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Dienstagabend, München Haidhausen

»Unglaublich. Du hier? 20 Minuten zu früh? Bist du krank? Ist die Pressekonferenz ausgefallen? Hat RG dich endlich gefeuert?«

»Darf ich erst mal in meiner eigenen Wohnung ankommen? Übrigens, entzückend siehst du aus.« Katharina ging mit einem liebevoll-spöttischen Blick auf sein interessantes Outfit an Oliver vorbei in die Küche und ließ sich auf einen Stuhl fallen.

Mit dem Fahrrad in der Rushhour vom Bayerischen Hof durch die Münchner Innenstadt nach Haidhausen, wo sie wohnte, war kein Vergnügen.

Aber ihre Wohnung war für Münchner Verhältnisse nicht teuer, hatte drei Zimmer, einen kleinen Balkon und lag direkt am Weißenburger Platz, den sie schon als Kind geliebt hatte. Für keinen Job der Welt würde sie diese Wohnung hergeben. Amüsiert betrachtete sie das Treiben in der Küche.

Oliver war mit der Zubereitung von Kartoffelpuffern beschäftigt. »Ich kann nicht kochen und das ist gut so.« Dieser Spruch prangte auf der einzigen in Katharinas Haushalt verfügbaren Schürze und jetzt auf Olivers Bauch. An den Händen trug er dicke Latexhandschuhe, um sich nicht beim Schälen der Kartoffeln zu schneiden. Zu einer Blutvergiftung würde es nicht kommen. Auf dem Kopf – das hatte ihm vermutlich Svenja aufgeschwatzt – saß eine Baseballkappe mit dem Konterfei von Elyas M’Barek. Der Mann, der ansonsten mit seinen intellektuellen Freunden Free-Jazz-Sessions organisierte, ließ sich für Svenja in die Niederungen der Populär-Unterhaltung herab, Katharina schmunzelte: »War’s schön? Wo ist Svenja überhaupt?«

»Die ist zu euren Nachbarinnen gegangen, um Apfelmus auszuleihen. Als sie festgestellt hat, dass ihr keines mehr dahabt, hat sie einen kleinen Tobsuchtsanfall bekommen und ist gleich zur Problemlösung geschritten – ganz die Mutter.« Oliver grinste.

Im selben Moment klingelte es Sturm. Mit einem kleinen Seufzer ging Katharina zur Wohnungstür. Warum hatte dieses Kind nicht wenigstens ein kleines bisschen von der Gemütsruhe seines Vaters erben können? Tobias’ Langsamkeit war ihr manchmal auf den Geist gegangen, als sie noch zusammen waren. Jetzt wünschte sie sich ab und an etwas davon bei ihrer Tochter.

»Wie, du bist da? Hoffentlich hast du was gegessen, die Kartoffelpuffer sind nur für mich und Oliver.« Mit diesen Worten stürzte Svenja an ihrer Mutter vorbei in die Küche und stellte zwei Gläser Apfelmus auf dem Esstisch ab.

»Ella und Sibylla sind super, die haben mir das Apfelmus geschenkt.« Svenja strahlte.

»Ich freue mich auch, dich wiederzusehen«, erwiderte Katharina und drückte ihrer Tochter einen Kuss auf die sommersprossige Stirn. »Und gegessen habe ich noch nichts. Ich werde einfach noch ein paar Kartoffeln schälen und dann reicht es für drei.«

»Aber es gibt kein zweites Paar Handschuhe in diesem mehr als improvisierten Haushalt«, kam es aus Olivers Ecke.

»Ich werde die Kartoffeln unter Einsatz meines Lebens mit nackten Händen schälen«, konterte Katharina. »Wie war der Film, Svenjalein?«

»Spitze«, sagte Svenja, während Oliver über ihren Kopf hinweg den Finger in den Hals steckte und unverkennbare Zeichen starker Übelkeit mimte.

»Einen Lehrer wie den Herrn Müller hätte ich auch gern. Der ist superlustig und soooo cool. War toll, selber schuld, dass du lieber auf deine Versammlung gegangen bist.« Svenjas tiefbraune Augen leuchteten, während sie eingekuschelt in ihre Schmusedecke auf der Eckbank in der Küche saß und erzählte. Sie trug ihr Lieblingsoutfit: rote Latzhose, Tote-Hosen-Shirt (sie kannte die Musik zwar nicht, fand aber den Bandnamen »mega«) und natürlich dieselbe »coole« Kappe auf dem Kopf wie Oliver. Darunter schauten ihre braunen Wuschelhaare heraus. Sie sah zum Knuddeln süß aus.

Zufrieden setzte Katharina sich an den Küchentisch und half, Kartoffeln zu schälen. Offenbar hatte Svenja weniger auf die zum Teil deftige Wortwahl des Films als vielmehr auf Elyas M’Barek geachtet. Umso besser.

»Wolltest du nicht um 21 Uhr im Jazzclub sein? Von Haidhausen bis nach Schwabing brauchst du eine halbe Stunde.« Es war 20.30 Uhr, Oliver lag auf Katharinas Sofa und schenkte sich gerade von dem edlen italienischen Bio-Rotwein nach, den er selbst mitgebracht hatte. Mehr als sechs Euro für eine Flasche Wein auszugeben, lehnte Katharina ab. Billige Weine konnten nach Olivers Meinung zu viele Giftstoffe enthalten, deshalb brachte er seinen Alkohol meist selbst mit. Er hatte Katharinas Schürze inzwischen abgenommen und trug noch sein Job-Outfit – dunkelblaue Bundfaltenhose, blau-weiß gestreiftes Designerhemd. Krawatte und Slipper hatte er ausgezogen. In der Luft hing der Duft nach den Puffern, aus Svenjas Zimmer leuchtete der blaue Plastikbär, eine Lampe, die auf Anweisung der Siebenjährigen die ganze Nacht zu brennen hatte.

»Als großer Adelhofer-Fan kann ich später kommen.« Oliver grinste. »Erzähl.«

Katharina wusste, welch Sakrileg es war, unpünktlich zum wöchentlichen Jazz-Treffen zu kommen. Dass Oliver den Anpfiff für sie in Kauf nahm, rührte sie. Sagen wollte sie das nicht, stattdessen kuschelte sie sich mit einem knappen »rutsch mal« zu seinen Füßen in die Sofaecke, umschloss ihr Rotweinglas mit beiden Händen und begann zu erzählen.

Das Handyklingeln zwei Stunden später erreichte nur Katharinas Mailbox. Oliver war inzwischen nach Schwabing entschwunden und Katharina auf dem Sofa eingeschlafen. »Birgit hier, Lukas Adelhofer ist tot. Die Obduktion zeigt keine Spuren von Fremdeinwirkung. Bin leicht in den Polizeifunk reingekommen.«

Dienstagabend,
Breitbrunn am Chiemsee

»Jetzt is’ der Bub tot.« Das war das Einzige, was seit Roberts Ankunft in der Adelhoferküche gesagt worden war. Rosa Adelhofer hatte den Satz in den Raum gestellt. Seit zehn Minuten schwang die traurige Botschaft zwischen ihnen.

Als Erinnerung, dass bis vor Kurzem Normalität geherrscht hatte auf dem Adelhofer-Hof, hing noch der Geruch von angebratenen Zwiebeln in der Küche. Wurstsalat und Bratkartoffeln hatte es zu Mittag gegeben, das Lieblingsessen ihrer drei »Mannsleit«, wie Rosa Adelhofer in glücklicheren Tagen ihren Mann und die beiden Söhne genannt hatte.

Tränen liefen über das faltige Gesicht der alten Bauersfrau. Aus dem ordentlich aufgesteckten Dutt hingen einige graue Haarsträhnen. Nach ihrer Ohnmacht am Nachmittag, als die Polizistin da gewesen war, hatte sie sich ein bisschen hingelegt. Als es ihr besser ging, war sie mechanisch aufgestanden. Sie trug noch immer ihre Kittelschürze, die sie, kurz bevor das Unheil seinen Lauf genommen hatte, zum Kochen über den grünen Lodenrock und die weiße Trachtenbluse gebunden hatte.

Wie ein Relikt aus einer besseren Zeit leuchteten die rosa Blümchen auf der Schürze.

Max Adelhofer blickte starr auf die blau-weiß karierte Tischdecke. Sein wettergegerbtes Gesicht wirkte grau. Die kräftigen Bauernhände, die sonst immer in Bewegung waren, lagen reglos auf dem Tisch. Sein Ehering, auf den die Esstischlampe schien, warf einen kleinen Lichtstrahl an die Wand. Wie um zu sagen, dass die Ehe Bestand hatte, obwohl eins der Kinder, das daraus hervorgegangen war, nicht mehr lebte.

Der Einzige am Tisch, der sich bewegte, war Robert Adelhofer. Sein Handy zeigte alle paar Sekunden mit einem kurzen Ton eine neue Nachricht an. Robert schrieb zurück oder hörte seine Mailbox ab. Der Sender, diverse Zeitungen – alle wollten natürlich Infos über Lukas’ Verbleib. Adelhofer wusste, dass es nicht klug wäre, gleich mit der Presse Kontakt aufzunehmen. Das würde sofort gegen ihn verwendet werden:

»Mitleidloser Bruder«, »Adelhofer will Kapital aus dem Tod seines Bruders schlagen«, »Hat er seinen Bruder auf dem Gewissen?« – die Schlagzeilen sah er vor sich.

Außerdem konnte er es seiner Mutter wohl im Moment nicht antun, Journalisten ins Haus zu holen.

Sein Vater würde darüber wegkommen, sein Wahlspruch war: »Was uns ned umbringt, macht uns stärker.« An einen seiner Söhne hatte er diese Einstellung weitervererbt, der andere war offenbar daran zerbrochen. Zum ersten Mal betrachtete Robert seine Situation und die seines Bruders aus dieser Sicht und war ergriffen von seinen eigenen Gedanken. Das Handy gab einen weiteren Signalton von sich, genervt stellte Robert es stumm.

»Gell, Mama, des mit den Führungen lass ma erstamal bleibn, jetzt tu ma unsern Buben begrabn und dann schauma weiter.« Unbeholfen legte der alte Adelhofer seine Hand auf die seiner Frau und rieb darauf herum, in dem Versuch, Trost zu spenden.

Dienstagnacht,
Breitbrunn am Chiemsee

Im Bauernhaus der Adelhofers herrschte Totenstille. Das Erdgeschoss lag im Dunkeln, Kühle kam von den alten Steinplatten in der Eingangshalle. Der lebensgroße heilige Florian, der am linken Ende der Halle in der Ecke stand, war in Umrissen wahrzunehmen. Wie ein Schutz wirkte er nicht, eher wie eine Bedrohung.

Die alten Adelhofers schliefen wohl, es war leicht. Leichter, als sie es sich vorgestellt hatte. Durch das Fenster zur Stube, das gekippt war und Gott sei Dank nach hinten raus ging, konnte sie einsteigen. Zu Lukas’ Zimmer ging es über die Hintertreppe, die nicht knarzte.

Drin empfingen sie das übliche Chaos und ein entsetzlicher Gestank. Teller mit verschimmelten Lebensmitteln überall. Die hatte die Polizei stehen lassen. Sie wusste, dass die hier gewesen war. Sie wollte nur kurz sehen, ob alles nach Plan lief. Der Laptop fehlte. Klar, hatten sie mitgenommen. Würden nichts finden. Auch die Ordner waren nicht da, aber da war nichts Spannendes drin. Sie ging zu dem schweren Bauernschrank und zog mit ihrem Handschuh leicht die Schranktür auf. Das Corpus Delicti war weg. Das hatte Lukas sofort rausgerissen, nachdem sie es ihm gezeigt hatte. Durchgedreht war er, auf den Boden geschmissen hatte er es. Spuren gab es keine im Schrank. Kopien hatten sie. Sie musste grinsen über ihren perfekten Plan. Es lief, wie sie es wollte. Die Polizei wäre sie bald los. Beruhigt konnte sie verschwinden – unbemerkt, wie sie gekommen war. Auf das Haarspray hatte sie an diesem Tag verzichtet, damit der Geruch sie nicht verriet.

Mittwochmorgen,
München Haidhausen

Ein leises, penetrant wiederkehrendes Geräusch weckte Katharina. Im Halbschlaf hatte sie das Klingeln einer Eieruhr in ihren Traum eingebaut. In wachem Zustand schlug sie sich diesen Gedanken gleich aus dem Kopf. Es wäre das erste Mal in sieben Jahren, dass Svenja vor ihr aufstand. Und Frühstück machte – absurder Gedanke. Das Brummen musste vom leise gestellten Festnetz-Telefon kommen.

Katharina stieg verschlafen aus dem Bett und meldete sich mit ebensolcher Stimme. Am anderen Ende eine hellwache Birgit. Manchmal hatte Katharina den Verdacht, dass ihre Freundin im Büro übernachtete. Sie könnte ja einen Anruf verpassen oder mitten in der Nacht auf die Idee kommen, einen Computercode zu knacken.

»Hast du deine Mailbox noch nicht abgehört?«

»Nein«, murmelte Katharina irritiert.

»Lukas Adelhofer ist tot, keine Spuren von Fremdeinwirkung. Die Leiche wird in zwei Tagen freigegeben. Sie haben aufgrund von Dringlichkeit direkt für heute die Obduktion angesetzt. Damit der Fall bald geklärt ist und der berühmte Herr Adelhofer nicht lange von der Presse belagert wird. Im Moment gehen sie davon aus, dass Lukas sich auf den Scheunenboden runtergestürzt und vorher NATO-Draht und Glasscherben ausgelegt hat – um auf jeden Fall zu verbluten, falls der Sturz allein ihn noch nicht umbringt. Solche perversen Vorschläge findet man zuhauf im Internet, habe vorhin in den einschlägigen Foren recherchiert, ziemlich eklig das Ganze. Jedenfalls sieht es danach aus, dass am Samstag die Beerdigung ist, Friedhof Breitbrunn am Chiemsee.«

Katharinas erster Gedanke: bitte nicht Samstag.

Das bedeutete einen freien Tag weniger mit Svenja, kein gemütliches Einkaufen – im Sommer liebten sie es besonders, den Samstag zu verbummeln, erst auf dem Markt, danach auf dem Spielplatz oder im Englischen Garten, später bei einem leckeren Abendessen auf dem Balkon. Lecker bedeutete für Svenja Fischstäbchen mit Pommes und ohne Salat, und Seeteufel mit Orangenrisotto und viel Salat, wenn es nach Katharina ging. Egal, beides würde es diesen Samstag nicht geben. Stattdessen: arbeiten. Und das in Breitbrunn am Chiemsee. »Wie kommst du auf die Idee, dass die Beerdigung ausgerechnet am Samstag stattfindet?«, fuhr Katharina inzwischen hellwach ihre Freundin an.

»Weil beautiful Robert clever ist und am Samstag die meisten Leute kommen. Werd’ erst richtig wach, bis später.« Deutlich unterkühlt wurde am anderen Ende der Hörer aufgelegt. Katharina seufzte und beschloss, eine Entschuldigung bei Birgit auf später zu verschieben. Der normale morgendliche Wahnsinn war angesagt. Wie üblich war sie zu spät dran, es führte nichts daran vorbei, demnächst den Wecker auf eine halbe Stunde früher zu stellen. Seit Svenja pünktlich um 8 Uhr in der Schule sein musste, war jeder Morgen die pure Hektik. Das Projekt »wie erkläre ich meiner Tochter, dass ich am Samstag weg bin, und was mache ich mit ihr während dieser Zeit« konnte sie Gott sei Dank vertagen, bis tatsächlich feststand, dass Lukas Adelhofer am Samstag zu Grabe getragen wurde.

Vielleicht war es doch Mord, dann ging es nicht so schnell.

Eineinhalb Stunden später saß sie an ihrem Schreibtisch in der Redaktion und hatte wieder das eigentlich Unmögliche geschafft: Svenja erfolgreich geweckt, in Rekordzeit Müsli mit frischem Obst und gemahlenen Nüssen – ihrer beider Lieblingsfrühstück – gezaubert, selbiges gemeinsam mit Svenja gegessen und sie dabei noch M, N und S vorlesen lassen – die drei neuen Buchstaben, die sie am Vortag gelernt hatte. Danach schnell angezogen, geschminkt (in maximal 90 Sekunden), Svenja in die Schule gebracht, in der Redaktion noch die Zeitungen zum Fall Adelhofer quergelesen, und pünktlich (!) um 9.30 Uhr hatte sie in der Redaktionskonferenz gesessen. Die »Abendausgabe« startete eine große »Robert-Adelhofer-Story«, Untertitel: »Vom Kuhstall am Chiemsee in die glitzernde deutsche Medienwelt«.

Das war ihrem Chef natürlich ein Dorn im Auge.

»Frau Langenfels, Sie haben es sicher gesehen, das Abendblatt zieht Adelhofer groß auf, zehnteilige Serie, aber nur mit altem Material. Die Fotos vom ersten Schultag, das Überleben des Bergwinters – alles tausendmal gesehen. Sie machen es bestimmt anders, wie wir es besprochen hatten, es muss polarisieren. Wir sollten es deutlich größer fahren, jetzt, wo der Bruder tot ist. Am besten wäre mindestens ein Zehnteiler über den wahren Robert Adelhofer, den, den man noch nicht kennt, das Verhältnis zu seinem Bruder, zu den Eltern. Dürfte kein Problem für Sie sein, oder? Gehen Sie auf die Beerdigung, versuchen Sie, nah an ihn ranzukommen, wir wollen nur Insiderinformationen. Sprechen Sie mit der Mutter, dem Vater, den alten Freunden. Wir starten diesen Donnerstag mit einem aktuellen Bericht und mit der Hintergrundstory nächste Woche, einverstanden? Wenn ein paar unerwartete Details vorkommen, wird es polarisieren.« RG grinste zufrieden.

Katharina nickte. Dass Adelhofer polarisierte, war Fakt. Birgit und sie waren dafür das beste Beispiel. Als könnte RG Gedanken lesen, sagte er: »Sie dürfen Frau Wachtelmaier für die nächste Zeit exklusiv mit Ihren Recherchen beschäftigen.«

Eigentlich freute sich Katharina über die neue Aufgabe. Durch den Tod des Bruders war etwas Unvorhergesehenes in Adelhofers perfekte Inszenierung geplatzt. Sie schaute auf das Foto der beiden Watergate-Journalisten, als müsste sie sich dort noch eine Bestätigung holen. Die beiden rauchten und beratschlagten wie immer.

»Alles klar, Herr Riesche-Geppenhorst.« RG nickte zufrieden.

Nach der Redaktionskonferenz ging Katharina als Erstes zu ihrer Freundin, um sich zu entschuldigen.

Als sie das Archiv von »Fakten« betrat, stand Birgit Wachtelmaier am Fenster, blickte hinaus und telefonierte – ihre Lieblingsposition, denn es entging ihr nichts, was auf der Straße passierte. Katharina hatte noch einen Moment Zeit, das erlesene Outfit der »Fakten«-Archivarin zu bestaunen. Heute trug Birgit einen pinkfarbenen Minirock, unter dem sich kleine Wülste abzeichneten. Birgit hatte vorgesorgt und Stretch gekauft. Zu dem Rock kombinierte sie schwarze Netzstrümpfe und atemberaubend hohe, diesmal goldfarbene Stöckelschuhe mit einem kleinen Glöckchen an der Ferse. Gut, dass sie allein im Büro sitzt, dachte Katharina. Jeder Kollege würde nach einem Tag Glöckchenklingeln kündigen, so viel, wie Birgit mit den Füßen wippte.

Oben herum hatte ihre Freundin heute eine transparente blaue Bluse an, darunter einen sicherlich sündhaft teuren Spitzen-BH, ebenfalls in Blau.

»Du, Servus, meine Liebe, bis Samstag, gell, endlich werden wir schlank, ich koche zehn harte Eier ab, kein Problem. Genau, Eier und Gurkensaft, wird gemacht. Du, ich muss Schluss machen, mein Chef will mich sprechen. Servus, bis Samstag.« Augenrollend legte Birgit auf, setzte sich an ihren Schreibtisch, hob die klingelnden Füße auf den Tisch und schaute Katharina vorwurfsvoll an.

»Sorry, Birgit, ich weiß, ich habe dich völlig grundlos angepfiffen, ich war müde und sauer, weil ich den Samstag nicht für Svenja habe. Übrigens, was hast du am Samstag vor mit Eiern und Gurken?«

Birgits Blick wurde freundlicher. Seit ihrer Scheidung gehörte das Ausprobieren neuer Ernährungsmodelle zu ihrem Leben. Vorher hatte es für Arnulf recht monothematisch Fleisch geben müssen, mal in Schweinsbraten-, mal in Fleischpflanzl-Form. Birgits Figur hatte das nicht gutgetan.

»Das frage ich mich auch. Die Mausi, mit der ich auf der Fortbildung zur Internetrecherche war, die hat Figur-Probleme. Sie hat mich überredet, am Samstag einen Entschlackungstag einzulegen – mit harten Eiern und Gurken –, angeblich der letzte Schrei der Ernährungslehre. Wenn du mich für Sonderschichten brauchst, mir ist jede Ausrede recht.«

»Birgitchen, ich hätte tatsächlich eine Idee.«

»Sprich und nenn mich nie mehr Birgitchen.«

»Was hältst du von einer Undercover-Recherche auf Lukas Adelhofers Beerdigung? Du gibst dich als Robert-Adelhofer-Fan aus und versuchst irgendwie, dich unters Volk zu mischen und zu hören, was geredet wird. Ich kann das nicht machen, mich kennen die Leute und sagen nichts. Und wenn, dann das, was sie demnächst in ›Fakten‹ lesen wollen.«

Birgit zog die frisch gezupften Augenbrauen hoch, nahm ihre Schuhe vom Schreibtisch, rückte den Rock zurecht, erhob sich und ging ernst auf Katharina zu.

Im nächsten Moment fiel sie ihr um den Hals und rief: »Geile Idee. Endlich kann ich mein ganzes Repertoire ausspielen. Ich gehe als Modell ›trauernde Katzenberger‹, ich habe noch ein paar schwarze Schuhe mit kleinen rosa Herzchen vorne auf der Spitze, und dieses schwarze, tief ausgeschnittene Kleid, ich werde …«

»Ich merke, wir verstehen uns.« Katharina grinste und sah die Beerdigungsszene genau vor sich.

»Du machst einen Schlachtplan und wir reden am Freitag, okay?«

»Okay, Chef«, strahlte Birgit und versuchte unter heftigem Glöckchenklingeln ihre Hacken aneinanderzuschlagen.

Als sie in der Tür war, drehte sich Katharina noch mal um und sagte grinsend: »Das mit dem Autogramm habe ich gestern nicht geschafft. Kannst du dir jetzt selbst holen. Nein, musst du sogar – aus rein professionellen Gründen natürlich.« Birgit zeigte einen Stinkefinger und nahm huldvoll klingelnd an ihrem Schreibtisch Platz.

»Obermann, Kripo Rosenheim.«

»Grüß Gott, Frau Obermann, mein Name ist Katharina Langenfels von ›Fakten‹ aus München. Ich arbeite an einer Serie über Robert Adelhofer.«

»Sie Arme«, kam die spontane Antwort und Katharina war die Frau umgehend sympathisch.

»Es könnte aus der ›Vom Bauernbub zum Starmoderator‹-Story plötzlich ein Krimi geworden sein. Deswegen rufe ich an.«

»Ich fürchte, Sie werden mehr über die unappetitlichen Sendungen des noch lebenden Herrn Adelhofer schreiben müssen als über den Tod des Bruders. Aber bevor ich mehr sage, Frau Langenfels, ich kenne und schätze Ihre Artikel. Die Medell-Sache – Hut ab. Drum verlasse ich mich darauf, dass das, was ich Ihnen erzähle, zunächst unter uns bleibt. Und Sie nur das schreiben, was ich freigebe. Einverstanden?«

»Einverstanden, Frau Obermann, ich kenne die Regeln und halte mich grundsätzlich daran.«

»Gut«, kam es sachlich zurück. »Nach allem, was wir bisher wissen, war es Selbstmord. Und damit zwar eine Story, die Herr Adelhofer vermutlich noch in seiner Sendung auswalzen wird, aber hoffentlich nichts für ein seriöses Blatt wie ›Fakten‹.«

»Das mit dem Selbstmord ist verbrieft?«

»Wir haben keinerlei Hinweise auf Fremdeinwirkung gefunden. Stattdessen ein Büchlein im Zimmer von Lukas Adelhofer, in dem er seinen Selbstmord exakt beschreibt.«

»Bitte?«

»Ja, er hat ziemlich perverse Kurzgeschichten geschrieben, in denen sich ständig Menschen umbringen. Einer davon genau so, wie er es tatsächlich gemacht hat.«

»Und diese Geschichten stammen wirklich von Lukas Adelhofer?«

»Es ist eindeutig seine Handschrift, wir haben es mit anderen Dokumenten verglichen. Sein Freund, der uns überhaupt den Hinweis gegeben hat, dass Lukas Adelhofer sich in der Scheune befinden könnte, hat von Depressionen und Selbstmordgedanken berichtet. Ansonsten legt der Rest des Zimmers ebenfalls nahe, dass es niemand bewohnte, der Spaß am Leben hatte. Seine Eltern hatten keinen Zutritt. Wenn Lukas wegging, hat er zugesperrt. Das hat mir seine Mutter erzählt. Arme Frau übrigens, völlig am Ende.«

»Wie muss ich mir Lukas’ Zimmer vorstellen?«

»Na ja, totales Chaos, altes, benutztes Geschirr, Stapel von Zeitungen und Zeitschriften, verschimmelte Lebensmittel. Ich würde es als Zimmer eines Messies beschreiben.«

»Und die Beerdigung ist definitiv am Samstag?«

»Bis heute Abend haben wir das Ergebnis der Obduktion. Wenn die nichts an unserem bisherigen Ermittlungsstand verändert, geben wir die Leiche frei. Auf Wunsch der Familie findet dann am Samstag um 11 Uhr die Trauerfeier statt.«

Katharina verabschiedete sich in Gedanken vom gemütlichen Samstag mit Svenja.

Nina Obermann fuhr fort: »Wenn Sie mich am Samstag nicht dort sehen, haben wir den Fall ad acta gelegt. Sie können mich trotzdem gern kontaktieren, falls Sie noch etwas brauchen. Würde mich freuen, Sie persönlich kennenzulernen. Ausgezeichnete journalistische Arbeit ist man heutzutage nicht mehr gewöhnt.«

»Danke, Frau Obermann.« Wieder konnte Katharina nicht glauben, wie bekannt sie durch die Medell-Geschichte geworden war. Fans bei der Polizei zu haben, konnte jedenfalls nicht schaden. »Eine Frage hätte ich noch. Wer ist der Freund, der Ihnen den Hinweis auf die Scheune gegeben hat?«

»Das darf ich Ihnen leider wirklich nicht sagen, verstehen Sie sicher, Frau Langenfels. Ich kann ihn fragen, ob ich seine Kontaktdaten rausgeben darf. Rufen Sie mich einfach nach der Beerdigung noch mal an, falls wir uns nicht sehen. Ich muss, Servus, Frau Langenfels.«

Katharina legte mit dem guten Gefühl auf, dass sie mit Frau Obermann eine verlässliche Ansprechpartnerin hatte.

Weniger gute Gefühle holten sie sofort bei dem Gedanken an das ein, was sie als Nächstes vor sich hatte. Ihr Alter Ego tauchte in ihrem Kopf auf und meckerte oberlehrerinnenhaft: »Du bist Mutter, Katharina Langenfels, vergessen? Du bist nicht die Zwischenstation in Svenjas Leben, wo sie übernachtet und morgens ein hektisches Müsli zusammengerührt bekommt. Wie stellst du dir das vor? Findest du, dass du eine gute Mutter bist?«

Katharina nahm trotzig den Hörer in die Hand, fand, dass sie einen guten Plan hatte, und wählte Olivers Nummer.

»Hallo, wie geht’s?«

»Zu meinem Druck im Kopf kommen noch Schmerzen im Analbereich. Wenn ich morgens auf der Toilette bin, kannst du dir überhaupt nicht vorstellen, wie das …«

»Äh, Oliver, bitte keine Details …«

»Mein Gott, bist du empfindlich, jeder zweite Deutsche hat Hämorrhoiden, da wird man doch drüber reden dürfen. Wobei ich das in meinem Fall gerne checken lassen möchte, es fühlt sich nicht harmlos an. Ich habe morgen sowieso in der Uniklinik den Kernspintermin wegen meiner Nebenhöhlen. Meinst du, die könnten bei der Gelegenheit gleich untenrum auch nachschauen?«

Katharina versuchte, ruhig zu bleiben, sonst konnte sie ihren geplanten Vorstoß vergessen. »Nein, Oliver, ich vermute, das wird nicht gehen. Um den Darm anzuschauen, macht man eine Darmspiegelung, keine Kernspintomografie. Aber ehrlich gesagt, wegen Hämorrhoiden, ich weiß nicht, überleg’s dir vielleicht noch mal. Als Privatpatient kriegst du schnell eine, wenn du es wirklich willst.«

»Ich denke drüber nach. Nächste Woche geht es nämlich nicht, da bin ich montags beim Hautkrebsscreening, Mittwoch beim Osteopathen und irgendwann muss ich mich um meine Klienten kümmern.«

»Klar, Oliver, verstehe ich. Sag mal, was würdest du von einem richtig schönen Ausflug am Samstag halten? Svenja, du und ich? Es ist ewig her, dass wir das zuletzt gemacht haben. Vorschlag: Wir fahren mit meinem Auto an den Chiemsee, Fraueninsel fände ich zum Beispiel toll. Wir gehen baden, lecker essen und abends zurück. Hast du Lust?«

»Hm, gute Idee, Chiemsee, Dampferfahrt auf die Fraueninsel, Schweinsbraten im Biergarten, danach Apfelstrudel …«

Katharinas Plan schien aufzugehen. Frauenchiemsee war Olivers zweite Heimat. Vielleicht würden sie ihm irgendwann ein ambulantes OP-Zentrum dort einrichten, dachte sie und sagte: »Spitze, ich freu mich.«

»Katharina?«

»Ja?« Katharina versuchte unbedarft und entspannt zu klingen, voller Vorfreude auf den samstäglichen Ausflug.

»Wie lange kennen wir uns?«

»Unser Kennenlerntag war der 15. September, erster Schultag Grundschule. Also vor Ewigkeiten. Du mit deiner weiß-blau rautierten Schultüte neben mir in der Bank, wie könnte ich es vergessen.«

Kein Kichern am anderen Ende der Leitung, stattdessen: »Findest du nicht, dass es an der Zeit wäre, mir gleich reinen Wein einzuschenken, wenn ich auf Svenja aufpassen soll?«

Katharina spürte, wie sie rot wurde. Ertappt. Er hatte recht. »Weißt du, du musst es mir überhaupt nicht schmackhaft machen, mit Svenja Zeit zu verbringen, weil ich sie liebe wie meine Tochter. Und ich helfe dir auch gerne. Sei in Zukunft einfach ehrlich.«

Oliver sprach so ernst, dass sich in Katharinas Hals ein riesiger Kloß bildete. »Oliver, es tut mir leid. Das ist lieb von dir. Woher weißt du …«

»Dass du auf Adelhofers Beerdigung musst? Das habe ich mir gedacht. Richtig getippt?«

»Ja«, kam es kleinlaut von Katharina.

»Na, wunderbar. Wir fahren zu dritt an den Chiemsee, du gehst zwischendrin jemanden unter die Erde bringen. Solange ich nicht mit muss, alles gut. Vielleicht bin ich sowieso der Nächste, zu dessen Beerdigung du gehst. Während wir telefonieren, habe ich einen Druck in der Brustgegend.«

»Olli, wann warst du im Fitnessstudio diese Woche?«

»Vorgestern.«

»Und: Seilzug? Mit mehr Gewicht, als dir guttut?«

»Hm, sonst verliere ich kein Gramm Fett.« Jetzt war er der Kleinlaute.

»Du hast Muskelkater, Oliver Arends, nicht die Vorboten eines Herzinfarkts.«

Erleichterung am anderen Ende: »Stimmt, du hast recht – Besuch beim Kardiologen gespart. Sofern die Untersuchungsergebnisse morgen mich nicht zu einer sofortigen OP zwingen, könnt ihr mich am Samstag um 9 Uhr abholen. Ich muss auflegen. Meine neue Klientin wartet.«

»Danke, Oliver.« Katharina schmatzte einen Kuss durch den Hörer und legte lächelnd auf. Vor einiger Zeit hatte Oliver einen Freispruch für einen jungen Mann aus dem Rockermilieu erwirkt. Dessen Kumpels wollten ihm einen Mord anhängen, den sie in Wahrheit gemeinschaftlich selbst begangen hatten. Seitdem wurde Oliver von Anfragen aus dem »anderen« Milieu Münchens regelrecht überschüttet. Aktuell verteidigte er eine junge Prostituierte, die ihrem Kunden den Penis abgeschnitten hatte – weil er sie vorher mehrfach brutal geschlagen und misshandelt hatte. Bei der letzten Attacke war sie vorbereitet und im Besitz eines Messers gewesen.

Vielleicht kamen daher Olivers hypochondrische Schübe, überlegte Katharina. Bisher war zwar nichts passiert, aber die Gegenseite seiner Klienten verhielt sich vermutlich wenig zimperlich. Andererseits war Oliver schon als Kind ängstlich gewesen, in seinem Job dagegen extrem cool.

Darüber musste sie irgendwann in Ruhe nachdenken. Jetzt war Adelhofer dran. Katharina verbrachte den restlichen Tag damit, wie mit RG besprochen, den ersten Artikel über Adelhofer für die morgige Ausgabe von »Fakten« zu schreiben. Hauptinhalt: ihr exklusives Treffen mit dem Fernsehstar nach der Pressekonferenz und das abrupte Ende, weil er zu seinem toten Bruder musste. Damit würde sie die weiblichen Adelhofer-Fans für die Serie interessieren. Exklusive Gespräche mit ihrem Helden würden sie vermutlich auch gern führen. Sie kündigte weitere Hintergrundinformationen für die nächsten Folgen an und hoffte, dass sie die bekommen würde.

956,63 ₽
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Дата выхода на Литрес:
26 мая 2021
Объем:
333 стр. 6 иллюстраций
ISBN:
9783839267028
Издатель:
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