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OPA UND DIE SCHOKOLADE

Anna ist die Pflegerin meines Opas. Sie soll sich um den Haushalt kümmern. Sie putzt nicht gerne, sie kocht auch nicht gerne. Dafür geht sie gerne mit Opa zu LH. LH ist der HL auf der Bergerstraße. In hebräischen Gebetsbüchern liest man von rechts nach links und nicht von links nach rechts. Deswegen heißt der HL für Opa LH.

Bei LH gibt es keine Kamera. Das wissen Anna und Opa. Anna ist sehr breit und zieht sich ein Kleid mit vielen Taschen an. In die Taschen steckt sie zur Hälfte Wurst und in die andere Hälfte muss sie für Opa was einstecken, sonst darf sie nicht mehr mit ihm zu LH.

Ach ja, Lesen und Schreiben. Wenn Mama Opa einen Antrag oder einen Vertrag unterzeichnen ließ, schrieb Opa die Buchstaben einzeln auf und verband sie hinterher zu einem ganzen Wort. Dann schaute er mich zufrieden an und fragte voller Stolz: »Soll ich nuch epes schraibn

Irgendwann fragte ich ihn: »Opa, bist di nischt gewein in a schul

»Awade bin ich gewein in a schul.«

»Wi lang?«, fragte ich.

»Ich weis? Bastimt a ganz jur. Bis ich bin gewein sibn

»Far wus bist di nischt geblibn lenger

»Es is gekimen emezn hot geschlugn ma brider. Denuchtem hob ich im gegeibn a trenn in dreid. Dus is gewein der sin von deim direktor. Denuchtem wolt ich nischt mer gain.«

»Un dein brider

»Meir, is gegangen

»Wus host di gemacht

»Ich hob gehandlt

»Mit wus

»Oi, Channele, mit alem, wus is du gewein

»Mit wus

»A mul mit epeln, a mul mit eiern

»Fin wanet host di gehobt die sachn

»Fin dem hoif fin meine eltern

»Wen ich hob gemacht a gitn toisch, a git gescheft, hob ich bakumen a bisl gelt. Fin dem hob ich gekent koifn nuch a hin oder a kose

»Kim, Chanischi, ich werd dir epes geiben.« Ich wusste, was jetzt folgte. Opa und Anna führten mich stolz in Opas Schlafzimmer. Er holte seinen Schlüssel zum Kleiderschrank raus, den er immer verschlossen hielt. Der Schrank war zur Hälfte gefüllt mit Kleidern, die andere Hälfte war voll mit Essen. Eine ganze Schublade gehörte mir, denn sie war voll mit Schokoladentafeln. Opa konnte keine Schokolade essen, weil er Diabetes hatte. Anna gehörte eine halbe Schublade. Sie enthielt ausschließlich Wurst, die Anna an ihre Enkel in ein polnisches Dorf verschickte. Ich fragte mich, ob das der Unterschied zwischen den Polen und den Juden war. Wir brauchen Schokolade für die Nerven und sie Wurst, um die kalten Winter mit ausreichend Fett zu überstehen.

Es lagen mindestens immer um die sechzig Tafeln in meiner Schublade. Ich durfte mir immer zwei aussuchen. »Welche wilst di nemen?«

Ich zeigte dann meistens auf die Kinderschokolade und Opa überreichte sie mir feierlich, als handelte es sich um einen kostbaren Schatz. Irgendwie war es das auch für mich. Ich wusste, was an der Schokolade hing. Ich wusste, dass er das erste Drittel des Lebens zu arm gewesen war, um sich Schokolade leisten zu können, die Mitte seines Lebens hatte er in Ghettos und in Auschwitz verbracht, und das letzte Drittel seines Lebens hatte er so viel gegessen, um den Hunger zu stillen, der nie aufhörte, dass er Zucker bekommen hatte und daher auf alle Süßigkeiten verzichten musste. Deswegen wollte er, dass ich die Schokolade genießen konnte.

Opa war ein treusorgender Ehemann. In den zwölf Jahren, in denen meine Oma Alzheimer hatte, zeigte sich sein ganzer Respekt, seine ganze Liebe zu seiner Frau. Trotz ihrer geistigen Abwesenheit sprach er mit ihr so wie früher, als sie bei klarem Verstand war. Er kochte Omas Lieblingsspeisen und kaufte ihr Kleider, die sie geliebt hätte. Bunte blumige Kleider mit tiefem Ausschnitt.

Opa hütete sie Tag für Tag. Er machte keinen Unterschied, ob Oma krank oder gesund war. Das alles hatte nichts damit zu tun, dass er Omas Pflegerinnen mal an den Po oder an den Busen griff.

Wenn wir nicht hinschauten, küsste er die jeweilige Pflegerin auf den Mund. Am liebsten die dickliche Anna, mit der er regelmäßig einkaufen ging. Opa sah anderen Frauen so selbstverständlich hinterher und herzte den jeweiligen Körperteil, der ihm gerade ins Auge stach, dass mir das in der jeweiligen Situation ganz normal vorkam.

Sogar einige von Mamas Freundinnen, die regelmäßig mit uns Schabbat feierten, wurden von ihm überrascht, gepackt und geküsst. Nach einiger Zeit küssten sie ihn verstohlen und mädchenhaft sogar freiwillig auf den Mund. Opa war irgendwie der Pate, er nahm sich, was er brauchte. Er nahm es sich so selbstverständlich und ohne Diskussion, dass keiner sein Verhalten je anzweifelte.

Opa kategorisierte meine Freundinnen in die grobe (die Dicke), die dare (die Dünne), die mise (die Hässliche). Ich glaube, mehr als ihren Körper hat er nicht gesehen.

SOMMER IN LITTLE OLD YAFFA

Ich war fünfzehn, als ich mit Zoé und Mama einen weiteren Sommer in Israel verbrachte. Bevor wir meine Tante und meinen Opa besuchten, flogen wir erst nach Eilat und gönnten uns einen »Erlebnisurlaub« zu dritt.

Es waren jetzt vier Jahre nach Papas Tod vergangen. In Eilat ritten wir auf Kamelen in der Wüste, gingen ins Unterwassermuseum, und ab und zu aßen wir sogar zwei Mahlzeiten zusammen. Manchmal strich Mama sich über den Bauch, als hätte sie Schmerzen. Wenn ich sie darauf ansprach, wedelte sie abwehrend mit der Hand: «Es ist nichts«. Wir waren glücklich und die Sonne wärmte unsere Knochen.

Nach vier Tagen Eilat flogen wir nach Tel Aviv zu Rachel.

Nachdem meine Tante und mein Opa das sechste Mal von Deutschland nach Israel gezogen waren, wollte Rachel die Wohnung in Tel Aviv endlich modernisieren. Opa war in Deutschland geblieben.

Dieses Projekt sollte sehr lange andauern.

Rachel ließ die Wohnung komplett umbauen. Sie hatte bei den Großeltern meiner Freunde einen Marmorboden gesehen, der jetzt unbedingt in der Diele verlegt werden musste.

Mama wusste wahrscheinlich, in welchem Zustand sich die Wohnung befand. Wir wohnten nicht in der Wohnung, sondern im Carlton Hotel. Das war ein völlig neues Gefühl für mich. Ich hatte mich sonst in Israel zu Hause gefühlt. Jetzt war ich eher eine Touristin.

Ohne Frühstück, ohne uns einzucremen, und nach einigen Zigaretten brachen Mama, Zoé und ich zu Rachels Wohnung auf. Mama nahm ein paar Advil wegen angeblicher Kopfschmerzen. Ich wusste, sie hatte Magenschmerzen.

Wir gingen von der Ben-Yehuda-Straße aus auf die Wohnung meiner Großeltern zu. Es war sehr heiß an diesem Tag, Es wurde für heute Chamsim, der Wüstenwind, angekündigt. Schon vor zehn Uhr waren es 30 Grad. Ich freute mich darauf, meine Tante wiederzusehen.

Um an die Klingel der Haustüre zu kommen, muss man um das Haus herumlaufen. Dabei fiel mir auf, dass die Trisim, die Rollläden, zugezogen waren. Die Rollläden in Israel sind dünner als in Deutschland und werden außen angebracht.

Einige der Rollläden fehlten und blaue Mülltüten wehten als drohende Vorboten im Takt des Windes. Wir klingelten. Rachel kam uns strahlend entgegen. Wir umarmten uns und stiegen die letzten Treppen zur Wohnung hoch.

Staub schlug mir entgegen. Die Wohnung glich einer Ruine nach einem Bombenangriff. Es gab keine Möbel in der Wohnung, die Tapete war bis auf den Putz entfernt worden. Ein in Plastik eingewickelter Stuhl stand in der Mitte des Raumes. Vor dem Stuhl stand eine Kaffeedose. Auf der Kaffeedose lag eine bis ans Ende verglühte Zigarette, deren Asche sich zu einem mindestens fünf Zentimeter langen Bogen geformt hatte. Daneben brannte eine Zigarette, die nur zur Hälfte mit Tabak gefüllt war. Eine weitere Zigarette hatte meine Tante zwischen den Fingern. Ansonsten befand sich niemand in der Wohnung.

Ich suchte das Schlafzimmer. Intuitiv suchte ich einen Raum, in dem man geborgen war. Rachel konnte doch unmöglich hier wohnen. Was war schlecht an der alten Tapete? Was war schlecht am alten Boden?

Endlich fand ich das Schlafzimmer. Hier sah es auch so aus. Rachels Bett stand als einziger Farbmoment in der staubigen Wohnung. Die alte Tapete hing in Fetzen von der Wand. Neben dem Bett stand eine Kaffetasse. Mir war, als hätte ich mich in die »Mila 18«, einem Roman über das Leben einer jüdischen Widerstandsgruppe im Warschauer Ghetto, verirrt.

Ich ging zurück in den Salon. Ich starrte wieder auf die zwei Zigaretten, von denen eine noch qualmte. Der Aschebogen faszinierte mich. Ich stampfte mit dem Fuß auf. Der Aschebogen der Zigarette fiel auseinander. Ich hörte noch, wie meine Mutter Rachel Vorwürfe über den Zustand der Wohnung machte. Rachel, wo hast du gegessen, wo hast du dich gewaschen? Wieso hast du alles auf einmal in Auftrag gegeben?

Dann wurde es dunkel und ich kippte vornüber auf den mit Plastik umhüllten Stuhl. Mein Kopf landete im zerfallenen Aschebogen.

Als ich aufwachte, stand Zoé an meinen Füßen. Sie hatte meine Beine hochgelegt. »Alles in Ordnung, schonkheit

Zoé sah aus wie eine Hollywoodschauspielerin. Wenn ich mit ihr unterwegs war, zahlten wir nie Eintritt, wir zahlten auch nie Getränke, Zoé bekam überall einen Tisch.

Am Abend zuvor waren wir mit einer großen Gruppe jüdischer Freunde aus Deutschland ausgegangen. Wir waren um die zwanzig Leute. Das Yotvatah Restaurant, in das wir wollten, war völlig überfüllt. Alle waren genervt, weil es keine Aussicht gab, irgendwo auf der Tel Aviver Promenade gemeinsam Abendbrot essen zu können.

Zoé ging zu dem Manager des überfüllten Yotvatah Restaurants. Sie redete eine Minute mit ihm. Dann lächelte sie in die Runde und rief: »Jalah Chevre, kommt schon, wir können rein.«

Wenn Zoé in meiner Nähe war, wurde ich übersehen, aber ihre ganze Aura war so liebevoll, harmonisch und positiv, dass ein Gefühl der Eifersucht nicht aufkam.

Wenn wir am Strand entlang liefen, schauten ihr die Männer nicht nur hinterher, sie machten uns auch Platz, als wäre Zoé eine Königin. Ich platzte dann fast vor Stolz, neben ihr zu gehen.

»Geht’s dir besser?«, fragte sie.

»Ja«, sagte ich, »ich bleibe noch kurz hier liegen.«

Jeder, der Zoé kannte, hatte etwas über sie zu sagen. Da wir auf die gleiche Schule gingen, hatten wir oft die gleichen Lehrer. Die Mathe-, Physik- und Biologielehrer hatten eine sehr hohe Meinung von Zoés Begabungen. Wenn sie unseren Nachnamen auf der Klassenliste lasen, freuten sie sich und fragten, wie es meiner Schwester ginge. »Ein außerordentliches Talent, ihre Schwester.«

Zoé hatte meine Beine hochgelegt. »Alles in Ordnung, schonkheit

Als ich nach einigen Minuten wieder bei mir war, lachte Mama. »Was ist so witzig?«, fragte ich.

»Nichts. Du hast wahrscheinlich zu viel Sonne abbekommen. Du bist sehr empfindlich. So wie Papi.« Ich fragte mich, ob ich wirklich so empfindlich war.

Später bekam Mama, als sie gerade die Wohnung putzte, einen Magenkrampf. Sie konnte sich kaum auf den Beinen halten. Zum Glück kannten wir genügend Ärzte in Tel Aviv.

Einer ihrer ehemaligen Studienfreunde untersuchte Mami. Sie hatte ein Myom und musste noch am gleichen Tag notoperiert werden. Zoé und mich wollte sie im Krankenhaus nicht dabei haben. Ich fühlte mich erschlagen und einsam.

Abends ging ich mit einer Freundin, die seit dem Golfkrieg in Tel Aviv wohnte, etwas trinken. Danny, mein nach England verzogener Schulfreund, ging auch mit. Wir fuhren nach Yaffa.

Yaffa ist das alte Tel Aviv – eine uralte Hafenstadt mit arabischem Flair. Die kleine Stadt ist berühmt für ihren biblischen Bezug zum Propheten Jona. Jona kommt im Judentum, im Koran und in der Bibel vor. Als Kind mochte ich die Geschichte sehr. Dass ein Wal Jona verschluckt und auf G ttesbefehl wieder ausgespuckt haben soll, fand ich faszinierend. Ich stellte mir vor, dass der »Jonawal« vor Yaffas Küste im Meer wohnte.

Ich war froh, mit meinen Freunden nach Yaffa fahren zu können. Meistens machten wir dort einen Abstecher zu Abulafia, einem berühmten arabischen Stehrestaurant mit köstlichen Backwaren und anderen Spezialitäten. Dieses Mal fuhren wir zu einem Lokal, in dem es Malaauch (eine Art arabisches Pizzabrot) mit frischen Tomaten gab.

Das Restaurant lag in einer alten malerischen Gasse direkt am Hafen. Wir saßen auf dem Boden und bestellten eine Wasserpfeife mit Apfelgeschmack, die wir im Kreis rumgehen ließen. Meine Hauptbeschäftigung an diesem Abend bestand darin, einen Rauchring durch den anderen durchfliegen zu lassen. Ich konnte wunderschöne Rauchringe blasen. Fast so schön wie die der unschuldigen blauen Raupe bei Alice im Wunderland.

Ich fühlte mich gut, weil Danny neben mir saß. Danny hatte einen siebten Sinn für meine Familiendramen. Er fragte mich aber nie danach und ich war ihm dankbar dafür. Nily, meine Freundin, hatte ihren Freund und noch ein paar Jungs mitgenommen. Einer fixierte mich unentwegt und bald schon wirkte seine Aufmerksamkeit wie ein warmer Mantel auf mich.

Es war nicht er persönlich – er war nur ein Symbol dafür, dass es vielleicht irgendwann gut werden könnte in meinem Leben. Vielleicht könnte ich hier zur Schule gehen. Wir unterhielten uns eine Weile. Danach gingen wir am Strand spazieren. Diese Clique junger Menschen nahm alles leicht und unbeschwert und ich wollte unbedingt ein Teil davon sein.

»Why are you living in Germany?«, fragte mich der Junge.

»Why are you living here?«, fragte ich verärgert. Ich wusste, er würde gleich auf Nazideutschland anspielen. Ich kann nun mal nichts dafür, dass meine Großeltern und Eltern sich für Deutschland entschieden haben.

»Because my grandparents obviously didn’t want to live in Nazigermany after the war.«

Aus ihm sprach der ganze Stolz, es in unser Land geschafft zu haben. In einigen Jahren würde er in die Zawa (die israelische Armee) gehen. Ganz bestimmt wollte ich mich heute Abend nicht dafür rechtfertigen, warum ich ein so unreflektiertes Leben in Deutschland führte.

»Mazal tov«, sagte ich und ging auf die Toilette. Als ich zurückkam, sagte er: »Sorry, lets start new. Do you want to meet my grandma?«

Was für ein Tempo, dachte ich irritiert. Ich schaute ihn etwas ratlos an.

»No«, sagte er hastig, »I mean she would love to meet someone jewish from Germany. She speaks jiddisch and she misses her old European world.«

Das klang schon etwas authentischer, etwas zerrissener, etwas vertrauter – wie konnte ich dazu nein sagen. »Sure«, sagte ich. Wir gingen am Strand spazieren.

Als er mich zu küssen versuchte, schreckte ich verärgert zurück. Trotzdem ging ich glücklich nach Hause, mit dem Gefühl, für irgendjemanden auf dieser Welt eine Bedeutung zu haben.

In den nächsten Tagen erhielt ich Blumen, sehr liebe Nachrichten an der Hotellobby und eine Einladung, am Nachmittag mit ihm zu einem Baseballspiel zu gehen. Ich nahm die Einladung an und hoffte, nicht wieder einen Kuss abwehren zu müssen. Ich wollte mich ganz einfach gut fühlen, ohne etwas geben zu müssen. Ich wollte abgelenkt sein.

Die nächsten Wochen verbrachten wir viel Zeit miteinander. Ich ging gerne zu seiner Oma, die mit mir Jiddisch sprach. Sie machte Rogalach, ein jüdisches Gebäck, für uns.

Seine Oma machte mir zu schaffen. Die grüne Nummer auf ihrem Arm war kürzer als die von Opa. Hieß das, sie war länger in Auschwitz gewesen, viel länger als Opa? Sie war jung für eine Oma. Wenn sie es nach Israel geschafft hatte, musste ich mich dann nicht doppelt anstrengen, hierher zu ziehen? Alle Leute hier passten so gut zu mir, Israel passte so gut zu mir, alles war so vertraut, schwer, melancholisch und zerbrechlich.

Die wenigen Schwarzweißfotos an der Wand, die an die toten Angehörigen erinnerten, der Dillgeruch, der sich mit dem Geruch der Hühnersuppe vermischte, sogar die urdeutsche Wanduhr gab es bei uns und bei ihnen. Und natürlich die Teegläser, die alle jüdischen Großeltern besitzen.

Als mich meine beste Freundin aus Frankfurt anrief, fragte sie, was es Neues gäbe. Ich erzählte ihr von dem Jungen.

»Ist er dein Freund?«

»Ich denke schon«, sagte ich.

»Aber du hast schon einen zu Hause!«, erinnerte sie mich wütend.

Ich dachte an meinen Opa, der auch für jede Situation eine andere Frau hatte. »Manche können mehr haben«, sagte ich verärgert darüber, dass sie so kleinlich war. »Er ist eben nicht hier«, entgegnete ich und hängte auf.

TEL AVIV MIT DEN MÄDELS

Oma war schon lange nicht mehr da. Ich war das erste Mal alleine in Tel Aviv. Ich war sechzehn und dauernd in den Straßen unterwegs. Tel Aviv im Sommer ist der Treffpunkt aller europäischen Juden. Am Gordon Beach tummeln sich tagsüber Jugendliche aus verschiedensten Städten. Die Atmosphäre ist einzigartig. Die deutschen Jugendlichen kennen sich größtenteils von den Jugendfreizeiten der Zentralen Wohlfahrtstelle. An den Strandabschnitten wird Französisch, Englisch, Holländisch gesprochen. Es ist ein kunterbunter Mix.

Ich habe es geliebt, in der Wohnung meiner Großeltern frei und unabhängig von anderen wohnen zu können. Gleichzeitig ist man nie alleine, wenn man das nicht will, weil überall jemand ist, den man kennt. Meine beiden engsten Freundinnen waren auch in Israel, wohnten aber etwas außerhalb in Ramat Gan in der Wohnung ihrer Oma. Meistens verabredeten wir uns für vormittags am Strand, teilten uns zu dritt zwei Liegen, quatschten und lasen den ganzen Tag. Abends ließen wir uns durch das junge Tel Aviv treiben, redeten mit wildfremden Menschen oder schlossen uns den restlichen Frankfurtern an, um tanzen zu gehen.

Eines Nachmittags am Strand lernte eine meiner Freundinnen einen Soldaten kennen. Sie war so hin und weg von ihm, dass sie uns nicht darüber informierte wohin sie sich mit ihm verkrümelte. Sie war schon über drei Stunden verschwunden, als es langsam dämmerte und es Zeit wurde, nach Hause zu gehen. Weit und breit keine Spur von ihr. Langsam wurden wir unruhig und machten uns Sorgen. Wir machten uns Vorwürfe, dass wir unsere Freundin nicht besser im Auge behalten hatten. Wer weiß, mit wem sie unterwegs war. Uns fiel nichts Besseres ein, als auf das Holzhaus der Küstenwache, die an Baywatch erinnerte, hochzusteigen, um unsere Freundin per Lautsprecher am Strand ausrufen zu lassen.

Der Rettungsschwimmer unseres Strandabschnittes lachte ausgiebig über unsere Sorge, rief unsere Freundin dann trotzdem aus.

Ihr Name ertönte am ganzen Strand durch die veralteten rauschenden Sprechanlagen. Einige Minuten später kam unsere Freundin wütend durch den Strand gestapft: »Sagt mal, seid ihr von allen guten Geistern verlassen? Habt ihr nichts Besseres zu tun, als mich zu blamieren?«

Als sie sich beruhigt hatte, mussten wir lachen. Ich schlug vor, dass sie sich bei mir für den Abend fertig machen könnten. Wir würden sowieso später in Tel Aviv ausgehen, so dass sich der Weg nach Ramat Gan nicht lohnte. Mit Sand an den Füßen und damit beschäftigt, darüber zu streiten, wer am braunsten geworden war, gingen wir durch die vom Sonnenuntergang violett gefärbte Stadt in die Moshe Hess Straße. Überall blühten gelbe, rote und orangefarbene Blumen. Gibt es eine vollkommenere Jugend? Unterwegs kauften wir Cottagekäse, Brot und Trauben. Als wir in unsere Straße einbogen, sah ich Opa in seinem weißen Unterhemd auf der Veranda in unsere Richtung schauen.

Any, meine Freundin, sagte: » Was schaut er denn so grimmig, ich hab ein bisschen Schiss vor ihm.«

Ich: »Ach was, er freut sich, dass wir kommen.« Ich wusste, dass Opa es nicht mochte, wenn ich Gäste zu uns brachte. Aber ich war nicht bereit, mich danach zu richten.

Nathalie drehte sich ihre Locken zum Pferdeschwanz und lächelte wissend. Sie ahnte wohl, dass Opa nicht begeistert war. Aber sie gestaltete die Situation so angenehm wie möglich für mich. Oben angekommen, sagte ich zu den Mädchen, sie könnten in Ruhe duschen gehen. Opa kam auf mich zu und flüsterte: »Bist di meschigge? ze wus missn sei hier duschn und fresn. Sei hobn nischt wi ze gain?«

»Opa, dus sene mane koleschankes, sei kenen du machen wus sei willen!«, gab ich zurück.

»Chanischi, schra nischt, ui miech stacht du die pleitzes. Kimm no breng mir die Masch.«

Schnell brachte ich ihm seine Salbe, schmiss drei andere Salben weg, die schon verfallen waren, und cremte Opa den Rücken ein. Any lugte aus der Küche hervor und zwinkerte mir zu. Sie war gerade dabei das Brot zu toasten. Sie bewegte sich unauffällig und leise, um nicht besonders viel Lärm zu machen. Ich lächelte. Ich war froh, dass meine Freundinnen es mir nicht übel nahmen, wie Opa sich aufführte. Sie hatten zwar nicht ganz so harte Kaliber als Großeltern. Die Stimmung war ihnen dennoch vertraut.

Opa schaute zu Any rüber. »Breng mir wasser, ober dali.« Mir war das so peinlich.

»Opa!«, warnte ich ihn vom Flur aus.

Durch die Diele konnte ich seine Beine sehen, seine Hände ruhten auf den Beinen. Die goldene Uhr schnitt Opa leicht ins Fleisch. Seine Finger trommelten auf seinem Oberschenkel.

»Lass, ich mach schon«, sagte Any verständnisvoll. Sie brachte ihm sein Wasser und stellte es vor ihn auf den Tisch.

»Wus is dus?«, schrie Opa in Anys Richtung, die schon wieder auf dem Rückzug in die Küche war. »Ich will sudewasser!«, zeterte Opa weiter.

Ach du liebes bisschen, Opa scheuchte sie wegen dem Wasser hin und her. Ich rauschte um die Ecke auf ihn zu. Opa grinste mich an: »Wen sei wolln esn und sech buden, efsche, sie kennen a bisle kochn ober waschn

Ich ging wieder Richtung Küche: »Any, tut mir leid.«

»Macht nix, macht dir mal nicht ins Hemd. G tt ich dachte, er kippt mir das Wasser direkt ins Gesicht.«

So falsch lag sie nicht mit ihrer Befürchtung.

»Wir amüsieren uns ein bisschen zusammen«, sagte sie keck. Sie konnte sich nicht mehr einkriegen vor Lachen. »Wenigstens weiß er, was er will. Sudewasser, das heißt Sprudelwasser, ja? Witziges Wort. Naja dann sudden wir ihn mal. Meinst du, er killt mich, wenn ich ihm Eiswürfel reinlege?«

Dafür liebte ich sie, für ihren einmaligen Humor. Aus jeder komischen Situation machte sie einen Brüller.

Opa war aufgestanden: »Wus macht di andre?«

Ich: »Se duscht.«

Opa: »A soi lang?«

»Jo«. Wir starrten uns an. Dann ging er wieder brav auf die Veranda und setzte sich wieder auf seinen Stuhl.

Ich ließ mich gegen die Badezimmertür fallen und ging in die Knie, um kurz zu verschnaufen. Ich hörte Any in der Küche rumwerkeln. Dann kam sie zu mir. »Ich lege mich kurz in dein Schlafzimmer, ja? Coole Wohnung.«

»Ja«, sagte ich. Eine aus der Schusslinie. Ich will eine rauchen, dachte ich.

Das Telefon klingelte. Es konnte nur mein Exfreund sein, der jeden Tag um die gleiche Uhrzeit anrief. Opa erhob sich, um dran zu gehen, ich rannte, um als erste abzuheben. Opa hatte nichts gegen Deutsche. Er hatte generell was gegen alle, die nicht zu seiner Familie gehörten. Zumindest im ersten Augenblick. Er würde ihn anschreien oder ihm sagen, er solle jemand anderen auf den Wecker fallen mit seinen Anrufen. »Hallo?«

»Hi, ich bin es. Wie geht es dir?«

Opa blieb unschlüssig in der Mitte des Raums stehen. »Wer is dus?«

»Di mame«, sagte ich.

»Hm«, brummte Opa.

»Hast du ihm immer noch nichts von uns erzählt?«, fragte Chris.

»Doch, klar habe ich das.« Mist, Verletzungspotential, dachte ich.

Ich fixierte Opa mit meinen Blicken.

»Wieso sagst du dann, deine Mutter sei am Telefon?!«

»Ach, das – weißt Du, er ist, naja, er hatte heute einen ganz schlechten Tag« flunkerte ich.

»So geht das nicht, du kannst mich nicht verleugnen.«

»Das will ich auch gar nicht, ich rufe dich am besten später wieder an.« Opa bewegte sich zufrieden wieder Richtung Veranda.

Als wir abends ausgingen, sagte Opa mir: »Chanischi, ze wus mist di loifen oif di gassn?«

»Ich kenn nischt sitzen dejm ganzen tug in der stib, Opa

»Di bist gewein dejm ganzen tug am jam.«

Ich küsste ihn zum Abschied. Immer wenn ich ging, erhob er sich von seinem Stuhl, lief unruhig hin und her und versuchte mir klar zu machen, dass es nicht gut sei, so viel draußen zu sein. Er hatte Angst um mich und musste sich beherrschen, mich gehen zu lassen. »Wann wirst di zirek san?« fragte er.

»Ich weiß nischt, alle senen du«, sagte ich »ich hob lieb zu sajn a bisle drousn

»Ober ich bin du«, versuchte er es nochmal.

»Opa, ich kim zireck.«

»Ach«, abwertend schlug er mit der Hand die Luft nach hinten: »machts wus willst.«

Ich küsste ihn nochmal, aber er schubste mich sanft weg: »Wus bist di a lekkatz?«

Opa hatte sich anscheinend an meine Mädels gewöhnt. Wenn ich sie nun mitbrachte, brummte er nicht mehr ganz so stark. Ganz anders erging es David, einem Freund von Zoé, der uns einige Tage später in unserer Wohnung besuchte. Wir saßen friedlich mit David im Wohnzimmer und quatschten. Es war ein heißer Tag und Zoés Freund hatte Kopfschmerzen. Zoé ging in Opas Schlafzimmer, um aus dem Apothekenschränkchen eine Kopfschmerztablette zu holen. Zoé gab David zwei weitere für den Heimweg mit. Wir plauderten über dieses und jenes. Opa kam in die Wohnung rein und sah seine Aspirin auf dem Tisch liegen. Opa schrie David an: »Du mieser ganev, wus nemmst di mane tabletten?«

»Opa«, beruhigten wir ihn, »Duvid is a freund, wir hobn ihm gegeiben die tabletten.«

»Wus krazt miech san kop?«

Ich ging mit Opa in die Küche und packte seine Tüten mit ihm aus. Zoé war zu dieser Zeit nach Israel ausgewandert und lebte kurze Zeit bei Opa in der Wohnung. Opa nahm mich zur Seite. »Channele, ich weiß nischt wus is passiert mit Zoé.«

Ich: »Far wus?«

Opa druckste etwas rum: »Koidem hot sie gestern geschrigen a sach mit mir. Hunt sitzt se mit dejm ganev. Far wus sitzt er bei ins in der stib, der schnorer?«

Ich: » Opa, dus is a freund kein ganev. Zoé tit nischt a sach schraien. Is epes pasiert?«

Opa: «Nein.«

Ich: »Ober epes mis doch pasiert san bevor si hot geschrigen. Host di epes gesugt zi ihr?«

Opa: »Ich weiß nischt, efsche jo. Gestern is der dibik in ihr gewein

Ich: »Wus redst die narischkeiten, ni, wus is gewein?«

Opa: »Ne jo, ich hob nischt direkt epus gesugt.«

Ich: »Hot sie epes gesugt?«

Opa: »Jo, sie hot gemeint ich bin ganz mies, weil ich hob genimen ihre borst.«

Ich: »San borst?«

Opa: »Far die zejn.«

Ich: »Di host genimen ihre borst far dane zejn?«

Opa: »Jo.«

Ich: »Ne jo, aber di weißt doch Zoé hot lieb ihre eigene sachen, me tu nischt nemen die Borst fin keinem anderem Mensch. Dus is nischt git. «

Opa: »Channele, ich hob dus nischt far mir genemen. Ich hob dus genemen far mane prothese.«

1 435,42 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Объем:
192 стр. 4 иллюстрации
ISBN:
9783863370442
Правообладатель:
Bookwire
Формат скачивания:
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