Teil der Beilagen essen, gerade so viel, dass er am Nachmittag, wenn er von der Arbeit abgelenkt war, verdauen konnte und abends mit leerem Magen aus der Gefahrenzone war. An einem der kaum besetzten großen Tische stellte er sein Tablett ab und zog ein kleines, in Folie verschweißtes Plastikbesteck aus der Tasche, das er stets dabeihatte. Das Letzte, was er brauchen konnte, war eine durch Schmierinfektion infizierte Kantinengabel, die durch die Hände eines kranken Küchenmitarbeiters gegangen war. Mit gesenktem Kopf begann er zu essen, den Blickkontakt mit Kollegen und anderen Mitarbeitern meidend.

Am Nebentisch saß eine Gruppe von Bereitschaftspolizisten, drei Frauen und drei Männer. Der Wortführer der Runde war Brecker, Rünz’ Schwager. Er lachte alle paar Sekunden dröhnend auf wie ein röhrender Hirsch. Er war ein massiger Typ mit Stiernacken und millimeterkurzen grauen Haaren und hatte Rünz den Rücken zugewandt, sein Oberkörper schien die Nähte des braunen Hemdes fast zu sprengen. Brecker hatte als Polizeihauptmeister die oberste Sprosse auf der Karriereleiter im mittleren Polizeivollzugsdienst erreicht, aber das frustrierte ihn nicht, er war eins mit seinem Beruf, ein Raubtier auf Streife, das allein durch seine physische Präsenz kritische Situationen im Außendienst meisterte und auch dann mal blaue Flecken verteilte, wenn es nicht unbedingt notwendig war. Ganz und gar alte Schule, hatte er für jüngere Kollegen, die nach heiklen Einsätzen schon mal den psychologischen Dienst des Präsidiums in Anspruch nahmen, nur Hohn und Spott übrig.

Die Namen der beiden anderen Männer am Tisch kannte Rünz nicht, er nannte sie insgeheim die Lakaien, weil sie Brecker wie Pudel begleiteten und bei jeder seiner derben Zoten kräftig ablachten. Sie wirkten grotesk, wenn sie ihm nacheiferten und selbst versuchten, kernige Sprüche zu machen.

Zwei der Frauen kannte Rünz, erfahrene Polizistinnen mit über zehn Jahren Berufserfahrung. Die dritte, eine untersetzte Brünette, vielleicht Anfang 20, hatte er noch nie gesehen. Eine Anfängerin. Beute für das Tier. Brecker fragte sie ohne Unterlass nach ihrem Privatleben, ließ sie aber nie zu Wort kommen, sondern schoss direkt sexuelle Anspielungen hinterher, über die der Rest der Truppe sich amüsierte. Die Brünette wirkte verunsichert, lachte mal mit, starrte dann wieder wie versteinert auf ihren Teller. Sie hatte den richtigen Zeitpunkt verpasst, eine klare Grenze zu ziehen und wollte sich jetzt nicht als Spielverderberin isolieren, obwohl ihr die Unverschämtheiten sichtlich unangenehm waren. Ihre beiden Kolleginnen waren denkbar weit entfernt von Geschlechtersolidarität. Sie waren durch die gleiche Schule gegangen und hatten sich arrangiert, indem sie ihre Weiblichkeit morgens an den Garderobenhaken hängten. Sie bewegten sich wie Männer, lachten und sprachen wie Männer, vermieden es, mit ihren femininen Seiten Angriffsflächen zu bieten. Aber die Zeiten wurden hart für Dinosaurier wie Brecker. Junge Frauen mit schwachem Selbstbewusstsein wie die Anwärterin am Nebentisch waren inzwischen seltene Pflanzen, über die sich Brecker mit umso größerem Hunger hermachte. Heute waren die Standardreaktionen auf sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz entweder massive dienstrechtliche Probleme oder ein Tritt in die Weichteile. Rünz hatte Mitleid mit der jungen Frau. Andererseits beneidete er Fossile wie seinen Schwager um die Gewissenlosigkeit, mit der sie sich über das Frischfleisch hermachten. Die einzige Frau, die Rünz so respektlos behandelte, war seine eigene – Breckers Schwester.

Der Stiernacken drehte sich um und zwinkerte ihm zu.

»Servus Karl. Süß, die Kleine, oder?«

»Zu alt für dich.«

»Nur kein Neid! Kommst du morgen Abend auf den Schießstand, Karl? Ich habe eine kleine Überraschung!«

»Denke schon.«

»Wie gehts meinem Schwesterchen?«

»Heute Morgen noch gut …«

»Bist immer schön lieb zu ihr, gelle?«

Rünz lächelte gequält, Brecker wendete sich wieder seiner Gruppe zu.

Er hatte gerade begonnen, wieder in seinen Beilagen herumzustochern, als ihm gegenüber jemand sein Tablett auf den Tisch schob.

»Ich grüße Sie, Herr Rünz. Darf ich mich zu Ihnen setzen?«

Es war Hoven. Diese joviale, energische Begrüßung hatte er sich von den externen Consultants abgeschaut, die mit PowerPoint-Präsentationen und Flipcharts einen großen Teil seiner Arbeitszeit gestalteten.

»Selbstverständlich, nehmen Sie Platz«, antwortete Rünz. Freundlichkeit kostete den immer noch angeschlagenen Polizeihauptkommissar große Überwindung.

»Das sieht ja recht übersichtlich aus«, sagte Hoven mit Blick auf seinen Teller. »Machen Sie Diät?«

»Nein, ich habe eine Fastenwoche hinter mir und muss jetzt langsam wieder anfangen«, fabulierte Rünz.

Einige Sekunden sagte keiner von beiden etwas, eine unangenehme Situation, aber Rünz fehlten Energie und Inspiration für eine ordentliche Konversation.

»Wie ist der Stand bei der Woogsleiche?«

Hoven hatte auf Arbeitsgespräch umgeschaltet. Rünz gab ihm eine kurze Zusammenfassung.

»Presse?«, fragte Hoven.

»Keiner vor Ort. War wohl ein bisschen zu früh.«

»Ich werde trotzdem mit dem Herausgeber der ›Allgemeinen‹ sprechen«, sagte Hoven. Mit einem einfachen Chefredakteur mochte er sich offensichtlich nicht abgeben.

»Vorausgesetzt natürlich, Bartmann schließt auf ein Gewaltverbrechen, aber davon ist ja auszugehen. Wenn Dreyfuss uns vier Wochen ungestört arbeiten lässt, geben wir ihm Exklusivinformationen. Er wird drauf eingehen. Wir werden für das issue eine ordentliche awareness bekommen, wenns tatsächlich ein Mord war. Und wenns ein Badeunfall ist, interessiert das ja sowieso keinen. Fahren Sie, so lange wir von Bartmann nichts Näheres erfahren, das Standardprogramm – ohne publicity.«

Hoven machte eine Pause, steckte sich ein Stück Cordon bleu in den Mund und kaute entspannt. Er hatte sich um Mund und Kinnpartie herum einen präzise getrimmten Henriquatre wachsen lassen, der ihm zugleich die Aura intellektueller Brillanz und verwegenen Freibeutertums verlieh. Sein Schuhwerk bezog er aus exklusiven englischen Manufakturen, am Handgelenk trug er eine mächtige Luminor Sealand von Panerai, der perfekte Zeitgeber für Menschen, die die Symbiose aus Sportlichkeit, Exklusivität und Nonkonformismus suchten. In Besprechungen klappte er gerne demonstrativ das Saphirglas des Automaten auf, so als bediente er eine alte Taschenuhr mit undurchsichtigem Deckel. Sein Auftreten und seine Erscheinung waren sozusagen die Antithese zu Rünz’ Präsenz. Er war der Archetyp einer neuen Spezies in der Führungsebene der hessischen Polizei, ein narzisstischer und eloquenter Kosmopolit, für den Strafverfolgung letztlich nach den gleichen ökonomischen Prinzipien optimiert werden konnte wie die Umsatzrendite einer Aktiengesellschaft. Er war um die 40 und hatte einige ältere Semester wie Rünz längst in der Innenkurve überholt. In unzähligen Managementseminaren hatte er seinen aktiven Wortschatz um zahlreiche sinnfreie Business-Anglizismen erweitert – er liebte es, bei festlichen Anlässen im Präsidium keynote speeches zu halten, in denen er von visions, missions, top-down- und bottom-up-approaches referierte. Die hessische Polizei war in seiner Vorstellung auf dem Weg zu einem Dienstleistungsunternehmen, das am Markt gut aufgestellt werden musste, um das Produkt Sicherheit lukrativ zu vertreiben. Hoven saugte wie ein trockener Schwamm alle Methoden der perfektionierten Selbst- und Fremdausbeutung auf, die aus der Grauzone zwischen Wirtschaftspsychologie und missverstandener fernöstlicher Philosophie heraus in die Arbeitswelt drängten. Als Quereinsteiger hatte er vor zwei Jahren die Einsatzgruppe im Präsidium Südhessen übernommen und war direkt dem Polizeipräsidenten unterstellt. Rünz musste als Leiter der Ermittlungsgruppe Darmstadt City an ihn berichten, aber Hoven war ein Vorgesetzter auf Durchreise. Die Tätigkeit in Darmstadt war für ihn nichts weiter als eine Zwischenstufe auf einer Karrieretreppe, die ihn in einigen Jahren ins Innenministerium, in die Interpolzentrale nach Lyon oder als Sicherheitsberater zu DaimlerChrysler bringen würde. Hoven war sozusagen perfekt, bis auf einen einzigen Schwachpunkt, der ihn erträglich und oft zum Spott des Kollegiums machte – er war mit einer Frau verheiratet, die ein heterosexueller Mann nur nach langer sexueller Abstinenz und starkem Alkoholkonsum als attraktiv empfinden konnte. Er hatte wohl aus irgendeinem unerklärlichen Standesdünkel heraus den Drang verspürt, seine Oberschichtherkunft noch zu vergolden, indem er in eine blaublütige Dynastie einheiratete, und dort schien die Auswahl nicht sehr groß gewesen zu sein. Hoven tupfte sich mit der Serviette die Lippen ab.

»Wer vom Schottener Weg ist denn zuständig?«

»Staatsanwältin Simone Behrens.«

»Habe ich noch nicht kennengelernt. Stimmt da die Chemie oder nimmt die Dame gern mal selbst die Ruderpinne in die Hand?«

»Bis jetzt haben wir ausgezeichnet zusammengearbeitet. Sie will kontinuierlich und ausführlich informiert werden, ansonsten vertraut sie unseren Fähigkeiten.«

»Sehr gut. Sagen Sie Bescheid. Wenn es Probleme mit ihr gibt, werde ich mit dem Leitenden mal abendessen gehen.«

Rünz spürte eine neue Übelkeitswelle, diesmal psychisch induziert.

»Würden Sie mir bis heute Abend Ihre roadmap und Ihren actionplan für den Fall vorlegen? Und halten Sie mich konstant auf dem Laufenden, am besten per Mail, Sie kennen meinen schedule«, sagte Hoven.

Rünz zuckte zusammen. Er hätte nicht weniger verstanden, wenn sein Vorgesetzter Altgriechisch gesprochen hätte. Vielleicht wäre ein Besuch eines der Schulungsprogramme, die Hoven in den letzten Monaten initiiert hatte, doch sinnvoll gewesen. Aber Wedel würde ihm sicher weiterhelfen.

»Kein Problem, Herr Hoven.«

Sein Vorgesetzter musterte ihn einige Sekunden.

»Herr Rünz, ich glaube an Sie, Sie sind eigentlich ein guter Mann.«

Das klang ungefähr wie »Nichts gegen Ausländer, aber …«

Darüber hinaus gehörte Lob von einem fünf Jahre jüngeren Vorgesetzten ganz sicher zu den perfiden Formen der Erniedrigung. Hoven schien tatsächlich anzunehmen, dass er mit dieser Einführungsübung aus dem Volkshochschulkurs Personalführung Rünz’ Motivation steigern konnte.

»Aber ich glaube, Sie müssen Ihre skills einfach besser nutzen. Ich zum Beispiel mache vor dem launch jeder Arbeitswoche erstmal eine SWOT-Analyse.«

Rünz suchte panisch nach einer Ausrede, um das Gespräch abzubrechen. Er konnte Brechreiz vortäuschen, genau genommen hätte er damit nicht einmal gelogen.

Hoven zog einen Montblanc-Füllfederhalter aus dem Jackett und skizzierte auf der Rückseite eines Briefumschlages eine Tabelle.

»Sehen Sie, hier bei der internen Analyse tragen Sie Ihre strenghts und weaknesses ein und hier bei der externen Ihre opportunities und threats.«

»Klingt interessant«, heuchelte Rünz. Vielleicht hatte er Glück und in der Großküche explodierte ein Dampfkessel oder irgendwo in der Kantine brach eine Schießerei los.

»Jetzt haben Sie hier in der Vierfeldermatrix eine wunderbare Situationsanalyse und können ein prima finetuning für Ihre strategies machen. Versuchen Sie das mal! Sie sollten die SWOT-Analyse zum festen Bestandteil Ihres Behaviour Change Managements machen, Sie werden sehen, das lohnt sich. Das können Sie behalten.«

Hoven schob ihm den Briefumschlag über den Tisch. Rünz vermisste seine Ruger. Kein Staatsanwalt der Welt würde ihm in dieser Situation Affekt absprechen.

3

Von seinem Büro aus organisierte er für den nächsten Morgen ein Treffen seiner Ermittlungsgruppe, reservierte einen Besprechungsraum, schaute im Gruppenkalender nach, wer durch Termine gebunden war, versandte Einladungen mit der Bitte um pünktliches Erscheinen. Dann machte er sich auf den Weg zurück zum Woog, ohne auf Wedels Anruf zu warten. Auf dem Westdamm des Sees stehend sah er, dass die Techniker und Spurensicherer ihr Basislager auf der Insel gegenüber aufgeschlagen hatten. Er stieg wieder ins Auto, fuhr eine halbe Runde um das Gewässer und parkte vor dem Sportgelände des TSG 1846. Am Eingang des Freibades standen Dutzende enttäuschter Badegäste, immer neue kamen dazu, andere machten sich kopfschüttelnd wieder auf den Heimweg. Rünz drückte sich durch die Menschentraube, zwei Polizisten, die den Eingang sicherten, öffneten ihm das Tor. Er ging am leeren Kassenhäuschen vorbei über die Betonbrücke, die den modrigen Darmbach überquerte, kaum ein Rinnsal zu dieser Jahreszeit. Ein blauer Mercedes Sprinter des LKA Wiesbaden mit Hochdach und langem Radstand parkte direkt vor der massiven Bogenbrücke, der einzigen Verbindung zur Badeinsel. Die Heckklappen des Transporters waren geöffnet, ein Generator brummte im Innern, einige Strippen hingen aus dem Laderaum heraus. Dem Kabelstrang folgend, ging der Ermittler über die Brücke zu der Gruppe auf der Nordspitze der Insel.

»Ich wollte gerade anrufen, Chef. Sie kommen genau richtig, die Pumpe ist eben angelaufen.« Wedel stand mit Sybille Habich und Olaf Deiters neben einer Maschine, die ohne Unterlass und mit einigem Lärm graubraunen dünnflüssigen Matsch über eine Kaskade von Filterkästen spuckte. Habich starrte konzentriert auf die Metallsiebe, wischte immer wieder wie eine Goldsucherin mit der Hand über die gefilterten Partikel und steckte Metall, Glas- und Kunststoffteile verschiedenster Größen in Klarsichttüten.

»Den Betonblock haben wir runter«, erklärte Deiters. Er wies im ufernahen Wasser auf einen annähernd quadratischen Block mit einem halben Meter Kantenlänge und rund 25 Zentimetern Dicke, aus dessen Bruchkanten korrodierte Armierungsstäbe herausragten.

»Meine Jungs saugen jetzt erst mal den Schlick von der Leiche und dann noch die oberen zehn Zentimeter in einem Umkreis von fünf Metern ab. Kein leichter Job bei null Sicht …«

Deiters wollte gelobt werden, das war zu spüren.

»Sie machen gute Arbeit, ich wüsste nicht, wie wir das hier ohne Ihre Leute schaffen würden!«

»Ist unser Job«, murmelte Deiters stolz.

Rund eine halbe Stunde arbeiteten die Taucher am Seegrund, dann stiegen sie auf und Habich stellte die Pumpe ab. Deiters funkte wieder mit einem der Sicherungsmänner im Schlauchboot.

»Die Leiche ist soweit frei, die Männer könnten jetzt eine Trage drunter durchziehen und sie heben«, erklärte er, an Rünz und Wedel gewandt.

»Wo bleibt Bartmann«, fragte Rünz und sah ihn im gleichen Moment schwitzend seinen schweren Einsatzkoffer über die Brücke wuchtend. Wedel ging ihm entgegen und nahm ihm seine Ausrüstung ab.

»Entschuldigen Sie meine Verspätung, ich habe die Zufahrt für das Gelände hier nicht gefunden und musste draußen parken. Wie weit sind wir?«

»Bereit zur Bergung. Haben Sie noch Sonderwünsche, bevor wir ihn rausziehen?«

»Allerdings, ziehen Sie den Korpus bitte nicht an die Oberfläche und ins Boot, am besten schleppen sie ihn unter dem Wasserspiegel langsam bis in Ufernähe, dann ist die Gefahr geringer, dass sich Teile lösen.«

Deiters nickte und instruierte seine Männer. Die Taucher verschwanden wieder für einige Minuten, dann zogen die Männer in den Booten vorsichtig an den Gurten und setzten den Ponton langsam Richtung Insel in Bewegung. Der Leichnam erschien so langsam im Blickfeld der Beteiligten, dass alle, die sich nicht wie Bartmann täglich mit toten Menschen befassten, einige Momente Zeit hatten, sich an den Anblick zu gewöhnen. Einer von Habichs Mitarbeitern hielt alles mit einer Digitalkamera fest.

Rünz hatte fast zwei Dutzend Tote in seiner beruflichen Laufbahn gesehen, darunter einige Wasserleichen, aber keine hatte Ähnlichkeit mit dieser. Der Transport unter Wasser hatte den Schlick von dem Körper gespült. Die Leiche war völlig unbekleidet, Kopf, ein Unterarm, Hände und Zehen skelettiert, aber die Grobformen von Beinen und Rumpf erstaunlich gut erhalten. Das Gewebe schien relativ intakt, abgesehen von seiner unnatürlich hellgrauen Färbung und einer kreideartigen Konsistenz. Die Genitalregion war zu stark deformiert, um auf den ersten Blick Rückschlüsse auf das Geschlecht zu ermöglichen. Arme und Beine schienen mehrfach gebrochen, die Gliedmaßen standen in grotesken Winkeln ab, auch die Schädelkalotte war beschädigt. Die gesamte Bauchregion vom Becken bis zu den unteren Rippenbögen bildete eine stark eingeprägte, fast ebene Fläche, offensichtlich das Auflager des Betonblocks. Drei oder vier kleine Perforationen in der Bauchdecke ähnelten Schusswunden, konnten aber genauso gut vom Bewehrungsstahl des Betons herrühren. Rünz vermutete nach dem bloßen Augenschein einen Todeszeitpunkt, der einige Monate zurücklag.

Der Mediziner stand in Gummistiefeln im Wasser, beugte sich über die Leiche und ließ sich von Wedel Untersuchungsinstrumente aus dem Koffer herüberreichen. Er maß Temperaturen an verschiedenen Stellen in unterschiedlichen Gewebetiefen, indem er eine Art Thermometerlanze in den Körper stach, sicherte Proben der kreideartigen Substanz und ließ Wedel die verschlossenen Behälter in einer Kühlbox deponieren. Ruhig und konzentriert machte er mit seiner Kamera eine Serie von Ganzkörperaufnahmen aus verschiedenen Perspektiven. Dann wechselte er das Objektiv und fertigte aus rund 30 Zentimetern Entfernung ein lückenloses digitales Puzzle der sichtbaren Körperoberfläche an. Als er den Hals des toten Körpers anpeilte, schien er etwas zu entdecken, er gab Wedel die Kamera und ließ sich einen kleinen Seitenschneider und eine Kombizange reichen. Er werkelte einen Moment herum und zog dann mit der Zange einen verkrusteten Anhänger vom Hals des Toten, den er Habich zur Asservierung reichte.

»Sollen wir ihn drehen?«, fragte Wedel.

»Wenn Sie jetzt schon wissen, dass das ein Mann war, nehme ich ein paar Nachhilfestunden bei Ihnen, Herr Wedel.«

»Klugscheißer«, murmelte Wedel.

»Das habe ich gehört!«

Bartmann kam aus dem Wasser, setzte sich ins Gras und zog die Stiefel aus. Der Rest der Gruppe schaute ihn erwartungsvoll an.

»Massive Gewalteinwirkung, die zu mehreren Frakturen geführt hat. Todeszeitpunkt liegt mit hoher Wahrscheinlichkeit einige Jahre zurück.«

»Geht es etwas genauer«, fragte Wedel. »Geschlecht, Alter, mögliche Umlagerung, Todesursache?«

»Das Alter? Zwischen 15 und 40 Jahren ist alles möglich, vor der Sektion kann ich ihnen da unmöglich Genaueres sagen. Wahrscheinlich ein Mann – wahrscheinlich. Ich will mir später nicht vorhalten lassen, ich hätte Ihre Ermittlungen in eine falsche Richtung gelenkt. Was die Liegezeit angeht, ist zwischen fünf Jahren und mehreren Jahrzehnten alles drin nach erstem Augenschein. Umlagerung halte ich allerdings für unwahrscheinlich. Geben Sie mir zehn Tage und ich schicke Ihnen einen vorläufigen Bericht. Dann fehlen zwar noch einige Laborbefunde und die Toxikologie, aber Sie haben schon mal eine solide Arbeitsgrundlage. Sie wissen, ich brauche für die Obduktion eine gerichtliche Anordnung, aber das sollte nach dem Stand der Dinge kein Problem sein.«

Bartmann organisierte den Transport der Leiche nach Frankfurt. Habich ließ Deiters Männer noch eine gute Stunde lang Schlamm absaugen, baute dann mit ihren Leuten die Geräte ab und verstaute sie im Sprinter. Deiters setzte mit seiner Truppe im Schlauchboot über zum DLRG-Basislager. Rünz instruierte Wedel, für die Besprechung am nächsten Morgen Fotos der Leiche, des Fundortes sowie einige Pläne und Luftbilder des Areals bereitzuhalten. Es war nach 20 Uhr, bis die Bergungsstelle geräumt und der Letzte das Gelände wieder verlassen hatte. Rünz wies die beiden Polizisten am Eingang an, das Tor zu versiegeln, und machte sich auf den Weg.

956,63 ₽
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Дата выхода на Литрес:
25 мая 2021
Объем:
277 стр. 12 иллюстраций
ISBN:
9783839233108
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