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»Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt« (Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus), stimmt, und ich bin – alterseidank – längst niemandem mehr ausgeliefert, der mir nicht passt und nicht gut tut. Meine Ohren führe ich an Orte, wo eher meine Lachfalten gefördert werden denn die Sorgencanyons. Sonst bin ich wohler daheim mit einer guten Buchstabensuppe. In dem Sinne: Salem Aleikum, gehen wir in Frieden, aber gehen wir … mindestens 10 000 Schritte pro Tag, empfiehlt Hausdoktor Ali Mabulu.

DIE RITTER DER KOKOSNUSS

»Danke, dass Sie an der Zukunft der Schweiz mitwirken«, meinte der neue Bundespräsident bei seiner Neujahrsansprache.

Ich lag auf meiner Denkercouch und sinnierte darüber, was der Bundespräsident uns damit sagen wollte. Zwei Riesenraben flogen am Fenster vorbei. Ich nahm ein paar abgelegte Artikel der letzten Wochen zur Hand und staunte, was da alles drinstand.

Das Bundesgericht verfügte, dass private Weihnachtsbeleuchtungen um ein Uhr abzuschalten seien – Achtung! – ab dem sechsten Januar schon um 22 Uhr! Eine Bündner Gemeinde will ein Verbot von Gartenzwergen durchsetzen und Hobbyfeuerwerker müssen ab jetzt einen teuren Kurs besuchen, wenn sie Raketen in den Himmel steigen lassen wollen.

Ich könnte hier 50 Seiten lang den kleinen und grossen Regulierungswahn aufführen. Es grüssen die Ritter der Kokosnuss! Oder anders gesagt: Ich sehe Zeichen von Übermut und trunkener Abgehobenheit, während ein Grossteil der Welt am Taumeln und Ächzen ist.

Mit anderen Worten, der Staat mischt sich zunehmend dort ein, wo er nichts zu suchen hat: Wir regulieren uns zu Tode und machen keinen Schritt mehr ohne Juristen und Anweisungshandbuch. Eine Welt zum Schreien, ohne nennenswerte Liberalisierungen.

Erstaunt es da, dass das Verwaltungswesen mehr wächst als die Privatwirtschaft? Jemand muss diesen Irrwitz ja erfinden, bearbeiten und durchsetzen. Der Personalzuwachs der letzten Jahre bei Bund, Kanton und Gemeinden bewegt sich im fünfstelligen Bereich. Auch im nächsten Jahr soll die Staatsquote weiter ansteigen. Nur wenige denken an die Folgen dieser Fehlentwicklung. Man schaue nur mal nach Frankreich. Es erstaunt mich immer wieder, wie wenig wir Bürger uns darum kümmern, wie die sauer verdienten Steuergelder eigentlich eingesetzt werden. Man akzeptiert es einfach als »verlorenes« Geld, als notwendiges Übel, zu dessen Verwendung wir eh nix mehr zu melden haben. Die Puppenspieler lassen ihre Puppen tanzen und die Falschen bereichern sich schamlos.

Ich betrachte das Treiben in Bern hie und da aus nächster Nähe. Folgendes ist mir aufgefallen: Selten hört einer dem anderen richtig zu. Eine richtige, vertiefte Debatte findet kaum statt. Fast jeder geht mit vorgefasster Meinung ans Rednerpult und liest meist parteigetreu vom Zettelchen ab. Andere verstecken sich während dieses 50-%-Jobs hinter dem Laptop, lesen Zeitung oder gucken auf ihr Handy. Als ich das zum ersten Mal sah, war ich konsterniert – was soll das? Ist das seriöse Arbeit, für die man 130 000 Franken plus fette Zusatzvergütungen pro Jahr bekommt? Und dann diese ewige Unruhe? Ich stellte mir vor, wie es wäre, wenn ein Privatunternehmen, ein Fussballklub oder eine Band solche respektlosen Meetings abhalten würde? Könnte dabei etwas Konstruktives herausschauen?

Schmunzeln musste ich, als letzthin ein geschätzter Kolumnenkollege etwas überspitzt einen Berufspolitiker fragte, ob er wirklich glaube, dass es sich bei der Politik beziehungsweise der Angewohnheit, allen Geld zu versprechen, dabei aber nur Kosten zu verursachen, tatsächlich um einen ehrbaren Beruf handle, der entlöhnt werden müsse. Und ob es denn nicht reichen würde, wenn wir den Parlamentariern einfach die Reise- und Verpflegungskosten vergüten würden. Die Antwort des Parlamentariers können Sie sich vorstellen, liebe Leser. Mitwirken könnte auch mal genaues, selbstkritisches Hinschauen sein!

Ich lese auch von Staatsstellen, die für das tägliche Kopieren von Dokumenten 7000 Franken pro Monat bekommen und von dem Führungschaos beim Bundesamt für Strassen. Die meisten Ämter können über ihre Leistungen und damit über ihr Budget frei entscheiden. Was die Arbeit tatsächlich kostet und ob für Preisgünstigkeit und Effizienz gesorgt wird, durchschaut längst niemand mehr und es wird eh meist nur die teuerste, aber längst nicht beste Variante bevorzugt. Siehe das Informatik-Insieme-Debakel, wo Insidergeschäfte, Filz und mangelnde Transparenz einen Fehleinkauf forcierten. Den Steuerzahler kostete das 102 Millionen Franken. Als wäre das nicht schon beunruhigend genug, werden parallel dazu Schulden angehäuft, als gäbe es kein Morgen. Sparen, das sollen gefälligst die anderen oder im dümmsten Fall halt die zukünftigen Generationen.

Nein, es reicht nicht mehr, nur die Abzocker in der Wirtschaft an den Pranger zu stellen und masszuregeln. Wir müssen jene Hochmütigen in der Politik, die hart verdientes Geld arg- und schamlos abkassieren und verschleudern, genauso kritisch angehen und kontrollieren. Je schneller, desto besser, denn ihr Treiben wird zunehmend dreister und die Leistung nicht besser. Dazu schaden sie all jenen, die einen respektablen, kräftezehrenden Herzblutjob im Staatswesen machen.

Etwas überspitzt ausgedrückt: Wenn man jedoch Menschen zu viel Geld fürs Nichtstun gibt, werden sie übermütig, verlieren Bodenhaftung, Motivation und wälzen die Verantwortung ab. Es ist eine Krankheit, gegen die eigentlich nur Fasten helfen würde, aber eben, wer hat den Mut und die Eier, das durchzusetzen? Für einen lumpigen Haufen Geld hat schon manch einer seine Seele und sogar die Familie verkauft. Wir kultivieren hier phasenweise ein falsches Anreizsystem aus dem Allesversprecher und Lügner wachsen, die logischerweise nicht mehr aus dem süssen Honigtopf wollen. Und neuerdings verbandelt sich sogar die freie Wirtschaft mit dem antiliberalen Staat, um an die Steuergelder zu kommen. Eine extrem ungesunde Entwicklung.

»Wenn das Geld regiert und nicht mehr dient, dann sagen wir Nein! Auch zum spirituellen Alzheimer, zur mentalen Erstarrung und zum Terrorismus des Geschwätzes, der Krankheit der feigen Menschen, die nicht den Mut haben, direkt mit jemandem zu sprechen.« Das sagte kürzlich der Papst Franziskus. Ich habe selten so weise Worte von einem Kirchenoberhaupt gehört. Er scheint ein gebödeleter Mann zu sein.

Nun, Herr Bundespräsident, der Papst und ich sind zur Mitwirkung an unserer Zukunft bereit!

CHRISTKINDERLAND

Für viele mag die Weihnachtszeit nur noch Ärger und Stress bedeuten. Die ganze Materialschlacht, Konsumwut und Rastlosigkeit haben die einstigen Sinn- und Glücksgefühle dieses Rituals fast besiegt. Man mag nun gläubig sein oder nicht, wer aber in diesen Tagen an nichts Grösseres als an sich selbst und seinen Porsche glaubt, kann auch unter vielen Menschen recht einsam und leer bleiben.

Ich verbinde das Christkindfest immer wieder mit dem Glück, mit Eltern und Grosseltern feiern zu können, einem Glück, das es für mich nicht mehr gibt. So ist der Lauf des Lebens – nichts für empfindsame Seelen. Gerade an Weihnachten wird einem das schonungslos vor Augen geführt. Trotzdem klingt da, nebst der Freude meiner Tochter, noch etwas nach, an das ich immer wieder gerne zurückdenke – wundervolle Geschichten, als seien sie erst gestern geschehen.

Es war in unserem Elternhaus in Solothurn am Heiligen Abend im schön geschmückten Wohnzimmer. Kurz vor dem Essen sangen wir Weihnachtslieder, die Grossmutter wie immer köstlich falsch in den hohen Lagen. Zwischendurch ging meine Mutter in die Küche, um anzurichten. Mein Hund Buzzli beobachtete, wenn’s ums Essen ging, die Szene ganz genau. Das wohlriechende Rollschinkli lag nur 20 Sekunden unbeaufsichtigt am Tischrand und schon war es im Mund des Labradors. Oma Idaso-was-war-noch-nie-da rief entsetzt: »Gib aus Buzz, gib aus!«, was er auch sofort in geduckter Haltung tat. Wir Kinder hielten uns die Bäuche vor Lachen. So war er eben der Buzz und man konnte es ihm nicht verübeln, schliesslich wollte er auch etwas Spass haben an diesem Festtag.

Nach dem Nachtessen sassen wir alle um den Baum und bestaunten seine Schönheit, mit all den Kerzen, dem Glitter und Glimmer und den alten farbigen Kugeln, in denen sich das ganze Zimmer spiegelte.

Dann las unser charismatischer Grossvater Hermann aus der Bibel über die Geschichte von Jesu Geburt, den Hirten und der Herde. Das war der Kern dieses Festes, die bewegte Stimme des Grossvaters und der Blick zur Krippe mit all den schönen Figuren. Die drei Heiligen Könige, Maria, Joseph und ein kleines weisses Schaf, das friedlich auf dem Schilfdach lag. Ein ganz schwaches rotes Licht brannte im Inneren der Hütte. Ein unschlagbarer Anblick, gerade in dieser Einfachheit.

Daneben dann, unter dem Baum verstreut, die Geschenke, die so treffend den Gegensatz zwischen Erd- und Gottesreich, zwischen natürlicher und andächtiger Freude aufzeigten. Die Freude über Jesus Geburt im Stall von Bethlehem, dieses Kerzenlicht, der Duft von Zimtsternen und Lebkuchen, und dann diese drängende Unruhe im Herzen, ob nun das so lang Ersehnte auch unter den Geschenken sei. Eine wirklich skurrile Mischung.

Unvergessen bleibt mir das Gesicht meines vier Jahre jüngeren Bruders beim Anblick seines Geschenks. Es war ein Forscherkasten mit diversen Experimentierfläschchen. Etwas, das er sich immer schon gewünscht hatte. Im Glanze des feinen Kerzenlichtes erschien sein Antlitz wunderschön. Ein selig strahlendes, vor Glück und Freude ganz und gar verzaubertes, blond gelocktes Kindergesicht, so rein und leuchtend, wie ich es nie zuvor gesehen habe.

Während ich, ausser dem weissen Beatles Album, keines meiner Geschenke von damals noch in Erinnerung habe, blieb das Bild dieses Brudergesichtes für immer in mir haften. Später fand ich heraus warum. Es war nicht nur Schönheit, der diesem magischen Moment innewohnte, nein, es war auch ein entferntes, damals noch nicht bewusstes Erkennen, dass meine Kindheit vorbei war. Mein Bruder erlebte seine Geschenke wie ein Paradies. Mir blieb dieses unbeschwerte Glück bereits versagt. Ich konnte es zwar noch von aussen betrachten, aber die Unschuld, das Wertvollste war verloren. Ich war zwar jetzt gescheiter und älter, aber auch kälter und verächtlicher.

Hermann Hesse schrieb: »Es gibt kein Wachstum das nicht ein Sterben enthält. Es fällt in jedem Augenblick ein Blatt vom Baum, es welkt eine Schuppe von mir ab. Dies geschieht in jeder Stunde unseres Lebens, es ist des Werdens und Welkens kein Ende. Nur selten sind wir wach und achten darauf, was in uns vorgeht. Aber muß das so sein? Warum eigentlich scheint es uns selbstverständlich, daß das Leben eine böse Macht ist, die aus dem Kinderland hinein in Schuld, Enttäuschung und ungeliebte Arbeit führt? Warum soll Freude und Unschuld diesem Leben notwendig zum Opfer fallen?«

Ich weiss es nicht, doch seit ich mir diese Frage stelle, sind für mich Weihnachten und auch viele andere Tage des Jahres wieder wertvoller, bedeutender und inhaltsvoller geworden. Nicht Geld, Macht oder Besitztum machen uns reicher, sondern Hingabe, Teilnahme und Liebe. Das ist ein altes Lied, ich weiss, aber Wahrheit veraltet nicht.

WÜSTENWINTER

Schnee! Ich breitete meine Arme aus, als er vom Himmel fiel. Auch heute vermag mich diese Kristallwatte wie in Kindertagen zu faszinieren. Die weisse Pracht beruhigt meine Psyche, dämpft die hässlichen Geräusche und bringt dieses unvergleichliche Licht hervor.

Ich malte mir schon aus, wie ich mit meiner Tochter als Zugabe ins Zermatter Winterparadies fahre. Sie hielt dem jedoch entgegen, dass sie nun wirklich genug gefroren hätte und warf mir diesen abgewandelten Rap-Satz an den Kopf: »Du bist verliebt in der falsches Wetter … wie soll ich das begegnen?« Auf Seniorendeutsch: Bleib geschmeidig, wir gehen besser nach Ägypten in die Wärme. Ich bockte etwas, willigte aber schliesslich ein – unter der Bedingung, meinem langjährigen, geistreichen Life Coach Dr. Ali Mabulu, der den Winter stets in al Qusair verbrachte, einen Überraschungsbesuch abzustatten.

So rief ich Duppi von Duppenstein, den Minister für den Dienst am Service, Abteilung Spass am Leben, an. Wie es denn zurzeit mit etwelchen Terroraktivitäten am roten Meer so aussähe? Er meinte trocken: Der einzige Terror auf eurem Trip findet am Euroflughafen in Basel statt, beim Sicherheitscheck. Und er behielt recht. Übel gelaunte, französisch sprechende Frustianer machten einen auf CIA. Als ich sagte, dass ich mein Kopftuch aus nicht religiösen Gründen trug, durchleuchteten sie mir danach fast noch den Allerwertesten. Langhaarrocker zu schikanieren, gefiel ihnen.

Nach vier Flugstunden landeten wir sanft in Hurghada und unser Driver erwartete uns. Ashraff stand lächelnd neben seinem verbeulten, vom Wüstensand gepeitschten Kia. Er fragte, wohin er uns fahren dürfe. Und so gondelten wir Richtung Süden. Es fühlte sich an wie auf der Ai 1975 – das heisst, alle zwei Minuten ein Auto. Dichtestress? Dieses Wort können sie hier nicht mal buchstabieren. Ich fragte Ashraff, ob das normal sei. Er nickte und meinte: »Wir haben viel Platz und fast keine Frauen am Steuer.« Wir könnten jetzt bis Port Sudan – so ca. 700 km – weiterfahren, er habe genug Wasser und Sprit im Kofferraum. Ich schüttelte den Kopf und antwortete, dass wir nach al Qusair müssten, unsere Frauen übrigens bestens Auto fahren und wir sie vor der Hochzeit sogar anschauen dürfen. Er blinzelte kurz: »Du meinst die Bikinifrauen?« – »Genau die, Ashraff.« Meine Tochter auf dem Rücksitz begann sich zu amüsieren. Das fand sie weitaus spannender, als sich im kalten Schnee die Zehen abzufrieren. Direkt von minus drei auf plus 25 Grad, das brachte Stimmung. Vor uns lag eine unendlich weite Wüste, gespickt mit ein paar lustigen Palmen. Wir schauten mit grossen Augen durch die Fensterscheiben und genossen die Magie dieser frischen Eindrücke.

Es war nachmittags gegen fünf. Unser Fahrer stoppte in einer kleinen Hafenstadt mit dem Namen Safaga. Wir vertraten uns etwas die Beine und betrachteten das muntere Treiben. Doch plötzlich war es aus mit der Ruhe! Haben Sie vor ein paar Wochen die Sirenen-Alarmübungen in der Schweiz mitbekommen? Hier in unmittelbarer Nähe des alten Hafens schmetterten gleich drei Muezzins los, und zwar volles Rohr. Meine Tochter zuckte zusammen und fragte, halb Spass, halb Ernst: »Papa, kommt jetzt der Krieg?« Ich lachte und erklärte, dass dies im Grunde das Gegenteil sei, nämlich ein Aufruf zum Gebet. Sie sah mich ungläubig an. »Was schreien sie denn so laut von den Türmen herunter?« – »Sie rufen immer wieder ›Gott ist gross‹ auf Arabisch und das fünfmal innert 24 Stunden.« – »Auch in der Nacht?« »Nein, aber vor Sonnenaufgang am Morgen.« Mein Tochterkind hob die Augenbrauen und ich schmunzelte. Ja, wie würde ich reagieren, wenn mir in aller Herrgottsfrühe aus einem übersteuerten Megafon die Grösse von Gott eingehämmert würde? Könnte dies mein Herz erwärmen? Vermutlich etwa gleich wenig wie das übertriebene Sturmgeläute der Solothurner Kirchenglocken, die in Gottes Namen alles überdröhnen. Da lobe ich mir den Ruf des Kuckucks oder des Muschelhorns.

Eine Stunde später waren wir in al Qusair. Das Hotel, von einer Schweizerin geführt, präsentierte sich wie ein Märchen aus 1001 Nacht. Die Begrüssung war ein Ereignis, Palmen- und Bugaliengärten ein Zauber und das Nachtessen ein Gedicht. Selig sanken wir in unsere Betten und die Wellen des nahen Meeres wogen uns in einen wohlverdienten Schlaf.

Tags darauf machten wir uns auf den Weg zu Ali Mabulu. Wir trafen auf ein lustiges Bogendachhaus im nubischen Stil ausserhalb der Stadt. »Ihr sucht Ali?«, fragte die kleine Haushälterin Mucka. »Der ist nicht hier, er reiste vorgestern zum Skifahren in die Schweiz.« – »Wie bitte …!?« Enttäuschung. Aber nur kurz, denn ich erinnerte mich zum Glück an einen seiner stärksten Sätze. Nein, es war nicht: »Hütet euch vor den Iden des März«, sondern: »Du findest selten, was du suchst, sondern bekommst immer das, was du gerade brauchst.«

Sand! Ich liess ihn durch die Finger rieseln, als wir zurückschlenderten und musste zugeben: Der warme Steinpuder fasziniert mich nicht minder als der kalte Puderzucker.

GLEICHMACHERMURKS

Wir fühlten uns dem Himmel nah. Und offensichtlich waren wir auch der Sonne näher gekommen, als wir auf einem Felsblock neben Schneefeldern Siesta hielten. Bereits beim Abstieg erhärtete sich der Verdacht, dass wir unsere Gesichter sogleich als Nachtlichter einsetzen können.

Wenn ich zuweilen die verdichteten Wohngebiete verlasse, sehe ich die verschiedenen Backgrounds der Mitmenschen. Von wegen kleine Schweiz! Wer ein paar Tage in Berghütten verkehrt – wo bisher weder Latte Macchiato noch Cola Zero hinaufgeklettert sind – und anschliessend nach Zürich fährt, muss mit einem Kulturschock rechnen! Ich bezweifle, dass das auch den Bildungspädagogen stets bewusst ist, wenn sie in den Verwaltungsgebäuden und Fachhochschulen zwischen Nespressomaschinen und Klassenzimmer umherschreiten und ihre Lernmethoden postulieren. Ein neues Schuljahr beginnt. Wer sind die Kinder, die da hingehen sollen?

Der Emmentaler Sämi bessert sein Taschengeld auf, indem er im Acker Mausefallen verlocht, der Zoran jagt derweil im betonierten Agglokasten vor einem Bildschirm Soldaten durch einen Rohbau und irgendwo in einer Acht-Zimmer-Terrassenvilla packt Emma unter der Aufsicht ihrer Nanny Tennisschläger und Turnschuhe in eine Sporttasche. Die drei führen ein völlig unterschiedliches Leben – vom Zmorge bis zum Znacht. Und es würde uns nicht wundern, wenn der Sämi einen bäuerlichen Beruf ergreift, Zoran Elektronikverkäufer wird und Emma Jura studiert. Aber wäre es auch andersrum denkbar? Die Bildungsexperten sprechen von Chancengleichheit – ich stelle vor allem einen grossen Eifer im Gleichschalten fest. Bringt’s das überhaupt?

Ich glaube, dass wir die besten Chancen vertun, wenn wir Sämi, Zoran und Emma und ihre Land- und Stadtschullehrer harmonisieren, pasteurisieren, sterilisieren und alle an den gleichen Ort müpfen. Denn diese Kinder und ihre Rudelführer haben völlig unterschiedliches Potenzial und ebensolchen Förderbedarf. Wenn wir sie schon in der Primarschule zu Englisch und Französisch zwingen, statt eine Fremdsprache richtig zu vertiefen, sind die Schwachen überfordert und bremsen die Starken aus. Individuelle Wahlfreiheit wäre angebrachter – neben den Kernfächern könnte sich jeder Schüler auf Gebiete konzentrieren, die ihm liegen. Für Zoran ist es überlebenswichtig, in Deutsch sattelfest zu werden, damit er eine Lehrstelle bekommt und seinen Lebensunterhalt bestreiten kann. Fertig. Emma will am liebsten an ihrer Sportlerkarriere schrauben und den Sämi nimmt am meisten wunder, was die Argrarwissenschaft Neues an den Tag bringt. Heute, wo die Menschen zunehmend Mühe haben, Hasen und Chüngel, Zwetschge und Pflaume oder Rasen und Wiese zu unterscheiden, sind wir froh um solche Sämis, die das Wissen über die natürlichen Zusammenhänge quasi mit der Muttermilch aufsaugen.

Früher erlebte ich pädagogischen Wildwuchs. Oft richtete sich der Unterrichtsstoff nach den Steckenpferden der Lehrpersonen. Bei der einen wurden Schlangen im Klassenzimmer gehalten, bei der anderen zur Sternwarte gepilgert und bei der dritten kriegte man eine Ausbildung in Chorgesang und Walzertanzen verpasst. Für die Schülerschaft war es ein Glücksfall, wenn Chemie und Interesse mit den Affinitäten der Lehrkraft übereinstimmten. Manche hatten aber das Gefühl, die berühmte Popokarte gezogen zu haben. Diese Problematik ist heute entschärft, aber nicht beseitigt. Trotz Gleichmacherwahn sind manche mit der Themenwahl glücklich und andere müssen darben. Dafür gleichen Herstellung, Art der Korrektur und Bewertung von Tests bald einer Doktorarbeit. Es muss gerecht sein. Kernkompetenzen und erweiterte Kompetenzen werden definiert und prozentual geprüft. Dies wird gemanagt von Menschen, die vielleicht die Kommaregeln herunterbeten können, aber überfragt sind, wenn ein Kind wissen will, weshalb die Milch weiss ist. Was ist Elementarwissen und wer bestimmt das? Bildungsdirektoren vertrauen in dieser Hinsicht ihrem Hofstaat – den Bildungsexperten, welche nicht selten »abverheite« Lehrer sind. So erklärt sich die Herummurkserei im Bildungswesen.

Möglicherweise läuft es im Schulwesen ähnlich wie mit dem Gemüse beim Grossverteiler. Dort schlägt das Pendel jetzt zurück. Man will den Kunden wieder ein dreibeiniges Rüebli kaufen lassen, wenn er Freude daran hat. Unter dem Label Ünique – Einzigartigkeit – soll die Ware so feilgeboten werden, wie sie gewachsen ist. Da fällt mir ein: Mittlerweile gibts Wassermelonenbauern, die zimmern Schablonen, damit das Fruchtgemüse artig hineinwachsen und dann als Würfel geerntet und gestapelt werden kann. Ob sie das den hiesigen Schulen abgeschaut haben?

Unsere Gesichter sind derzeit auch ünique. Der Teint hat etwas von Tomaten, die weit gen Himmel gewachsen sind … Henu, wer den Himmel berühren kann, sollte auch nicht an seiner Gesichtsfarbe herumstudieren.

GARTENZAUBER

Am liebsten sitze ich draussen auf meiner Holzbank. Sie steht am Ende meines Gartens, der direkt in ein grosses Feld zwischen drei Klöstern mündet. Wie schön ist es an sonnigen Tagen, diese Wiese zu betrachten! Butterblümchen, Margeriten, Johanniskraut, auch Herrgottsblut genannt, und zig Wildblumen kämpfen sich durch das im Wind wogende Gras. So etwas gibt’s in keinem Blumenladen: frei, frech und wild, launig von der Natur angerichtet.

Der grosse Dominator ist aber der sonnengelbe Teppich der zu Unrecht verschmähten Saublume. Die Kühe mögen sie nicht wegen ihres bitteren Saftes, aber die Blätter sind eine schmackhafte Salatbeigabe und die Bienen lieben ihre Blüte. Es gibt Honig und Sirup davon. Die Pusteblume bereitet den Kindern viel Spass und mich animiert sie zur Morgengymnastik. Ich reisse zurzeit täglich um die fünfzig dieser Pfanzen aus meinem Garten, damit sie nicht überhandnehmen. Ich mag die eigenwillige Saublume, diesen Löwenzahn. Die geliebte Mutter meiner Tochter nenne ich heute noch so. Nicht, weil sie sich inflationär vermehrt – das tut sie nicht, sondern, weil dieser Name einfach zu ihr passt. Löwenzahn … Das ist doch Musik, Poesie! Ein grossartiges deutsches Wort, perfekt!

Meinen Gartenstil würde ich als kontrolliert verwildert bezeichnen – inklusive »meh Dräck«. Leben und leben lassen, bloss kein Stress wegen ein paar Schnecken, Unkraut, Wildkatzen, Riesenraben, Frechspatzen, Igeli, Hunden oder sonstigen Kreuch- und Fleuchtieren, die via Feld zu mir kommen. Die haben alle ihren Platz und tragen ihren Teil zum Ereignis Garten bei. Momentan explodieren gerade die Apfelblüten und die sagenhafte Glyzinie alias Blauregen. Ich habe zwei davon: eine als Baum und eine als Kletterpflanze an der Hausfassade. Ihr pompöser Maiauftritt, ihre Farbe und ihr Klettertalent suchen ihresgleichen. Oft zur selben Zeit jubiliert auch der Flieder, dessen Duft fast unschlagbar ist. Daneben logiert seit Jahren ein Rhododendron in einem Tonkübel. Ich staune, wie er und die Stachelbeersträucher den Winter so schadlos überleben, ohne Heizung und Pulswärmer.

Der Garten ist für mich die Verwirklichung des eigenen Paradieses. Ich vermute aber, dass viele Menschen nicht den Mut oder das Interesse haben, in Sachen Gartengestaltung ihrer eigenen Stimme zu horchen. Sie tun schlicht dasselbe wie die Nachbarn: Abhauen, roden, flachmachen und darüber schimpfen, weil sich das Grünzeug nicht an die Topfgrösse oder die Grundstücksgrenze hält.

Der Mensch sehnt sich nach Natur. Aber nachdem die Unterkunft mit Garten bezogen ist, fallen oft die Stauden, Büsche und Bäume der Verstädterung zum Opfer. Die üppigeren unter den botanischen Erdenbewohnern entschliessen sich halt alljährlich im Herbst, einfach ihr Kleid auszuziehen und es gleich an Ort und Stelle auf den Boden zu werfen. Wenn sie wenigstens selber damit zum Grüncontainer watscheln würden, dann könnte man ja vielleicht Gnade walten lassen. So aber folgt der Kahlschlag und danach schmachtet man unter dem künstlichen Sonnenschutz statt unter luftig fächernden Ästen. Die würden eh nur Ungeziefer anlocken oder gar Vögel, die ihr Geschäft wiederum einfach auf den Gartentisch fallen lassen. Mit einem kleinen Rasen hat man seinen Frieden. Er lässt sich neuerdings bequem von einem Robotermäher streichholzkurz halten und verbleibt so lebloser als die Sahara. Kein Laub, keine Kröten, die sich in die Waschküche verirren und keine Amseln, die einem morgens mit ihrem Gezeter in den Traum reinschnorren.

Mensch, wann lerne ich, dich zu verstehen? Wie viel Natur willst du und bist du bereit zu verteidigen und mitzutragen? Warum bückst du dich lieber im Fitnesscenter als im Garten? Warum lässt du dir Krabben, Crevetten und Tintenfische auf deinem Teller anrichten, ekelst dich jedoch vor den Würmern vor deiner Tür?

Oje, jetzt habe ich mich ins Feuer geschrieben – das verzeihe ich mir. Denn ich brenne wirklich für meinen Garten und die ganzen Viechereien. Aber mein sarkastischer Eifer stört mich selber. Es ist halt nicht immer einfach, ich zu sein. Zu üppig blüht es auch in mir drin. In meiner Seele spriesst der Sonnenhut neben giftigen Lupinen, dornigen Rosenranken und viel buntem Gjätt, das jeden Eingriff der Zivilisation überlebt. Meine Fantasie quillt oft über und nicht alle Gedanken, die spriessen, sind löblicher und lieblicher Natur, das will ich gestehen. Zuweilen klatscht wohl der Mohn aus meinem Löwenmäulchen und der Ritter spornt mich noch an. Dann werde ich zur gemeinen Nachtkerze. Wo die Herzen schlagen, ereifern sich die Zungen und aus Schalk wird zuweilen ohnmächtiger Zynismus.

Und die Moral von der Geschicht? Die Artenvielfalt braucht’s doch, nicht?

1 243,91 ₽
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221 стр. 2 иллюстрации
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9783907210482
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