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Kapitel 1: Die Anfänge

Geschichtsschreibung ist immer eine Konstruktion, den Umständen der Zeit verhaftet, abhängig von der Interessenlage der Historiker und von ihrer gesellschaftspolitischen Haltung. Eine feministisch orientierte Forscherin wie Angela Davis fixierte sich jüngst auf städtische Sängerinnen wie Bessie Smith, Ma Rainey und Billie Holiday und stellte sie in ihrem Buch Blues Legacies and Black Feminism (1998) als Protagonistinnen im Kampf gegen das weiße wie das schwarze Patriarchat dar. Ein liberaler Patriarch wie John A. Lomax war in seinen Adventures of a Ballade Hunter (1947) an der authentischen Folklore der »Neger«, wie er seine Informanten noch unbefangen nannte, mehr interessiert als an deren Vorstrafen und sonstigen Lebensumständen, die scheinbar offen und unbeschwert ausgelebte Sexualität einmal ausgenommen. Man muss beide Positionen zusammen sehen, beide Bücher – und noch ein paar andere – gelesen haben, bei beiden Autoren vom ideologischen Gehalt weitgehend absehen, um vielleicht einen halbwegs realistischen Eindruck von der Lebenswirklichkeit der Bluessänger zu erhalten. Recherche vor Ort hilft heutzutage nicht mehr viel. Der Blues ist in den Südstaaten zu einem touristischen Spektakel geworden, der zwar die schwache Ökonomie der kleinen und mittleren Deltastädte leidlich am Laufen hält, dies aber um den Preis einer musealen Nostalgie und eines Purismus der reinen Blueslehre, der erst von einer gerade nachwachsenden, mit dem Blues erfreulich respektlos experimentierenden Jugend überwunden werden wird.

Die beliebte Quizfrage nach dem historisch ersten Bluessong ist sinnlos. Von ihm existiert nämlich garantiert kein Tondokument. Die Frage nach der ersten Bluesaufnahme lässt sich hingegen stellen und irgendwann wohl auch beantworten. Sie hat aber schon im viel späteren Fall Doo Wop wenig gebracht: Der voreiligen Behauptung von Greil Marcus, es habe sich um »It's Too Soon to Know«, eine Aufnahme der Orioles gehandelt, wurde inzwischen oft und kompetent widersprochen, es wurden andere Kandidaten zuhauf ins Spiel gebracht, der letzte, allgemein einsichtige Beweis für ein Primat fehlt immer noch. Ganz ähnlich ist die Lage beim Blues. Kein seriöser Forscher wird sich auch nur auf ein genaues Datum seiner Entstehung festlegen wollen.

Immer weniger freilich ist man geneigt, die Fieldholler und Worksongs, der schwarzen Plantagensklaven im späten Achtzehnten und frühen Neunzehnten Jahrhundert als direkte Vorläufer des »echten« Blues darzustellen; sie gelten inzwischen als eigenständige Genres, die sich davor oder parallel dazu entwickelt haben. Immer fragwürdiger wird zudem die Ableitung aus einer einzigen Ursache, auch nicht aus einer nicht mehr gottergebenen, heidnisch-afrikanischen Widerstandshaltung der Unterdrückten, derenthalben man inzwischen gerne wieder synkretistisch den afrikanischen Bösewicht Légba statt des pferdefüßigen west-östlichen Teufels an der mythischen Kreuzung auftauchen lässt. Letztlich auch nicht haltbar ist eine Konzeption des Blues als Antigospelmesse, quasi als heidnischer Gegenpol schwarzen Christenglaubens, obwohl es für diese Interpretation immerhin einige Zeugnisse aus der schwarzen Mittel- und Unterschicht gibt. Die freilich entlarven sich bei genauerem Hinsehen als stinknormale Vorurteile, wie sie eben auch brave schwarze Bürger gegenüber dem Sittenverfall der Zeit hatten. Hält man sich an die wenigen Fakten, liest sich eine kurzgefasste Geschichte der schwarzen amerikanischen Musik etwa so:

Anfang des siebzehnten Jahrhunderts wurden die ersten schwarzen Sklaven nach Virginia verschifft. Unter zunehmend unmenschlichen Bedingungen entwickelte sich eine rigide Sklavenhalterökonomie in den südöstlichen Staaten Nordamerikas. Musik und Tanz waren ein in den meisten Fällen geduldetes Ventil, das zudem die gewünschte Reproduktion von Nachwuchs förderte. Zwar war in den nördlichen Staaten die Sklaverei schon 1807 offiziell abgeschafft worden, doch die Südstaaten hielten an ihr fest. 1831 kam es zum ersten Sklavenaufstand unter Nat Turner. 1843 fand die erste öffentliche Minstrelshow in Virginia statt. Minstrelshows waren eine Art derb-komischer Revue mit stark formalisierten Rollen, in der die Schwarzen meist von angemalten weißen Schauspielern dargestellt wurden. Aus den Minstrelshows stammten auch viele der spöttischen und abschätzigen Bezeichnungen für Schwarze wie Jim Crow – geschrieben 1828 als Jump Jim Crow von einem Schauspieler namens Rice, der Name wurde später Synonym für Rassenhass und Segregation – oder Pickaninny, Niggah, Abraham Lincum, Coon usw. Neben den Virginia Minstrels oder den Ethiopian Serenaders waren es vor allem die Christy Minstrels, die sich auch in England anhaltender Beliebtheit erfreuten. 1852 leitete Harriet Beecher-Stowes sentimentaler Roman Uncle Tom's Cabin eine Bewusstseinsveränderung in bürgerlichen Kreisen zugunsten der Schwarzen ein. Es bedurfte aber des Bürgerkriegs von 1861 bis 1865, bis von den siegreichen Nordstaatlern die Sklaverei offiziell abgeschafft wurde. Gleich im Jahr darauf wurde der Ku-Klux-Klan, die Organisation der unverbesserlichen Rassisten, gegründet, allerdings auch der erste weltberühmte schwarze Chor, die Fisk Jubilee Singers, dessen akademisch korrekter Gospelgesang ein etwas sehr keimfreies Bild schwarzamerikanischer Religiosität unter Auslassung jeglicher Ekstase vermittelte.

Über eine Tatsache kann es keine Diskussion geben: die Spirituals sind älter als die Blues. Schon 1867 erschien eine erste Sammlung in Buchform, betitelt: Slave Songs of the United States. 1890 stieg Columbia Records ins Geschäft ein, später verantwortlich für viele maßgebende Bluesaufnahmen. Aus dieser Zeit datieren auch die ersten schriftlichen Aufzeichnungen bluesähnlicher Songtexte, allerdings ohne Hinweise auf die Gesangsphrasierung oder die begleitende Musik.

1892 verwüstete erstmals der gefürchtete Baumwollschädling Boll-Weevil die Felder von Mexiko bis zum Mississippidelta. 1898 kam Hawaii zu den Vereinigten Staaten. Es brach eine Welle der Musikbegeisterung für die hawaiianischen Stahlsaitenzauberer aus. Die Steel-Guitar, 1889 erfunden, wurde von Musikern wie Joseph Kekuku meisterhaft traktiert. Der Anekdote nach soll er die Slide-Technik schon 1884 als junger Mann auf der Kamehameha Boys School erfunden haben, als ihm der Kamm aus dem Hemd und auf die Gitarre fiel. Es ist ziemlich wahrscheinlich, dass die Slide-Technik auf diesem Weg in die Countrymusik und von da aus in den Blues gelangte. Ob es eine Sonderentwicklung im angeblich von äußeren Einflüssen abgeschnittenen Mississippidelta gegeben hat, wo man auf einsaitigen Instrumenten wie dem Diddley-Bow slidete, ist auch nach neuesten Untersuchungen, etwa von Gerhard Kubik, nicht sicher, wird aber Musikwissenschaftler und Ethnologen noch lange beschäftigen.

1899 kam mit dem Ragtime Scott Joplins die nächste Popwelle. Drei Jahre später entstanden Aufnahmen einer schwarzen Gesangsgruppe für die Firma Victor. Sie nannte sich The Dinwiddie Colored Quartet.

Schon lange vor der Jahrhundertwende, ab 1877, hatte in den Südstaaten, wo immerhin drei Viertel der schwarzen Bevölkerung lebte, der Prozess der Rediskriminierung begonnen und war durch die juristische Formel »separate but equal« (getrennt aber gleichgestellt) abgedeckt. Sie wurde unter dem Deckmantel des föderalen Systems – und ohne, dass der ohnehin desinteressiert gewordenen Norden eingegriffen hätte – so rabiat ausgelegt, dass sich in manchen Gegenden die Verhältnisse der Sklavenzeit in leicht modernisierter Form faktisch neu etablierten. Schwarze lebten meist als sogenannte Sharecroppers in halbfeudaler Abhängigkeit. Von dem Ertrag des gepachteten Landes durften sie gerade das Existenzminimum für sich behalten und waren ansonsten der paternalistischen Willkür der weißen Herren bis hin zu sexueller Gewalt und Lynchjustiz schutzlos ausgeliefert. Kein Wunder, dass sich unter diesen Verhältnissen der Blues machtvoll entwickelte.

Musikalische Talente sammelten sich nun in den ersten rein schwarzen Minstrel Shows wie den Georgia Minstrels, den Young Colored Minstrels oder den Mahara Minstrels, denen auch der junge Handy angehörte und deren Chef er später wurde.

1912 wurde zum Schlüsseljahr für den Blues. Innerhalb kurzer Zeit kamen drei gedruckte Bluestitel auf den Markt: »Memphis Blues« von W.C. Handy, »Nigger Blues« von Leroy White sowie »Dallas Blues« von Lloyd Garret & Hart A. Wand. Spitzfindige Tüftler wie zuletzt Francis Davis führen gelegentlich an, dass im Jahr davor schon der auch heute noch geläufige Hit »Oh You Beautiful Doll« erschienen war, dessen Anfang im zwölftaktigen Bluesschema steht. Wie dem auch sei, jedenfalls lösten der »Memphis Blues«, der eigentlich »Mr. Crump« hieß und anlässlich dessen Wahlkampfs um das Bürgermeisteramt in Memphis geschrieben worden war, sowie W.C. Handys »St. Louis Blues« von 1914 eine Tanzwutwelle sowohl in den Großstädten wie in den ländlichen Gebieten aus, die auch 1920 noch anhielt, als der »Crazy Blues« von Mamie Smith erschien. Es war dies übrigens das Jahr, in dem die Frauen das Wahlrecht erhielten. Die Musikindustrie reagierte auf den Erfolg von »Crazy Blues« mit der Einführung der sogenannten Race Records, Schallplatten, die speziell für die schwarze Bevölkerung produziert wurden. Die Erfindung des aufziehbaren Phonographen ermöglichte das Abspielen der Victrola-Platten auch in ländlichen Gebieten ohne Stromversorgung. Schwieriger waren die Tonaufnahmen selbst. Obwohl bald mehrere Verfahren zur Verfügung standen, setzte sich auch im heißen Süden das Mitschneiden auf Wachsplatten durch. Diese mussten dann in Kühlschränken gelagert werden. Viele Aufnahmen wurden durch die Hitze beschädigt. Man ging daher dazu über, alle wichtigen Stücke zweimal einspielen zu lassen. Ansonsten verfuhr die Musikindustrie wie auch heute noch: wahllos. Wer fünf eigene Blueskompositionen vorweisen oder zumindest behaupten konnte, wurde auf Verdacht aufgenommen. War es kein Hit, musste der Sänger wieder auf die Baumwollfelder zurück, denen er zu entkommen gehofft hatte.

Kein Wunder, dass Erfolgsmuster vielfach kopiert und gerade dadurch entwertet wurden. Papa Charlie Jackson hatte es 1924 noch gut. Sein »Lawdy Lawdy Blues« war einer der Ersten, die den Weg aufs Wachs fanden. Ebenfalls 1924 nahm Ed Andrews in Atlanta auf seiner zwölfsaitigen Gitarre seinen stilistisch einwandfreien »Barrelhouse Blues« auf. Zwei Jahre später folgte Blind Lemon Jeffersons »That Black Snake Moan«. Und danach war kein Halten mehr.

Bluesgeschichte, soweit wir sie kennen, ist vor allem die Geschichte der erhaltenen Aufnahmen. Sie sind die primären Quellen. Denn selbst hinter dem schlimmsten Rillenrauschen der einzigen noch vorhandenen Schellackplatte wird eine Person hörbar, die in ihrer Zeit gelebt und eben dieses Dokument produziert hat.

Die Frage der Authentizität ist damit freilich noch lange nicht beantwortet. Fast alle frühen Tondokumente waren bereits kommerziell orientierte, auf Verkauf an ein modebewusstes Publikum getrimmte Produkte. Und wie wir Woche für Woche aus den Hitparaden schmerzlich erfahren, ist es nicht immer die beste Musik, die es ganz nach oben schafft. Einen Überblick ergibt nur das Hören möglichst vieler Aufnahmen. Das ist aber erst seit ein paar Jahren wieder allgemein praktikabel geworden, seit im Zuge des CD-Booms viele Firmen ihre Archive durchforsteten und Labels wie Yazoo und Document Records sorgfältig zusammengestellte Sampler oder gar das Gesamtwerk vieler Interpreten durch digitale Bearbeitung in sehr akzeptabler Tonqualität neu hörbar machten.

Das nicht genug zu lobende Vorhaben von Document Records, einer Initiative des österreichischen Sammlers Johnny Parth, ist es gar, alle jemals erschienenen Bluesaufnahmen digital zu konservieren. Hunderte von Alben mit teilweise aberwitziger Musik liegen bereits vor und harren der Analyse durch die Fachleute, aber auch der Entdeckerfreude der Liebhaber, die über das Delta und Chicago hinaus zu hören in der Lage sind. Die Materiallage ist somit besser denn je, zumal endlich auch wieder Field-Recordings veröffentlicht werden, also Aufnahmen, die vor Ort in nichtkommerziellen Zusammenhängen entstanden.

Die Library of Congress etwa hatte seit den Dreißiger Jahren John A. Lomax beauftragt, mit Aufnahmegeräten in den Süden zu fahren und dort in Gefängnissen und in den kleinen Ortschaften Aufnahmen zu machen, sein Sohn Alan setzte dieses Praxis in den Fünfziger Jahren erfolgreich fort. Vater und Sohn Lomax entdeckten Bluesgrößen wie Lead Belly oder Fred McDowell und edierten reihenweise klassische Aufnahmen, die auch heute noch unverzichtbar sind. Serien wie Sounds of the South oder Southern Journey sollten mindestens ebenso freudig rezipiert werden wie die spektakuläre und gern überbewertete Anthology of American Folk Music von Harry Smith, die den Folkies der Sechziger Jahre einen eher beliebigen Hauch von Ahnung vermittelte, welche Schätze amerikanischer Musik es noch zu heben galt. Im Großen und Ganzen beruhigend ist die Beobachtung, dass sich die folkloristischen Bluesaufnahmen der Amateure und Nebenberufssänger stilistisch doch nicht allzu sehr von denen der – allerdings meist viel elaborierter und trickreicher spielenden – Professionellen unterscheiden. So ist es auch nicht nötig, heutzutage einen Scheinwiderspruch zwischen beiden Phänomenen zu installieren, wie es noch die Folkpuristen der Sechziger gerne taten. Mit dem Ergebnis übrigens, dass seinerzeit einige Sänger eine recht profitable Mimikry entwickelten. So trat das Schlitzohr Lightnin' Hopkins im Rollkragenpullover und mit Zupfgitarre in einen Hörsaal, um sich als Folknik mit Sonnenbrille abfilmen zu lassen. Zu sehen auf der DVD 502 von Yazoo.

Auch Big Bill Broonzy, der damals schon eine heftige Rhythm-&-Blues-Phase hinter sich hatte, stellte seine elektrische Gitarre hin, verbreitete die Behauptung, er sei der letzte echte Bluesmann, der die letzten vierzig Jahre auf den Baumwollfeldern verbracht habe, und wandelte sich stracks zum akustischen Edelzupfer. Sein Kollege Josh White hatte schon vorher mit Witz und Geschmack den Folkie gegeben und auch Brownie McGhee und Sonny Terry kamen aus ihren Theaterklamotten, die sie bei den umjubelten Tennessee-Williams-Aufführungen von Cat on a Hot Tin Roof am Broadway trugen, lebenslang nicht mehr heraus. Sogar der bekennende Elektriker John Lee Hooker lieferte ein paar Folkblues-Alben ab, nicht einmal seine schlechtesten. Auch Muddy Waters hatte noch 1960 ein Folksinger-Album aufgenommen, obwohl er längst ein ausgefuchster Elektrogitarrist war. Deswegen bleibt festzuhalten, dass auch im Blues eine gewisse Skepsis allem gegenüber geboten ist, was sich als »urig«, »ehrlich« und »bodenständig« verkauft.

Ein weiteres ideologisches Konstrukt dürfte übrigens auch die in den Sechziger Jahren so beliebte Bluessession gewesen sein. Bei weitem nicht jeder, der da im Studio oder auf offener Bühnen auf die anderen Anwesenden losgelassen wurde, mochte wirklich mit ihnen den Blues spielen. Wer Ohren hat, der hört das selbst noch in den Aufnahmen. Die Geschichte der medialen Inszenierung des Blues von den in deutschen Fernsehstudios nachgebauten Gefängnisplantagen bis zu Brother Where Art Thou ist ebenfalls noch nicht geschrieben.

Die Geschichte des Blues ist also auch die Geschichte seiner Ideologie und seiner Ökonomie, der Profite und der Schwindeleien, mit denen Blueserfinder skrupellos um ihre Urheberrechte betrogen wurden und derer, die die Unwissenheit der Musiker schamlos ausbeuteten. Eine derartige Wirtschafts- und Kriminalgeschichte des Blues steht ebenfalls noch aus, ebenso eine fundierte Rezeptions- und Sozialgeschichte. Ansätze dazu finden sich am ehesten in den Büchern von Robert Springer Authentic Blues (1985) und Fonctions sociales du blues (1999).

Seit der epochemachenden Studie Country Blues von Samuel B. Charters aus dem Jahr 1959 arbeiten sich die Autoren vor allem am Material und an den Biographien der Musiker ab, wobei sich das Interesse der Forschungen inzwischen auf immer kleinteiligere Räume und vom Delta weg auch in alle anderen Regionen verlagert hat, von Georgia bis Kalifornien, vom Piedmont bis nach Texas. Mit Akribie und manchmal detektivischen Mitteln jagten Bluesermittler wie der Journalist Gayle Dean Wardlow in den letzten Jahrzehnten den wenigen, versteckten Lebenszeichen obskurer Bluesleute nach oder fanden sensationelle Dokumente, wie die Sterbeurkunde von Robert Johnson. Sein Buch Chasin' that Devil Music berichtete 1998 von der Jagd nach Bluesphantomen wie den beiden Willie Browns und wie hinter dem Phantasienamen King Solomon Hill durch intensive Recherche und eine publizistische Kontroverse schließlich ein wirklicher Mensch greifbar wurde, nämlich der Sänger und Gitarrist Joe Holmes (ca. 1897 – ca. 1949). Die Bluesgeschichte seiner Interpreten und Aufnahmen ist ein Prozess, der noch lange nicht beendet ist und der Mitarbeit Vieler bedarf.

Bluesgeschichte ist aber zudem noch die Geschichte der Erzählungen seiner Protagonisten über sich selbst und ihre Kollegen. Der vergleichsweise sehr uneitlen und offenen Autobiographie des Komponisten W.C. Handy, Father of the Blues kommt dabei immer noch eine Schlüsselstellung zu. Zumal er – vom etwas angeberischen Titel einmal abgesehen – ehrlicherweise nicht die Urheberschaft am Blues selbst beanspruchte. Er beschrieb vielmehr in einer oft zitierten Passage seines Buches, wie er ihn zum ersten Mal hörte:

»Eines Nachts dann in Tutwiler, als ich am Bahnhof auf einen Zug wartete, der neun Stunden Verspätung hatte und eingenickt war, da packte mich das Leben auf einmal an der Schulter und rüttelte mich auf. Ein dürrer, schlaksiger Schwarzer hatte, während ich duselte, angefangen, neben mir Gitarre zu spielen. Sein Anzug bestand aus Fetzen; seine Zehen schauten aus den Schuhen heraus. Sein Gesicht spiegelte etwas von den traurigen Verhältnissen der Zeitläufte wider. Beim Spielen drückte er ein Messer an die Saiten der Gitarre, eine Spielweise, die von hawaiianischen Gitarristen populär gemacht worden war, die ein Stück Stahl benutzten. Der Effekt war unvergesslich. Auch sein Song berührte mich unmittelbar:

Goin' where the Southern cross the Dog,

Goin' where the Southern cross the Dog,

Goin' where the Southern cross the Dog. 9

Der Sänger wiederholte die Zeile dreimal, wobei er auf der Gitarre die abgedrehteste Begleitung spielte, die ich je gehört hatte.«

Seltsamerweise wird der Hinweis auf Hawaii nicht immer zitiert oder übersetzt, so etwa in der deutschen Ausgabe von Giles Oakleys Bluesbuch. Sollte da etwa die Fiktion der Puristen aufrechterhalten werden, ein einsames Genie am Mississippi habe in einer trunkenen Nacht eine Flasche Whisky zerschmissen und mit dem Flaschenhals herumgespielt? Wie immer erweist es sich als nützlich, die Quellen selbst aufzusuchen. Denn die Story, die meist hier abbricht, war mitnichten zu Ende:

»Die Melodie blieb mir unvergesslich. Als der Sänger eine Pause einlegte, lehnte ich mich vor und fragte ihn, was der Text bedeutete. Er rollte mit den Augen, zeigte Anzeichen eines milden Amüsements. Vielleicht hätte ich es wissen müssen, aber er erklärte es mir trotzdem. Bei Moorhead trafen die Züge nach dem Osten und dem Westen aufeinander und kreuzten viermal täglich die nach dem Norden und Süden. Dieser Typ ging dorthin, wo der Southern den Dog kreuzte und es war ihm egal, wer das wusste. Er sang einfach über Moorhead, während er wartete. Das war nicht ungewöhnlich. Schwarze in den Südstaaten sangen über alles. Züge, Dampfer, Dampfpfeifen, Dampfhämmer, Flittchen, üble Bosse, widerspenstige Mulis – alle werden in ihren Songs thematisiert. Sie begleiten sich auf allem, was einen musikalischen Sound oder einen Rhythmus hervorbringen kann, egal ob Mundharmonika oder Waschbrett. Auf diese Art und mit diesem Material erzeugten sie die Stimmung für das, was wir heute Blues nennen.«

Handy selbst hatte sich schon als Jugendlicher einschlägig betätigt, woran er sich nun erinnerte: »Meine eigene Sympathie für diese Dinge fing damals in Florence an, als wir uns nicht zu schade waren, unter dem Fenster unserer Angebeteten Serenaden zu singen. Wir sangen, bis wir einen Kuss im Finstern ergattert hatten oder ein Glas voll guten, selbst angebauten Weins. Im Delta aber sah ich die Songs auf einmal mit den Augen eines heranreifenden Komponisten.« Handy war aber nicht bloß ein Musiker, der komponieren wollte, er war auch ein Geschäftsmann. Zwar war er nicht clever genug, das Hitpotential seines »Memphis Blues« sofort zu erkennen, sondern er verscherbelte ihn für ein paar Dollar, doch später kaufte er das Copyright wieder zurück. Und was er trotz seiner Ambitionen als seriöser Komponist sofort bemerkte, war die Anziehungskraft, die die einfache ländliche Musik auf die dortige Bevölkerung ausübte. Auch hier gab es ein eindringliches Schlüsselerlebnis:

»Ich beeile mich, zu gestehen, dass ich mich den niederen Formen der Folkmusik nur zögerlich zuwandte. Ich ging mit einer gewissen Furcht und wackligen Knien an sie heran. Wie viele andere Musiker, die ihr zunächst die kalte Schulter zeigten, hob ich zunächst die Augenbrauen und bezweifelte, ob sie das Richtige sei. … Aber wir leben, um zu lernen. Meine eigene Erleuchtung geschah in Cleveland, Mississippi. Ich leitete das Orchester für eine Tanzveranstaltung, als jemand eine seltsame Aufforderung hochschickte. Ob wir so etwas wie ›unsere Volksmusik‹ spielen könnten, stand auf dem Zettel. Das verblüffte mich. Die Männer der Gruppe konnten nicht ›simulieren‹ und ›abliefern‹ wie Minstrels. Sie waren alle gestandene Notisten. Also spielten wir für unseren anonymen Fan eine alte Südstaatenmelodie, eine, die eher sophisticated als volksnah war. Ein paar Minuten später kam eine weitere Anfrage. Ob wir etwas dagegen hätten, wenn eine schwarze Gruppe hier aus dem Ort ein paar Tänze spielen würde? Etwas dagegen haben! Das war lustig. Welcher Bläser würde schon etwas gegen eine bezahlte Schnauf- und Rauchpause haben?

Wir verdrückten uns elegant, als die Neuen kamen. Sie wurden angeführt von einem langbeinigen Schokoladenbuben und ihre Band bestand aus drei verschrammten Gitarren, einer Mandoline und einem ramponierten Bass. Die Musik, die sie machten, entsprach ziemlich genau ihrem Aussehen. Sie spielten einen dieser ewigen Zieher, die keinen klaren Anfang und kein Ende zu haben scheinen. Das Gezupfe produzierte eine verstörende Monotonie, aber es ging weiter und immer weiter, eine Art von Musik, die lang mit Zuckerrohrplantagen und Feldarbeitercamps assoziiert wurde.

Bum-Bum-Bum – ihre Füße stampften auf dem Boden. Ihre Augen rollten. Ihre Schultern wackelten. Und die ganze Zeit ging dieser kleine penetrante Zieher weiter. Er war nicht echt nervig oder unangenehm. Vielleicht ist »bedrückend« das richtige Wort dafür, aber ich fing an mich zu fragen, ob außer Kleinstadtsaufköpfen und ihrem Anhang sonst noch jemand darauf stünde. Die Antwort ließ nicht lang auf sich warten. Es regnete Silberdollars. Sie fielen auf den Boden zwischen die seltsam stampfenden Füße. Die Tänzer drehten durch. Dollars, Viertel-, Halbdollarmünzen – der Regen wurde heftiger und dauerte so lang, dass ich meinen Hals reckte, um besser zu sehen. Vor den Jungs dort lag mehr Geld, als meine neun Musiker für das ganze Engagement bekamen.

Da erkannte ich die Schönheit primitiver Musik. Sie hatten den Stoff, den die Leute wollten. Er traf den Kern. Ihre Musik bedurfte der Verfeinerung, aber sie enthielt das Wesentliche. Die Leute würden Geld dafür ausgeben. Die alte konventionelle Musik war in Ordnung und gut und hatte ihren Platz, aber es war keine Tugend, blind zu sein, wenn man gute Augen hatte. In dieser Nacht wurde ein Komponist geboren, ein amerikanischer Komponist.«

Soweit und so ehrlich, was seine Motive betraf, W. C. Handy. Und wenn auch seine Kompositionen streng genommen oft nur Bluesmelodien oder Bluesmotive verwendeten, halfen sie doch mit, das zwölftaktige Bluesschema und die Textformel AAB zu etablieren und zum musikalischen Gemeingut zu machen. Zudem dürfte er den Begriff Blues, der vor 1900 kaum allgemein gebräuchlich gewesen sein wird, fest in der amerikanischen Sprache verankert haben. Er war somit vielleicht, um ein angemessen schräges Bild zu verwenden, eher die Hebamme des Blues als der Vater, aber auch nicht weniger.

Möglicherweise gibt es auch eine Mutter des Blues. Obwohl sie diesen Titel nie für sich reklamierte, behauptete Gertrude Pritchett, besser bekannt als Ma Rainey (1886 – 1939), sie habe schon um 1902 in einem kleinen Ort im Staat Mississippi, wo sie mit einer Zeltshow auf Tournee war, eine junge Frau den Blues singen hören. Diese sei zum Zeltplatz gekommen und habe ein Lied gesungen, in dem sie den Verlust eines Liebhabers beklagte. Der Song war so seltsam und eindringlich, dass er viel Aufmerksamkeit erregte. Ma Rainey interessierte sich so sehr dafür, dass sie ihn der jungen Frau ablernte und verwendete den Song in ihrem eigenen Programm als Zugabe. Angeblich wurde sie oft gefragt, was das für ein Lied sei und will, einer Eingebung folgend, eines Tages gesagt haben: »Das ist ein Blues.«

Quelle dieser Anekdote ist John Works Buch American Negro Songs, das freilich erst 1940 erschienen ist.

Während es lange Zeit nicht zuletzt auf Grund der »Erleuchtung« W.C. Handys und des Urteils von Samuel Charters unter Folkloristen praktisch als ausgemacht galt, dass der Blues im Mississippidelta entstanden sei, also in jenem keineswegs an der Mündung gelegenen Gebiet, das westlich vom Mississippi und östlich vom Yazoo-River begrenzt ist, wird auch diese Hypothese inzwischen stark relativiert. Denn wer Handy genau liest, stößt auf die Bemerkung, dass seine Liebe zu dieser Art von Musik bereits ein gutes Jahrzehnt davor angefangen habe, und zwar in seiner Heimatstadt Florence in Alabama, und dass die Art von Musik, die ihm an diesem Abend so gut gefiel, im ganzen Süden gespielt worden sei. Aus Georgia sind ebenfalls sehr frühe Blues bekannt.

Ein weiterer Ort, der auf alle Fälle noch für die Anfänge relevant ist, ist New Orleans. Ohrenzeugen berichteten von Hausmädchen, die seltsame Gesänge sangen, welche sich später als Strophen aus »Alabamy Bound« herausstellten, ein Blues, den insbesondere Lead Belly bekanntmachte, der aber noch im Repertoire früher Beatgruppen der Sechziger Jahre auftauchte. Der genialische Jelly Roll Morton erzählte Alan Lomax seine ureigene Version von den Ursprüngen des Jazz, ein Set von vier CDs gibt leider nicht die gesamte Konversation wieder. Aus seiner Sicht war es eine Klavier spielende kreolische Prostituierte namens Mamie Desdoumes, der zwei Finger der rechten Hand fehlten und die dafür berüchtigt war, von morgens bis abends immer dasselbe Lied zu singen, die ihn »als Erste echt an den Blues verkaufte.«

Morton, selbst Kreole, zettelte allerdings in späteren Jahren einen Streit mit Handy an, wie J. Graves in seinem Buch Könige des Blues (1961) berichtete: »Morton hat gegen Ende seines Lebens, als er schon vollkommen verarmt war, Handy schwer angegriffen und ihm öffentlich vorgeworfen, dass er durch seine Bearbeitungen der alten Folkblues-Melodien ›die Seele des Blues‹ verkauft und geschändet habe. Bei diesem ungerechten Angriff mochte wohl Mortons Ärger darüber mitspielen, dass Handy eine glücklichere Hand als er gehabt hatte, wenn es galt, herrenloses Musikgut unter den Copyrightschutz zu bringen.«

Handy verteidigte sich mit der lakonischen Bemerkung: »Viele Artikel und Bücher sind in der Absicht geschrieben worden, den Entstehungsort des Blues von Memphis nach New Orleans zu verlagern. Leider haben es die New-Orleans-Musiker unterlassen, den Blues vor meiner Zeit aufzuschreiben.«

Wie dem auch sei, als erstes Zentrum des Bluesgeschehens ist und bleibt ohnehin das Mississippidelta bei den meisten Autoren unangefochten. Die schiere Zahl der frühen Bluesmusiker aus dieser Region scheint dafür zu sprechen. Allerdings hat Francis Davis in seinem Buch History of the Blues (1995) eine erfrischend unkonventionelle andere Sicht der Dinge angeboten:

»Und die überwältigende Anzahl von großartigen Bluesleuten aus Mississippi? Sind nicht die Aufnahmen von Charley Patton, Son House und Skip James aus den Zwanziger und Dreißiger Jahren an sich schon Beweis genug für die Überlegenheit, wenn nicht das Primat? Bevor wir ja sagen, müssen wir uns überlegen, in welchem Maß unsere Wahrnehmung der Vergangenheit vom heutigen Geschmack beeinflusst worden ist.«

Davis meint die allgemeine Vorstellung, Blues sei eben nur das, was Musiker wie Robert Johnson, Muddy Waters, Son House, John Lee Hooker oder Howlin' Wolf spielen. Sie alle stammten aus dem Delta, auch wenn sie oft in Chicago arbeiteten. Doch was ist mit den Texanern, was mit den Bluesern aus Georgia mit ihren zwölfsaitigen Gitarren, was mit dem eleganten Ragtime-Blues des Piedmont? Stilrichtungen, die meist nur Fachleuten bekannt sind. Schuld daran sei, meint Davis, vor allem die Veröffentlichungspolitik der Musikindustrie.

»CD-Reissues haben eine unschätzbare Rolle im Bluesrevival der Neunziger Jahre gespielt. Bis dato freilich lag der Schwerpunkt auf dem Deltablues und seinem elektrifizierten Ableger in Chicago, praktisch unter Ausschluss von Georgia, Texas und Kalifornien. In den meisten Fällen sind kommerzielle Aufnahmen die einzigen empirischen Beweise, die wir dafür haben, wie der Blues zu irgendeiner Zeit in einer bestimmten Region geklungen haben mag. Aber vielfach täuschen uns die Aufnahmen. Plattenfirmen tricksen – sie stellen das moderne technische Gegenstück dar zu Légba und Èsù, den afrikanischen Göttern der Kreuzungen, die sich einen Scherz daraus machen, den Unvorsichtigen Streiche zu spielen.«

Das fing laut Davis schon mit Mamie Smiths »Crazy Blues« an, der 1920 erschien und häufig als erster Blues auf Platte apostrophiert wird. Davis widerspricht dem zumindest formal, indem er anmerkt: »Genauer betrachtet, ist ›Crazy Blues‹ eine Synthese aus Blues und schwarzem Vaudeville ... Die Trickserei bestand darin, den Plattenkäufern zuerst die Synthese anzubieten: Countryblues-Sänger wurden in größerer Anzahl erst sechs oder sieben Jahre später aufgenommen und Charley Patton – der als der prototypische Bluesmann gilt – musste bis 1929 warten.«

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