Читать книгу: «Die Enkelin», страница 3

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EIN TYPISCHER SCHABBAT

Meine Tante geht auf und ab. Sie kontrolliert Mamas Wohnzimmer im Hinblick darauf, ob in der von Mama neu eingerichteten Vitrine genug Fotos von ihr, Oma und Opa aufgestellt sind. Ihr Blick wandert von einem Bild zum anderen. Sie zündet sich eine Zigarette an.

»Kein Foto von mir, aber von Ricks Mutter hat sie eins aufgestellt«. Mama zuckt zusammen. Zoé und ich rollen die Augen. »Was denn?«, fragt sie zurück, »ist ein Foto zu viel?«

Zoé bemerkt, dass die meisten Menschen nicht ihre Schwester gerahmt im Wohnzimmer haben.

Opa stöhnt im Sessel über das miese Wetter. Seine polnische Pflegerin schaut mich hilfesuchend an. Ich zerfließe vor Mitleid. Meinen Opa Tag und Nacht zu ertragen, ist für jeden Menschen zu viel. Ich frage, ob sie einen Tee trinken will. »Mosche tag«, sagt sie.

Opa ist beleidigt: »Wus fraigst du si nuch a tei? Ich wot nischt gewolt trinken kein tei?«

Ich: »Ich wer dir oich machn a tei, a schwurzn?«

Opa schaut gleichgültig: »A chilig, sol sein a schwurzer tei

Ich gehe in die Küche, um Teewasser aufzusetzen.

Auch Mama geht in die Küche, um sich um das Essen zu kümmern. Sie schält die Kartoffeln für den kiegl, den Kartoffelauflauf. Sie wischt hektisch in der Küche rum. Werde ich jemals so putzen können wie Mama? Will ich so putzen können wie Mama? Ihre schnellen, flinken Bewegungen mit dem Lappen über das Holz haben etwas Aufbegehrendes, Aggressives. Mama kontrolliert den Braten in der Küche und wendet sich wieder den Kartoffeln zu. Sie schneidet die geschälten Kartoffeln mit der Brotmaschine, sie schneidet sich mit der Maschine in den Finger. Blut tropfte von ihrem Finger auf die Kartoffeln. »Mama«, schreie ich, »Mamischi, alles ok?«

Mama: »Nicht so schlimm. Lass mich.«

Ich: »Mama, bitte warte kurz.« Mama will weiter putzen. »Mama, setz dich bitte hin, bitte, hör doch einen Moment mit dem Putzen auf.«

Mamas Fingerkuppe hängt lose an einem Stück an ihrem Finger.

»Schon gut«, sagt sie.

Ich: »Mama, hör mir zu, es blutet stark, dass muss genäht werden.«

»Ach Quatsch«, sagt sie. »Ich muss das hier erst fertig machen.«

Zoé kommt in die Küche: »Ach, Mami. Mami, komm, wir verbinden das.«

Rachel kommt in die Küche: »Nicht ein Bild von mir und dir.« Zoé schreit Rachel an, was ihr einfallen würde, Mama so anzuschreien. »Siehst du nicht, dass sie blutet?«

Oi, oi, da fängt meine Tante zu schreien an: »Was ist passiert? Was ist passiert. Sag es mir.«

»Ich habe mich geschnitten«, sagt Mama.

Zoé: »Komm, Mami, ich fahre dich in die Klinik.« Mama stellt die joiech aus, sie dreht sich zu mir und sagt: »In 15 Minuten drehst du die Suppe auf 1,5« und fährt widerstandslos mit Zoé in die Klinik. Meine Schwester wirft mir einen fassungslosen Blick zu, als sie rausgeht. Ein Glück ist sie hier, denke ich.

Ich schwanke einen Augenblick. Mama ist weg. Das Familienoberhaupt hat sich frei genommen, weil die Ketten zu eng geschnürt sind. Einen Tag frei kann sie sich nicht nehmen, aber sie kann sich in den Finger schneiden und weg müssen. Quasi per Befehl von uns. Sie kann es nicht sagen, aber sie will weg. Weg von der Pflicht, jeden Schabbat zu kochen, weg von ihrer Schwester, weg von ihrem Vater und auch weg von Zoé und mir. Wir sind eine Last für sie, unverheiratete, finanziell noch zu unterstützende Kinder.

Ich wische die Blutspuren weg und führe Rachel aus der Küche. Rachel: »Wie tief war die Wunde? Sag mir, wie tief die Wunde war.«

»Nicht so schlimm«, beruhige ich sie, »es wird schon wieder.«

»Wird das wieder, Channah? Wie konnte das passieren? Wird das wieder?«

»Ja, natürlich wird es wieder«, sage ich, »mach dir keine Gedanken. Komm, ich mach dir einen Tee.« Sie setzt sich ins Wohnzimmer. Ich klaue ihr unbemerkt eine papiros aus der Tasche. Als ich ihr den Tee bringe, ist Rachel nicht mehr ansprechbar, sie ist mit ihrer Zigarette in eine Welt abgetaucht, in die ich ihr heute nicht folgen möchte. Opa interessiert sich auch nicht mehr für den Tee. Er sagt: »a kurvische maschine, in dreid!«

Immer muss alles unter die Erde, denke ich.

Ich trete vor die Verandatür in den Garten. Ich laufe aus dem Garten auf den kleinen Spielplatz hinter unserem Haus, setze mich auf meine Lieblingsbank und stecke mir eine Zigarette an. Hinter mir höre ich einen Mann fragen, ob ich nicht zu jung fürs Rauchen sei. Ich drehe mich um und frage ihn, ob er die Güte hätte, jemand anderem auf den Wecker zu fallen. Er bleibt stehen. Ich starre vor mich hin. Er redet irgendetwas, ich höre nicht hin. Hab ich nicht gesagt, dass ich allein sein will? Er sagt: »Ich habe auch Probleme.«

»Interessiert mich einen Scheiß«. Es tut gut, dem Ärger Luft zu machen.

Fremder: »Du scheinst auch welche zu haben.«

Ich schaue von dem Sandkasten hoch und erst jetzt zu ihm hin. Er ist älter als seine Stimme es vermuten lässt. »Ich habe gerade keine Lust auf dich.« Seine Augen sind wach, warm und alt. »Deine Worte und dein Benehmen passen so wenig zu deiner Erscheinung.«

Ich: »Hast du keine Frau, die du vollquatschen kannst?«

Fremder: »Ich habe eine Frau.«

»Herzlichen Glückwunsch«, sage ich und stehe auf.

Fremder: »Warte mal, ich heiße Finn.«

Ich: »Ciao, Finn«.

Finn: »Dir ist aber was über die Leber gelaufen, wie?«

Ich stapfe davon. Ich drehe mich um und rufe ihm zu: »Mach es dir nicht so gemütlich auf dem Platz, das ist meiner.«

Er lächelt.

»Channah, Channele«, tönt es durch die Gottfried-Keller-Straße. Meine Tante ruft mich nicht, sie schreit nach mir. Wieso müssen alle so schreien? Als ich durch den Garten gehe, sagt Rachel: »Ich wusste nicht, wo du bist. Wo bist du gewesen?«

»Ich bin hier«, sage ich. »Ich bin hier bei euch. Für immer, weil ihr immer schreien würdet, wenn ich weg wäre.«

Opa: »Wi bist di gewein

Ich: »A minite far di tir«, um zu atmen, denke ich.

Opa: »Me tur nischt loifn a soi fil oif die gassn

Ich: »Iech bin do

Schweigen. Opa starrt vor sich hin, Rachel starrt vor sich hin. Es ist mucksmäuschenstill. Wieso soll ich eigentlich immer zum Schweigen da sein, frage ich mich. Zum Schiwe sitzen. Rachel läuft wieder auf und ab.

Als Mama und Zoé zurückkommen, ist Zoé bleich und Mama geht es gut. »Fünf Stiche haben sie gemacht.« Der Arzt in der Notaufnahme war so lieb, wirklich, er hat sich besonders viel Zeit genommen! Zoé lächelt mir verstohlen zu. Wir wissen um Mamas Schwäche für Ärzte. Ärzte sind für sie das Größte. Ich bin glücklich, dass Mama versorgt ist. Glücklich, dass sie die ärztliche Hilfe annehmen konnte. »Ich habe mich aber nicht in den Knochen geschnitten«, erklärt Mama stolz.

Ich: »Schön Mami, komm, das Essen ist fertig, setz dich hin, ich serviere heute.«

Mama: »Nein, nein, das geht schon. Wie sieht denn der Braten aus? Hast du die Suppe auf die niedrige Flamme gestellt?«

Wie banal, denke ich, wie unwichtig. »Ja, das habe ich, und der Braten ist genau richtig«, erwidere ich und gehe zurück in die Küche.

Die Küche ist ihre Festung. Ich fülle die Suppe in die Teller. Mama kommt mit einem heftigen Ruck durch die Küchentür und stößt mich, der Teller fliegt mir aus der Hand. Die Suppe ist heiß und brennt auf meiner Jeans.

Mama: »Oh entschuldige, Herz, das wollte ich nicht.«

»Was machst du hier in der Küche«, fahre ich sie an. »Kannst du nicht eine Sekunde still sitzen?«

»Ich wollte nur mal nach dem Fleisch sehen.« Ich scheuche sie zurück. Sofort tut es mir leid, aber kann sie mir nicht einmal zutrauen, dass ich den beschissenen Braten hinbekomme? »Tut mir leid Mama, ich wollte dich nicht anschreien.«

Ich serviere die Suppe. Mama schafft es, ganze drei Löffel zu essen und stiehlt sich dann in die Küche davon, um eine zu rauchen.

Wäre sie doch nur Ärztin geworden, als Ärztin wäre sie fabelhaft. Als Zoé die Teller abräumt, ist Mamas Teller fast unberührt. Die von mir reingelegte Dekorationskarotte schwimmt einsam in der Suppe. Ich gebe für heute auf, ziehe mich in mich zurück und sage nichts mehr. Zoé streichelt mir beim Abräumen über den Kopf.

Natürlich begehen wir auch die Woche nach Mamas Unfall Schabbat. Opa schleppt sich mühsam die Straße hoch bis zu unserer Haustür. Sein Katheter schaut aus seinem Mantel. Rachel geht mit einigem Abstand hinter Opa den Gang entlang. Schwere, langsame Schritte. Rachel trägt eine Brille, die mal Opa gehörte. Sie ist aus Horn, aber viel zu groß für ihr kleines Gesicht. Ich beobachte beide, lange bevor sie mich sehen. Rachel hat ihren Blick auf den Boden gerichtet. Sie lebt im falschen Jahrhundert. Erst kurz vor der Vortreppe zum Haus richtet sie den Blick über die großen Brillengläser und freut sich, mich zu sehen. Ich freue mich auch, sie zu sehen. Sehr sogar, die Familie ist zusammen. Es ist Freitag, es ist Familientag. Unsere Begrüßung ist immer problematisch. Ich küsse nicht gerne zur Begrüßung.

Viele in meiner Familie haben die Angewohnheit, mich mit dem Kopf zu sich runterzuziehen und mich dann feucht und im Klammergriff zu küssen. Es ist keine normale Begrüßung, es ist mehr ein ›Halt mich fest, ich lasse dich nie wieder los, die Welt ist schrecklich und gemein und ich brauche deine Umarmung, um ihr standhalten zu können.‹

Ich weiche manchmal schon aus, wenn sie auf mich zukommen. Ich möchte nicht benutzt werden. Ich will nicht, dass mich schon im ersten Moment die Welle des Leids umspült und mich in einen tiefen Ozean hinunterzieht, aus dem es kein Entkommen gibt.

Wie jede Woche gibt es auch in dieser Woche einen banalen Streit, an den ich mich nicht mehr erinnern kann.

Ich renne aus der Tür in den Garten hinaus – auf den Spielplatz zu meiner Bank. Sie ist besetzt. Ich blinzle, das kann doch nur Einbildung sein. Auf meiner Bank sitzt schon wieder Finn. Ich drehe mich um und laufe zum anderen Ende des Spielplatzes. Es hat keinen Sinn, Finn kommt zu mir rüber. Er ist hocherfreut, mich zu sehen. Er setzt sich einfach zu mir. Ich könnte ihn erwürgen. Aber er hält mich auch vor dem Isolationstunnel fern, in den ich zu stürze drohe. »Geht es dir heute besser?«

Ich antworte ihm nicht. Da hat er am Freitag, wenn meine Familie zusammen ist, schlechte Karten. Ich schaue in den Himmel, ich schaue auf meine Beine. Wenn ich könnte, würde ich fliegen. Weit weg zum Meer, zu Papa. So ein Scheiß, lässt uns einfach allein im Dreck sitzen, was hast du dir dabei gedacht, nicht zum Arzt zu gehen? Hast du gedacht, die 120 Kilo Gewicht sind ein Zeichen deiner Gesundheit?

»Kann ich dir was anvertrauen?«, fragt Finn in meine Gedanken hinein. Ich reagiere nicht. Er nimmt das wohl als ein Ja und fängt an, mir von seiner Beziehung zu seiner Frau zu erzählen.

Anfangs höre ich nicht zu, dann verschwinden meine Gedanken, ich höre seine Stimme klar und deutlich. Sie leidet an Gedächtnisverlust. Er tut mir leid. Ich will nicht, dass er mir leid tut. Ich bin zu schwach, um aufzustehen. Er vermisst seine Frau, wie sie früher war. Er weiß nicht, warum das gerade ihnen passieren musste. Die Frage finde ich immer blöd. Ist es besser, dass es jemand anderem passiert? Warum fragen die Menschen nicht: Warum passiert überhaupt etwas Schreckliches? Finn redete über eine Stunde. Ich fand es sehr egoistisch, einfach so loszureden, andererseits auch irgendwie positiv, sich selbst das zu nehmen, was man möchte. Finn war damals 39. Ich war 13. Aus seiner Manteltasche ragte ein 100 DM-Schein. Ich spielte mit dem Gedanken, ihm den Schein zu entwenden. Ich überlegte, ich wog es ab. Ich fand nichts dabei, ihm das Geld abzunehmen.

Mit einer geschickten Handbewegung landete der Hunderter in meinem Besitz. Finn hatte mir meinen Ruheplatz weggenommen, obwohl Schabbat war. Am Schabbat stehlen? Nein, eigentlich nicht. Andererseits konnte ich Mama davon einen großen Blumenstrauß kaufen. Vielleicht hob das ihre Laune? Ich fand, das war eine gute Idee. Ich sagte, ich müsse jetzt nach Hause. Die Geschäfte hatten noch offen. Ich kaufte einen rosaweißen Blumenstrauß.

WINTER 1992

Damals war ich elf Jahre alt. Trotz einer dicken Strumpfhose und wollenen Overknee-Strümpfen sahen meine Beine mager aus. »Dein hoit is a soi wais wi di wand«, sagte mein Opa. Dann versuchte er, mich in die Seite zu kneifen. Da wo heute ordentlich Haut drauf ist, gab es damals nichts zu fassen. »Bist a soi darr, wer wird dich schoin heiratn? Nuch dazu a halbe waise.« Ich fand gut, dass nichts an mir dran war und warf meine Locken in den Rücken. »Loss mech«, war alles, was ich sagte.

Papa hatte die erste Operation hinter sich, die den Krebs besiegen sollte. Mama war zu der Zeit nicht ansprechbar und ich und meine Schwester sollten wegorganisiert werden, um die Folgen der nächsten Operation nicht mit ansehen zu müssen. Zoé fuhr mit ihrem Freund nach Chicago. Ich sollte nach Sobernheim in ein jüdisches Ferienlager für Kinder. Ich mochte nicht fahren. Ich sagte Mama, dass ich bleiben wollte.

Im letzten Jahr hatte ich nach der Schule immer zu Freunden gemusst, um nicht in der Quere zu sein. Die Mütter von Klassenkameraden holten uns Kinder oft von der Schule ab und dann hörte ich: »Channah Schatz, du kommst heute mit zu uns. Deine Mama holt dich abends ab, sie muss noch was erledigen.«

Ich wusste, dass Mama bei Papa am Bett saß, ich wusste, dass sie beide diese Zeit brauchten. Aber ich wusste nicht, wieso ich nicht dabei sein durfte. Was war so schwer daran, mir die Situation zu erklären oder mich einfach am Morgen zu informieren, dass ich zu Freunden gehen sollte. Ich hasste diese ständigen Überraschungen am Nachmittag.

Ich wurde von Familie zu Familie gereicht. Jeden Tag sagte eine andere Mutter mit makellosem Lächeln: »Schatz, heute kannst du bei uns den neusten Film anschauen oder das neuste Nintendo-Spiel spielen, oder heute fahre ich euch zum Tennis. Was sagst du, ist das nicht toll?« Dann musste ich in ein Auto klettern, das immer frisch nach Waschanlage duftete.

Ein Jahr lang war ich eine Art Charity-Projekt für Hausfrauen, deren freundliche Gesichter und perfekte Nägel mir schwer auf die Nerven gingen. Ich hatte ein Zuhause und eine Familie – wieso sollte ich ständig bei anderen essen, Hausaufgaben machen und mir ach so willkommen vorkommen?

Meine Eltern legten Wert darauf, dass ich mich mit ganz speziellen Freunden abgab, die aus vier sehr wohlhabenden Familien stammten. Wenn man deren Wohnungen betrat, roch es immer nach Zitronen-Meister-proper, weil die Putzfrau gerade frisch gewischt hatte. Der Tisch in der Küche war für uns Kinder stets perfekt gedeckt. Alles klappte wie am Schnürchen. Pünktliches Abholen von der Schule, essen, Hausaufgaben machen, mit dem neusten Nintendo spielen.

Wenn meine Eltern mich abholten, kamen sie grundsätzlich unpünktlich und waren abgehetzt von der Arbeit. Ich habe mich oft gefragt, wieso sie es nicht besser empfunden hätten, wenn ich mich auch mit Kindern von Normalverdienern angefreundet hätte. Dann wären mir unsere Verhältnisse normal vorgekommen. Dann wäre ich unter Gleichen gewesen.

Wenn ich von meinen wohlhabenden Freunden aus ihren bunten Kinderzimmern nach Hause kam, hatte ich immer das Gefühl, dass wir arm sind. Trotzdem mochte ich es bei uns lieber.

Wir hatten den Keller nicht voller gut riechender Vorräte und auf dem Küchentisch standen nicht vier verschiedene Marmeladensorten, sondern eine. Mama trug nicht jeden Tag ein neues Outfit und ihre Nägel waren nicht so perfekt lackiert wie die Nägel der anderen Mütter, aber ich fand sie trotzdem toll, weil sie meine Mutter ist.

Ich wollte nicht zu diesen Freunden. Sie waren wild und ungehemmt, sie tobten in der Wohnung rum. Ich wollte lesen oder Tagebuch schreiben. Jeder Nachmittag war für mich eine Qual. Das einzige Problem der Mütter bestand darin, ob die Kinder die Hausaufgaben machten und ob die Nanny gut genug geputzt hatte. Meine Freunde stritten mit ihren Geschwistern um das neueste Spiel, die Mutter stritt mit der Nanny wegen der noch immer schmutzigen Fenster. Zu Hause lag Papa mit einer neuen Pumpe im Bauch, die Spiele der anderen überforderten mich.

Ich wollte Mama aber nicht noch mehr Stress machen. Zwischen den Operationen sollte ich nach Sobernheim in ein jüdisches Freizeitcamp fahren. Es fiel mir schwer, mich von meinem immer dünner werdenden Vater zu verabschieden. Auf der Busfahrt nach Sobernheim legte ich den Kopf an das Fenster und dachte an gar nichts mehr.

Wir Frankfurter Kinder kamen gleichzeitig mit denen aus Berlin an. Ich ging aus dem Bus raus und sah mir alle Jugendlichen aus der Ferne an. Ich trug einen sehr knappen Mini. In meiner Nähe stand ein Junge, den ich ein paar Mal im Fernsehen in einer Serie gesehen hatte. Er würde also die männliche Nummer eins hier auf diesem Feriencamp werden.

»Du bist doch viel zu dünn, um deine Koffer in dein Zimmer zu tragen!«, sagte er. Das sollte wohl ein Kompliment sein. Ich verzieh ihm seine dumme Anmache. Ich sagte: »Na, dann bring die Koffer mal in meine Suite, Schatz.« Ich drehte mich um und schaute nach irgendeinem Ansprechpartner, der mir sagen könnte, in welches Zimmer ich kommen würde. Die Zimmer waren alles – das wusste ich. Dein ganzer Status, deine Beliebtheit richtete sich danach, mit wem du in einem Zimmer warst.

Ich wollte unbedingt ein Zimmer am Anfang des Ganges. Das lag neben der Dusche und nach den langen Tagen mit Programm bildete sich immer eine riesen Schlange bei den Duschen. Ich mochte es nicht, lange zu warten. Schon gar nicht nackt im Handtuch, ständig den Attacken pubertärer Jungs ausgeliefert.

Ich dachte, dass der beliebteste Junge meine Koffer trägt, ist für die erste Woche schon mal gut – mehr muss nicht sein. Keiner wird blöd zu mir sein. Darauf kam es mir an. Jetzt konnte ich wieder ungestört meinen Gedanken an Zuhause nachhängen. Was, wenn Papa nicht wieder gesund werden würde?

Ich schaute aus dem Fenster und sah, wie der Fernsehjunge seine Autogrammkarten verteilte. Wie uncool, dachte ich. Dann kam er nach oben und brachte mir die Koffer in mein neues Zimmer. Unter dem Schutzschild des beliebten Jungen lebte ich mich besser als erwartet ein. Die Ferienprogramme machten sogar Spaß und lenkten mich von Zuhause ab. Es gab die Möglichkeit, Gedichte zu schreiben und diese dann vorzutragen. Ich war in meinem Element.

Wir machten einen längeren Ausflug. Alle waren aufgeregt, weil wir in großen Hallen schlafen würden, die Mädchen neben den Jungen. Wir wurden in einem großen Bauernhof in einer ehemaligen Scheune untergebracht. Die Räumlichkeiten grenzten direkt an Felder. Die Betreuer teilten uns für ein Spiel in zwei Gruppen ein. Ich weiß nicht mehr genau, welchen Sinn dieses Spiel hatte, aber es ging wohl darum, dass die eine Gruppe das Maskottchen der anderen Gruppe in der Nacht klauen musste. Ich verstand mich mit den älteren Betreuern besser als mit den Jugendlichen. Einem hatte ich erzählt, dass es meinem Vater nicht gut ginge und ich nicht wüsste, wie lange er noch leben würde. Darauf hatte er mir erzählt, dass sein Vater ihn oft nackt ausgezogen und dann geschlagen hätte.

Ich wusste damals wie heute, dass hinter dieser Geschichte noch mehr steckte. Jedenfalls hatten wir beide ein Geheimnis und waren vereint. Leidende erkennen einander wie Hunde, die sich meilenweit voraus riechen können.

Leider war mein neuer Freund der Hauptbetreuer der anderen Gruppe in einer anderen Räumlichkeit.

Ich mochte die Gemeinschaftsräume mit den vielen Menschen nicht. Es stank darin und die Bösen malten den Dicken oder Unbeliebten nachts Schminke aufs Gesicht oder legten ihnen ein benutztes Kondom auf das Haar. Kinder sind brutal.

Mein Betreuer hatte mit den anderen geredet, so dass ich im Betreuerraum unter dem Schutz der Älteren stand. Ich wollte einfach nie Teil einer großen Masse sein. Geht die Masse in den Gemeinschaftraum, gehe ich nicht hinein, weil ich um die Hierarchie im Gemeinschaftsraum weiß. Die Betreuer hatten mehr Süßigkeiten und unterhielten sich über viel spannendere Dinge als die Kinder. Ich schlief bald ein.

Meine Betreuer, die das Maskottchen, einen überdimensional großen Teddybären, bewachen sollten, schliefen auch ein. Irgendwann wachte ich auf und sah, wie zwei Männer unser Lagerfeuer vor dem Gemeinschaftsraum löschten. Beide hatten Masken an. Ich erschrak und dachte, es sei besser, still zu sein und abzuwarten. Einer von ihnen öffnete die Scheunentür und sah, dass ich aufgestanden war, um aus dem Fenster zu schauen. Er kam auf mich zu, ich schrie laut, aber er hatte mich schon gepackt und rannte mit meinem Schlafsack, in dem ich steckte, über die Felder.

Ich schrie und strampelte. »Psst, Channah, ich bins, Mio, ich hole dich in mein Lager. Ich bin gekommen, damit du bei mir sein kannst«. Am Platz des Lagerfeuers waren jetzt andere Betreuer aufgewacht und schrien. Sie rannten uns hinterher, aber wir waren schon weit weg und Mio versteckte uns im Gebüsch. »Was ist denn das für eine übertriebene Aktion von dir, spinnst du?« fragte ich ihn aufgebracht. Er gab mir meine Lieblings-M & Ms wie zum Beweis, dass er es nur gut meinte.

Die anderen liefen an uns vorbei. Ich war verunsichert, wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte. Einerseits war es natürlich eine Ehre, von Mio geholt zu werden, andererseits war mir klar, dass er den anderen nur einen Streich spielen wollte und dass es ihm nicht ausschließlich um mich ging. Ich schaute ihn verstohlen von der Seite an. »Willst du nicht bei mir sein?«, fragte er. War das jetzt ernst oder ein Spiel? Ich zögerte, er klang sehr ernst. Sollte ich ihn fragen, ob er vergessen hatte, dass ich elf war und er achtzehn?

»Nein«, sagte ich, »schon gut. Lass mich einfach zum Schlafraum gehen. Außerdem will ich nicht Thema der Woche sein.«

»Ich dachte, du würdest dich freuen.«

»Nicht, wenn du mich im Schlaf überfällst.«

»Tut mir leid, ich dachte, wir reden noch ein bisschen.«

»Aber das können wir doch auch am Tag«, sagte ich.

»Na komm«, sagte er, »gehen wir.« Ich hatte keine Schuhe an und trat beim ersten Schritt in einen dornigen Ast.

»Mist«, fluchte ich. Das konnte doch nicht wahr sein. Ich blutete.

»Tut mir leid, tut mir so leid.«

»Kannst du noch was anderes sagen?«, fuhr ich ihn an. Stattdessen kniete er sich vor mich und bot mir seinen Rücken als Trage an. »Also gut!« Ich hüpfte auf seinen Rücken und kam mir mehr als albern vor, mitten in der Nacht über Felder getragen zu werden.

In der Scheune der anderen angekommen, warteten einige Betreuer auf Mio und schrien ihn an, er würde seine Betreuerpflicht verletzten und was denn die Eltern davon denken sollten, wenn sie davon erfahren würden. Ich nahm ihn in Schutz und sagte, er hätte mir davor Bescheid gesagt und es wäre alles in Ordnung. Ich würde auch niemandem etwas sagen. Die Betreuer hatten hier nur ein Zelt, also legte ich mich direkt neben Mio. Zwei Betreuer verboten Mio, mehr als nötig bei mir zu sein.

Zwei Tage später tauchten Zoé und ihr Freund auf, um mich abzuholen. Ich war geschockt. Ich wusste, wenn sie mich holen, war dies das Ende zu Hause. Ich schwieg, ich konnte nichts sagen. Mio fiel der Abschied schwer, er litt mit mir. Er gab mir seine Adresse und seinen Hut.

Zoé fragte mich, wer er sei. Ich wusste, dass sie jeden weiteren Kontakt mit Mio nicht dulden würde. Ich zerriss den Zettel mit seiner Anschrift im Auto.

Während der anderthalbstündigen Fahrt versuchten Zoé und ihr Freund, mich auf zu Hause vorzubereiten. Sie hatten mir viel Schokolade aus Amerika mitgebracht. Wieso ködern mich eigentlich immer alle mit Schokolade?

»Ist schon gut«, sagte ich, »ich weiß Bescheid.«

Im Auto hing jeder seinen Gedanken nach. In meinem Kopf entstand eine merkwürdige Konstellation. Ich wusste nicht mehr richtig, wohin ich gehörte. Zoé und ihr Freund empfanden sich als Beschützer für mich. Ich glaube, das gab ihnen in der ungewissen Situation mehr Sicherheit als mir. Mama würde ab jetzt in ihrer eigenen Welt leben. Wo und wer werde ich sein? Alle vertrauten Ebenen schienen sich zu verschieben. Der Erdboden erschien mir plötzlich als eine trügerische Täuschung. Unter ihm warteten Krokodile und andere Ungeheuer, um mich zu verschlingen.

Mit jedem Kilometer, der uns näher nach Hause brachte, fühlte ich, dass ab jetzt alles anders werden würde. Als ich aus dem Auto stieg, wusste ich es. Ich gehe jetzt zu meinem Vater, der sterben wird. Zwischen meinem Elternhaus und der Straße, auf dem wir das Auto parkten, gab es einen Weg. Unser Haus war das vorletzte und stand fast am Ende des Wegs.

Am Ende des Wegs wird alles Unbeschwerte vergangen sein – nimm ein schönes Bild mit, dachte ich bei jedem Schritt. Bewahre dir etwas Heiles.

Ich musste nicht lange überlegen. Es war an Papas Geburtstag. Mama backte gerade einen Kuchen. »Rick«, schrie sie durch das Haus. »Ich brauche noch Zucker, ich gehe schnell zum HL.« Mama trug einen beigefarbenen Rock, der ihre schmale Silhouette unterstrich. Schon war sie draußen.

»Hannah! Zoé!«, rief Papa, »kommt bitte in die Küche.« Zoé war am Telefon mit ihrer Freundin aus Trier. Zoé machte es zu schaffen, dass ihre Freundin aus Frankfurt weggezogen war. Ich ging die Treppen runter. Zoé und ich kamen gleichzeitig in der Küche an. Ich sah Papa an. Er hielt den Kuchenteig triumphierend in die Höhe. Wir drei waren Naschkatzen, die den Kuchenteig immer am liebsten roh aßen. Wenn Mama uns dabei erwischte, regte sie sich auf, weil dann nicht mehr genug Teig übrig blieb.

»Wir haben circa zwei Minuten«, sagte Papa und reichte uns kleine Teelöffel. Wir kicherten und freuten uns so, dass wir die Zeit aus den Augen verloren. Das Schloss knackte und Mama stand in der Tür. Ungläubig schaute sie auf die fast leere Teigschüssel. »Sag mal, Rick, spinnst du?«

Papa hob ergeben die Hände. »Hannah hat mich gerufen und gesagt, dass jeder einen Löffel nehmen darf.«

»Also so was, Papa!«

Papa bog sich vor Lachen. Er liebte es, wenn er von sich ablenken konnte.

Mama fiel in sein Lachen ein. Zoé sagte ihrer Freundin, sie würde sie später wieder anrufen und kicherte. Papa zog Mama an sich. »Ich muss jetzt neuen Teig machen«, sagte Mama.

»Ja?«, fragte Papa und zauberte hinter Mamas Haaren zwei Hornklämmerchen hervor.

»Was ist das denn?«, fragte Mama.

»Eine Kleinigkeit für meine schöne Frau«, entgegnete Papa aufgeregt. Er hoffte, dass Mama die Haarklammern gefallen würden.

»Sie sind wunderschön, Ricardo!«

So hätte es sein sollen. So hätte es bleiben können.

Als wir zu Hause ankamen, ging ich zu Papa. Es war Silvester. Papa gab mir die Hand und streichelte mein Gesicht: »Tut mir leid, dass wir nicht öfter im Zoo waren oder im Kino.«

Irgendwo draußen knallte eine Silvesterrakete und wir sahen ihr Leuchten im Fenster. Papa legte den Kopf zur Seite »Naomi! Du musst mit den Kindern weg, Haider wird kommen. Es kommt ein zweiter Holocaust. Ihr müsst nach Israel gehen.«

»Rick«, sagte Mama, »das sind nur Silvesterkracher, wir sind hier in Sicherheit.«

»Nein, Naomi, ich weiß es, er wird an die Macht kommen, ihr müsst unbedingt wegziehen.« Das Morphium zeigte seine Wirkung.

»Komm, Channele, geh erstmal was essen.« Meine Tante führte mich an der Hand in die Küche.

Es klingelte an der Tür. Es waren Freunde von Papa, die gekommen waren, um sich von ihm zu verabschieden. Ich begriff, dass uns wirklich nur noch Stunden blieben. Die Leute störten mich, alle schauten uns mitleidig an. So würde ich ab jetzt immer angeschaut werden.

Ein Tag verging. Ich saß stundenlang am Bett und erzählte Papa vom Ferienlager. Der Arzt kam und sagte, Papa würde heute Nacht sterben. Wir schliefen zu viert im Ehebett meiner Eltern. Ich setzte mich neben das Bett und starrte die blaue Seide des Bettbezugs an. Die Falten werden morgen noch da sein, dachte ich – und er wird weg sein.

Am 2. Januar erlaubte Mama dem Hausarzt, Papa so viel Morphium wie möglich zu verabreichen, damit er keine Schmerzen hätte.

Für meine Mama war mein Vater die Brücke ins Leben. Als sie ihn verlor, dachte ich, sie würde mit ihm gehen. Papa starb zu Hause am 3. Januar um 0 Uhr 03. Der Hausarzt wollte, dass ich das Zimmer verlasse, damit ich den Todeskampf nicht sehe. Nichts wäre mir schlimmer vorgekommen, als meinen Vater allein sterben zu lassen. Ich blieb mit Mama und Zoé auf seinem Bett sitzen. Viele Menschen waren da, und ich empfand jede Person als Eindringling. Ich wollte allein sein, allein mit meiner Familie.

Mama schrie immer wieder den Namen meines Vaters: »Rick, Rick, ich bleibe hier nicht allein, hörst du, ich gehe mit dir.«

Ich saß daneben und dachte, entweder wir gehen alle mit Papa, oder du bleibst gefälligst bei mir. Du bist doch nicht allein, Zoé und ich sind da. Wir halten zusammen. Die Schreie meiner Mutter ließen mich lange nicht los und breiteten sich in mir aus. Ich hatte Verständnis für Mamas Gefühle zu Papa. Aber wir waren doch auch noch da. Sie blieb zwar allein, aber doch nicht ganz allein. Ich war einmal mehr niemand. Papa hatte gewartet auf mich, bis ich aus Sobernheim zurück war. Das fühlte ich. Ich war dankbar, dass wir uns verabschieden konnten.

Ich dachte, ich bin unsichtbar für Mama.

Mein Vater sagte noch, sie müsse bei uns bleiben, sie müsse auf uns aufpassen, bis wir – und jetzt erinnere ich mich nicht mehr, ob er sagte, bis wir versorgt seien, oder bis wir geheiratet hätten. Diese Szene hat sich von da an in mein tägliches Leben eingebrannt.

Ich lebte in ständiger Sorge, dass Mama sich das Leben nehmen würde. Manchmal sagte sie, sie würde am liebsten das Auto nehmen und gegen einen Baum fahren. Sie hatte ja tatsächlich einen Grund, den ich verstanden hätte.

Ich musste dafür sorgen, dass meine Mutter bei uns blieb. Ich durfte sie auf keinen Fall verlieren. Daher musste ich, so gut es ging, funktionieren und ihr keinen Kummer machen. Da ich immer auf Katastrophen gefasst war, hatte ich mich relativ schnell mit dem Tod meines Vaters arrangiert. Ich versuchte, stark zu sein. Ich dachte, jetzt kommt es darauf an, was ich aus der Situation mache. Wenn ich im Leid versinke, würde bald nichts mehr von mir übrig sein. Mein erklärtes Ziel war es, meine Mutter glücklich zu sehen.

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