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Читать книгу: «Kopf hoch, Kleiner!», страница 3

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Am übernächsten Vormittag saß ich im Zug nach Köln. Abends zuvor hatte ich einsehen müssen, dass es sich bei der Serienidee, die mir unmittelbar nach Jansens Anruf eingefallen war, um Schrott handelte. Nach einer unruhigen Nacht und einem sehr einsamen Frühstück hatte ich in einem Anfall von Panik Jansens Privatnummer gewählt und mich mit ihm um elf Uhr in seinem Büro verabredet. Von großer Freude über mein plötzlich erwachtes Interesse an dem Job hatte sich Jansen nichts anmerken lassen, weshalb ich sofort nach dem Auflegen meinen Anruf bereute. Aber dann machte ich mir klar, dass sich ein erledigter Autor - und dafür hielt ich mich nun endgültig - auf der Suche nach einem neuen Job keine Überempfindlichkeit leisten konnte. Sicher, TIMO brachte eine Menge Geld ein, aber ich wollte mir meinen Lebensunterhalt nicht von einem Hund bestreiten lassen, den ich nicht einmal selbst erfunden hatte.

Das Wetter in Köln passte nicht unbedingt zu der seelischen Verfassung, in der ich mich beim Verlassen des Bahnhofs befand. Es war überaus mild und der Himmel strahlend blau.

Mit Hilfe eines Stadtplans machte ich mich auf die Suche nach der Straße, in der sich die Produktionsfirma befand. Sie lag südlich der Altstadt, und es dauerte etwa zwanzig Minuten, bis ich vor einer großen schwarzen Tafel mit den drei winzigen goldenen Buchstaben FIT stand, der Abkürzung für Fun International Television. Ein Architekt und ein Steuerberater residierten ebenfalls in dem sechsstöckigen Bürohaus, in dem FIT die vier oberen Etagen gemietet hatte.

Es war ein Spiegel im Lift, aber ich schaute nicht hinein. Ich wollte nicht wissen, wie ein dreiundvierzigjähriger Mann aussieht, der in wenigen Minuten das erste Vorstellungsgespräch seines Lebens führen sollte.

Die Empfangsdame schenkte mir ein strahlendes Lächeln, das mich meine Niedergeschlagenheit für einen Augenblick vergessen ließ. Ich verriet ihr meinen Namen und mit wem ich verabredet war. Sie rief Jansen an, legte auf und bat mich, einen Moment Platz zu nehmen.

Es war kein Sessel vom Sperrmüll, in dem ich langsam versank. Ich schaute mich um. Vom Empfangsraum führte ein Flur mit vier Türen auf jeder Seite zu einer Treppe mit rotem Geländer, die das Stockwerk mit den drei oberen Etagen verband. Möbel, Lampen, Teppiche, alles sah neu und teuer aus. Die Geschäfte von FIT schienen ganz gut zu laufen. Ein Blick auf die Uhr sagte mir, dass Jansen mich nun schon fünf Minuten hatte warten lassen.

In den kommenden zwanzig Minuten verschwendete die Empfangsdame ihr Lächeln an zwei gutgekleidete Frauen, die anscheinend hier arbeiteten, an einen Kurier, einen Pizzaboten, an ihren Taschenspiegel und zweimal an mich. Ich wurde immer gespannter auf die Ausrede, mit der Jansen mir hoffentlich bald seine Verspätung erklären würde. Eine Herzattacke war das mindeste, was ich als Entschuldigung zu akzeptieren bereit war.

“Hat leider etwas gedauert“, lautete dann sein lahmer Kommentar. Er hatte mich eine halbe Stunde warten lassen. Ich folgte ihm in sein Büro im obersten Stock. Vor seinem Schreibtisch sah ich Jansen zum ersten Mal richtig an. Er war grauer, faltiger und dicker geworden in den knapp drei Jahren seit unserm letzten Treffen. Verjüngt hatte sich hingegen sein Outfit - buntes Hemd und verwaschene Jeans; und seine Brille - schmale Balken statt Tropfenform.

Im Verlauf unseres Gesprächs wartete ich vergeblich auf die Frage danach, warum schon länger keine neue Serie von mir im Fernsehen gelaufen war. Ich hatte eine Auswahl von Antworten darauf parat, von denen eigentlich keine der Wahrheit besonders nahekam, doch Jansen erwähnte meine Schreiberei mit keinem Wort. Er erzählte mir, wem FIT gehörte und welche Produktionen die Firma in letzter Zeit verkauft hatte. Zumindest dem Namen nach kannte ich die Gameshow, die drei Unterhaltungsserien und die Reality-TV-Reihe, deren Titel er mir nannte. Es war nichts darunter, was riesigen Erfolg gehabt hatte, aber auch kein ausgesprochener Flop.

“Solide Durchschnittsware für solide Einschaltquoten – so würde wohl der Wappenspruch von FIT lauten, wenn wir ein Wappen hätten“, erklärte mir Jansen, während er seine Pfeife stopfte. “Also genau das, was wir beide mit DOPPELT GEMOPPELT abgeliefert haben.“

So hieß die sechsundzwanzigteilige Serie - meine bisher letzte -, für die Jansen als Redakteur verantwortlich gewesen war. Er verriet mir nicht, warum er seinen alten ARD Sender verlassen hatte und zu FIT gewechselt war, und ich fragte ihn auch nicht danach. Unsere Beziehung war nie besonders persönlich gewesen. Wenn wir uns getroffen oder miteinander telefoniert hatten, war es nur um die Serie gegangen. Ich dachte an die simple Ausgangsidee von DOPPELT GEMOPPELT. In der einen Hälfte eines Doppelhauses lebte die chaotische Familie eines Bildhauers, in der anderen die ordentliche Familie eines Beamten. Klischeehafte Charaktere, vorhersehbare Konflikte – aber fast acht Millionen Zuschauer pro Woche. Was hatte ich seitdem verlernt, verdammt nochmal?

Jansen erläuterte mir ausführlich, was alles zu meinem Job gehören sollte - Drehbücher lesen, Manuskripte für bereits verkaufte Serien drehfertig überarbeiten, bei der Entwicklung neuer Unterhaltungskonzepte mitarbeiten, bestehende Kontakte zu Autoren, Regisseuren und Sendern pflegen und neue aufbauen und so weiter.

“Klingt nach ziemlich viel Arbeit“, sagte Jansen lächelnd und zog an seiner Pfeife. “Aber für 25.000 Mark im Monat können wir wohl einiges verlangen, oder?“

25.000 Mark? lm Monat? Dafür hätte ich sogar als Putzfrau für FIT gearbeitet. Als er mich fragte, ob er mir mein Büro zeigen sollte, sprang ich sofort auf.

Ich folgte ihm eine Etage tiefer. Fast alle Türen standen offen, ich hörte Stimmengewirr und Telefongeklingel, Leute gingen von einem Büro ins andere, zwei Fernseher liefen mit lautem Ton. Jansen wurde von einem langhaarigen, jungen Mann angehalten, der sich darüber aufregte, dass ein Schlagersänger, den ich für längst gestorben gehalten hatte, nicht zu der kurz bevorstehenden Aufzeichnung einer Musikshow erscheinen konnte.

“Das wundert mich“, meinte Jansen gelassen. “Um mal wieder ins Fernsehen zu kommen, würde der doch sogar aus einer Intensivstation abhauen.“

Dann sagte er dem Langhaarigen, wo er anrufen solle, um schnellstens Ersatz auftreiben zu können. Der Mann verschwand, und Jansen ging mit mir zum Ende des Flurs und öffnete die rechte Tür.

Es war ein ziemlich kleines Zimmer mit zwei gegenüberstehenden Schreibtischen.

“Frau Heise, Ihre Mitarbeiterin, ist heute leider nicht da. Ich denke, Sie werden gut mit ihr klarkommen.“

Ich hatte also doch nicht geschwindelt, als ich Ellen gegenüber damit geprahlt hatte, Jansen würde mir eine eigene Sekretärin zur Verfügung stellen. Allerdings war ich ein bisschen enttäuscht, dass sie nicht in einem Vorzimmer untergebracht war, sondern mir gegenübersaß.

Ich ging zum Fenster und prüfte den Ausblick.

“Wie war das noch mit dem Blick auf den Rhein?“ fragte ich Jansen.

Er lachte, steckte die Pfeife in den Mund und machte das Fenster auf. “Sehen Sie da hinten links?“

Ich musste mich lebensgefährlich weit hinausbeugen, um zwischen zwei Häuserwänden ein winziges Stück Rhein entdecken zu können. Jansen amüsierte sich über meinen Gesichtsausdruck.

“Also, was meinen Sie? Wenn Sie Lust haben, können Sie am Montag hier anfangen.“

Ich schloss das Fenster und schaute mich um. Jeden Tag acht Stunden in diesem Büro sitzen - unvorstellbar! Aber ich hatte keine Wahl, schon gar nicht bei dem Geld.

“Am Montag um neun bin ich hier.“

Er sah mich nachdenklich an. Dann legte er mir eine Hand auf die Schulter. “Wenn Sie nicht mit der Arbeit zurechtkommen, können Sie gerne sofort wieder gehen.“

Ich nickte. Das hörte sich nicht so an, als sei Jansens Vertrauen in mich übermäßig groß. Warum hatte er mir den Job überhaupt angeboten?

Er ging zur Tür, blieb stehen und zeigte auf den Kalender. “Sie wissen doch, was heute für ein Tag ist, oder?“

Ich sah ihn fragend an. Er grinste.

“Haben Sie das wirklich geglaubt mit den 15.000 im Monat? 3.500, mein Lieber, mehr bekommt hier niemand am Anfang. In drei Monaten sehen wir dann weiter.“

Ich schaute auf den Kalender. Es war der 1. April.

6

Doch noch übler reingelegt als durch Jansens Aprilscherz fühlte ich mich durch seine Abschiedsworte: “Schöne Grüße an Ihre Frau! Und sagen Sie ihr, dass ich schon sehr gespannt bin auf die neuen TIMO-Geschichten.“

Hatte er mir nicht bei seinem Anruf versichert, noch nie etwas von TIMO gehört zu haben? Auf dem Weg zum Bahnhof suchte ich nach dem Grund, warum er mich angelogen hatte. Erst im Zug dämmerte mir allmählich, was dahinterstecken mochte. Und als ich dann Ellen zu Hause im Wohnzimmer zur Rede stellte, versuchte sie nur halbherzig, meinen Verdacht als Hirngespinst abzutun.

“Ich weiß gar nicht, was du willst“, meinte sie ausweichend und ließ sich aufs Sofa fallen. “Warum freust du dich nicht einfach darüber, einen Job zu haben? Oder hat es dir so viel Spaß gemacht, monatelang am Schreibtisch zu sitzen und ein weißes Blatt anzustarren?“

“Hast du mit Jansen telefoniert, ja oder nein?“ bohrte ich weiter.

“Nein.“

“Ich glaub‘ dir kein Wort.“

“Warum regst du dich denn so auf?“ fragte sie lächelnd. Doch plötzlich machte sie ein ernstes Gesicht und sah mich stirnrunzelnd an: “Ich hab Jansen zufällig letzte Woche getroffen. Und zwar auf der Vernissage von dieser tunesischen Malerin. Er wollte wissen, woran du gerade arbeitest. Was hätte ich ihm sagen sollen? Dass du gerade in der kreativsten Phase deines Lebens bist?“

“Er hat mir also nur aus Mitleid den Job angeboten?“ rief ich wütend. Ellen verzog genervt das Gesicht. Ich konnte mir denken, wie das Gespräch zwischen Jansen und ihr gelaufen war. Jansen hatte bestimmt nicht mal im Traum daran gedacht, mir eine Stelle bei FIT zu besorgen, doch Ellen hatte ihn irgendwie dazu überredet. Ich fragte mich, mit welchen Argumenten sie Jansen überzeugt hatte. Mir fiel keins ein. Oder hatte sie ihn vielleicht irgendwie unter Druck gesetzt?

“Womit hast du ihn denn erpresst? Mit einem geheimen Video, auf dem er es mit Carolin Reiber und Max Schautzer treibt?“

“Was heißt erpresst?“ meinte sie zögernd. “Jansen und ich haben uns über die Film- und Fernsehrechte von TIMO unterhalten.“

Sie fuhr sich durch die Haare.

“Und weiter?“ drängte ich ungeduldig.

“Nichts weiter. Der Verlag hat noch nicht entschieden, an wen die Rechte verkauft werden. FIT ist einer der Interessenten.“

Jetzt fiel bei mir endlich der Groschen. “Das war also der Deal: Jansen gibt einem ausgebrannten Ex-Drehbuchautor einen Job, und im Gegenzug sorgt dessen Frau dafür, dass Jansens Firma den Zuschlag für die TIMO-Rechte bekommt. Großartig! Ich werde TIMO ein Denkmal bauen, und zwar aus Hundescheiße.“

Kopfschüttelnd stand Ellen auf.

“Das ist wirklich das Letzte!“ brüllte ich sie an. “Ich komme mir vor wie ein kleiner Protegé von Katharina der Großen. Wenn ich Jansen letzte Woche getroffen und ihn um eine Stelle gebeten hätte, dann hätte er einen Lachanfall bekommen. Aber wenn die große Starautorin mit den TIMO-Rechten vor seinen Augen wedelt, kuscht dieser Idiot natürlich sofort. Hättest du mir das nicht verraten können, ehe ich nach Köln gefahren bin?“

“Wärst du denn dann nach Köln gefahren?“

“Bist du verrückt?“ fauchte ich.

“Ich verstehe nicht, warum du die ganze Sache nicht viel lockerer siehst“, versuchte sie mich zu beruhigen. “Es kann dir doch völlig egal sein, worüber ich mit Jansen geredet habe. Hauptsache, du bist bei FIT und kannst dir dort beweisen, dass du doch nicht so ausgebrannt bist, wie du behauptest. Glaub‘ mir, wenn du gut bist, fragt in ein paar Wochen kein Mensch mehr danach, wie du zu deinem Job gekommen bist.“

“Zu was für einem Job? Morgen früh ruf‘ ich Jansen an und sag‘ ihm, dass er sich einen andern Versager für seinen Scheißladen suchen kann.“

Und damit stürmte ich an Ellen vorbei aus dem Zimmer, eilte in den Garten, warf den Rasenmäher an und mähte alles nieder, was mir in den Weg kam. Jedes Mal, wenn ich an Ellens Lieblingsbaum vorbei musste - einer Linde, die sie selbst gepflanzt hatte -, rammte ich ihn kräftig. Zeitweilig sahen mir Herr Freese auf der anderen Seite der Hecke und Vanessa aus ihrem Fenster mit irritierten Blicken bei der Arbeit zu. Als ich fertig war, wurde mir der Grund für die Verwunderung der beiden klar: Ich hatte den Rasen vor vierundzwanzig Stunden zum letzten Mal gemäht.

Am nächsten Morgen rief ich nicht bei Jansen an. Der Tag war irgendwie einfach zu herrlich. Die Sonne schien, die Vögel sangen, Vanessa hatte blendende Laune. Nur Ellen kam zu ihrem Leidwesen aber auch gar nicht mit ihrem Manuskript voran. Ich saß im Garten und fühlte mich so unbeschwert wie schon lange nicht mehr. Und ich beschloss, es nun doch bei FIT zu versuchen. Ich wollte nicht nur mir, sondern vor allem Ellen beweisen, dass ich zu mehr fähig war als nur zum Joggen. Ich wird‘s dir zeigen, sagte ich mir immer wieder und hätte beinahe meine geballte Faust in die Luft gereckt.

Dass ich ohne TIMO den Job nie bekommen hätte, störte mich inzwischen nicht mehr. Warum sollte ich TIMO ausgerechnet dafür böse sein? Schließlich sorgte er auch sonst für alles: für die Hypotheken, den Strom, die Marmelade, das Waschpulver und für Vanessas Taschengeld. Für seine Hunderttausende von Lesern mochte TIMO ein Hund sein - für uns war er eine goldene Kreditkarte.

7

Toronto ahnte natürlich nichts davon, dass wir zum letzten Mal zusammen joggten. Es war wieder etwas kühler geworden, und am Himmel zogen sich dunkle Wolken zusammen. Als ich mir zu Hause die Turnschuhe zugeschnürt hatte, war ich entschlossen gewesen, ihm endlich die Wahrheit über mich zu sagen und ihm zu erklären, warum ich in der nächsten Zeit nicht mehr zum Joggen kommen würde. Ich wollte ihm vorschlagen, unsere Namen und Telefonnummern auszutauschen, damit wir uns gelegentlich auf ein Bier hätten verabreden können. Doch als er dann im Schlosspark neben mir auftauchte und nach meinem Roman fragte, erzählte ich ihm die letzten zwei Kapitel vom GROSSEN GATSBY und freute mich wie ein kleines Kind, als er mich lobte für diesen wirklich originellen Schluss. Den Frauengeschichten und seinen Millionen, mit denen Toronto mich beeindruckte, hatte ich halt nichts anderes entgegenzusetzen als diesen geklauten Roman.

Während wir am Rhein entlangliefen, erzählte mir Toronto von seiner letzten Orgie.

“Eigentlich ist es nichts anderes als Stress, mit drei Frauen gleichzeitig ins Bett zu gehen“, beklagte er sich. “Das war vielleicht eine anstrengende Nacht!“

Ich empfand so viel Mitleid wie für einen Milliardär, der gerade sechs Richtige auf seinem Lottoschein entdeckt hat.

“Überall Beine und Brüste und Hintern und . . .“ Er stieß einen Seufzer aus. “Da weiß man gar nicht, wo man zuerst anfassen soll. Sie wissen ja sicher, wie das ist.“

Klar! Schließlich hatte ich mindestens einmal in der Woche Gruppensex.

Toronto verlor sich in sämtlichen Einzelheiten. Ich redete mir ein, dass ich im Grunde froh sein sollte, diesem angeberischen Deckhengst zum letzten Mal zuhören zu müssen. Doch nur seinem Geschwätz hatte ich es in den letzten Wochen zu verdanken, dass ich täglich eine Stunde lang meinen Frust völlig vergessen konnte. Ja, ich mochte diesen dekadenten Geldsack, der am liebsten alle Hunde in Düsseldorf mit einem Maschinengewehr erledigt hätte. Konnte ich nicht doch in Verbindung mit ihm bleiben, ohne ihm die Wahrheit über mich sagen zu müssen?

Der Kontakt mit anderen Menschen machte mir Probleme. Ellen behauptete manchmal, verglichen mit mir sei Molières Menschenfeind ein Partylöwe. Außer meiner Familie stand mir nur mein alter Freund Oliver wirklich nahe. Mit Knut und zwei, drei anderen verabredete ich mich nur, wenn es sich absolut nicht vermeiden ließ. Auf Ellens und Vanessas Witze über mein Einsiedlerleben reagierte ich meist mit dem Spruch, meine Bücher seien meine besten Freunde. Allerdings blieben die selbst nach dem zehnten Bier so stumm wie ein Fisch.

Mit Toronto hatte ich endlich jemanden, den ich länger als drei Stunden im Jahr ertragen konnte, aber durch die Angst, mich bloßzustellen, würde ich ihn an diesem Vormittag wahrscheinlich zum letzten Mal sehen. Ich ballte beim Laufen die Fäuste, so wütend war ich auf mich selbst, auf Timo, auf Gatsby und auf die ganze verlorene Zeit seit meiner letzten Fernsehserie vor zwei Jahren.

Mitten im Bericht über seinen fünften Orgasmus unterbrach sich Toronto und schimpfte: “Mist! Es fängt an zu regnen. Bis Montag!“

Er nickte mir zu, hob kurz eine Hand und bog in die Kurve. Ich blieb stehen und schaute ihm nach, bis er zwischen den Bäumen verschwunden war. Ich hätte heulen können vor Enttäuschung. Der Regen wurde immer stärker. Es dauerte eine Ewigkeit, bis ich mich zu einem Entschluss durchgerungen hatte. Ich presste die Lippen zusammen und rannte Toronto hinterher. Kurz darauf sah ich ihn etwa fünfzig Meter vor mir auftauchen. Ich lief noch schneller, um ihn einzuholen. Plötzlich drehte er sich um und machte ein erstauntes Gesicht.

“Was ist los?“

Ich verlangsamte mein Tempo, hob die rechte Hand und rief: “Bis Montag!“

Und dann bog ich in den nächsten Seitenweg ein.

8

Am Sonntag lernte ich endlich David kennen. Ich saß in meinem Arbeitszimmer, um Abschied zu nehmen. Ab Morgen war ich kein freier Schriftsteller mehr. Im Zweikampf zwischen Melancholie und Erleichterung behielt die Erleichterung die Oberhand.

Vanessa klopfte an, ehe sie Hand in Hand mit David hereinkam.

“Hallo, Paps. Das ist David. Und das ist mein Vater.“

Nach Vanessas Erzählungen hatte ich ihn mir ganz anders vorgestellt: blass, schüchtern, mit einer schlauen Nickelbrille und ganz viel Akne. David war jedoch groß und sportlich, hatte ein Gebiss wie der Kerl auf meiner Zahnpastatube und durchbohrte mich beim Händeschütteln mit einem so intensiven Blick, dass mein Blick irritiert zu seiner Baseballmütze wanderte.

“Ich helfe Mutti, das Abendessen vorzubereiten“, sagte Vanessa, wobei sie sich anhörte, als hatte sie gerade ihre Stimmbänder auswechseln lassen. Sie klang zwei Oktaven höher als sonst. “Du hast doch nichts dagegen, dass David mit uns isst, oder?“

“Macht aber bloß nichts Besonderes meinetwegen“, meinte David herablassend, schlang seine Arme um Vanessa und küsste sie. Ich las die Aufschrift auf der Rückseite seines Sweatshirts ungefähr zwanzigmal, dann waren die beiden endlich fertig mit ihrer Küsserei.

“Kann er bis zum Essen hierbleiben?“ flötete Vanessa, “oder wolltest du noch etwas arbeiten?“

“Sicher.“

Ich war allein mit David und bot ihm den Stuhl am Fenster an. Er wollte sich erst die Bücher ansehen und ging langsam mit schräg gehaltenem Kopf die Regale entlang. Entweder er kannte oder er mochte die Bücher nicht, jedenfalls verlor er kein Wort über meine Bibliothek. Er setzte sich auf den Stuhl und starrte mich durchdringend an. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, und fragte ihn nach seinem Alter.

“Ja, ich weiß, ich seh‘ älter aus“, meinte er lächelnd.

“Aber ich bin wirklich erst sechzehn. Ist bestimmt ein komisches Gefühl für Sie.“

“Dass du aussiehst wie fünfunddreißig?“

“Nein, dass Ihre Tochter einen Freund hat. Soweit ich weiß, bin ich der erste. Das heißt, der erste richtige. Vanessa ist eigentlich auch meine erste richtige Freundin. Im Ernst. Klar, ich bin gut drauf und seh‘ nicht gerade schlecht aus, aber irgendwie - o.k., ich will ganz offen sein, eine Zeitlang hab‘ ich das Gefühl gehabt, ich wär schwul.“

Ich machte ein ungläubiges Gesicht.

“Doch, ehrlich. Mein bester Freund Thomas und ich, wir beide sind ziemlich lange - na ja, erst haben wir uns immer so angetatscht und dann damit angefangen, uns gegenseitig zu befriedigen. Sie kennen so was bestimmt auch von früher, hab‘ ich Recht?“

Hatte er. Ich schüttelte dennoch leicht den Kopf.

“Wirklich nicht?“ stutzte er. “Es ist doch statistisch erwiesen, dass achtzig Prozent aller Jungs - na ja, egal. Jedenfalls hat Thomas den Kochlöffeltest erfunden, um rauszukriegen, ob wir nun schwul sind oder nicht. Ist natürlich total naiv gewesen, aber da waren wir noch dreizehn, also Kids. Wir haben den Stiel vom Kochlöffel mit Butter beschmiert und ihn uns gegenseitig in den Hintern gesteckt. - Schockiert Sie das jetzt? Wir wollten bloß sehen, ob uns das Spaß macht. Danach haben wir beschlossen, dass wir nicht schwul sind. Obwohl es uns doch irgendwie Spaß gemacht hat. Es war völlig idiotisch. Thomas hat jetzt auch ‘ne Freundin.“

Immerhin konnte ich nicht behaupten, dass David mir kein Vertrauen schenkte. Wir kannten uns seit fünf Minuten. Vanessa kannte ich seit vierzehn Jahren, und sie verriet mir nicht mal den Namen ihres Shampoos.

“Keine Angst“, beruhigte ich David. “Vanessa erzähl‘ ich natürlich kein Wort davon.“

Er winkte ab. “Das weiß sie längst.“

“Im Ernst?“

“Kennen Sie William Blake?“

“Nein.“

“Dachte ich mir.“ Er ließ einen spöttischen Blick über meine Bücher schweifen. “Ein Autor aus dem 18. Jahrhundert. Es gibt da eine Stelle in seiner VERMÄHLUNG VON HIMMEL UND HÖLLE. Hören Sie zu: ‘Eher morde ein Kind in der Wiege, als zu nähren ungelebtes Begehren.‘ Und da halte ich mich dran, egal, ob die Leute damit klarkommen oder nicht. Natürlich bringe ich kein Kind um. Das heißt ja auch nur, dass man seine Wünsche entweder ausleben oder besser sofort drangeben soll. Meinen Eltern hab‘ ich die Geschichte mit Thomas natürlich auch erzählt.“

“Und was haben die dazu gesagt?“

“Meine Mutter hat sofort alle Kochlöffel weggeschmissen und neue gekauft.“

“Du siehst wirklich nicht aus wie sechzehn“, schweifte ich ab.

“Wenn Sie es nicht ertragen können, dass ich Vanessa vor Ihren Augen küsse, dann rühr‘ ich sie nicht mehr an, wenn Sie dabei sind, o.k.? Und jetzt lassen Sie uns mal darüber reden, warum Sie nicht mehr schreiben können.

Nein, Sie brauchen sich nicht aufs Sofa zu legen. Solche Methoden sind echt überholt. Also, womit wollen Sie anfangen? Mit Ihrer Mutter? Was war sie für ein Mensch?“

“Eine Frau.“

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