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2. Teil

Pratteln

Pratteln war in früheren Zeiten ein einfaches Bauern- und Winzerdorf, das erkennt man heute noch an den vielen Bauernhäusern und Scheunen im alten Dorfkern. Mit der Entdeckung der unterirdischen Salzvorkommen auf einem Gelände ausserhalb des Dorfes, das den Flurnamen Schweizerhalle trägt (der Wortteil »-halle« stammt von »Halit« her, was »Kristallsalz« bedeutet), wandelte sich das beschauliche Dörflein aber in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts allmählich zum Industrieort. Am Dorfrand begannen sich, angelockt von der industriellen Soleförderung, nach und nach chemische Fabriken mit turmhohen, rauchenden Kaminen und Produktionshallen aneinanderzudrängen.

Zum Gemeindegebiet gehört auch ein Teil des riesigen Rangierbahnhofes Muttenz, auf welchem Güter aus ganz Europa rangiert und verschoben werden. Pratteln liegt als Vorort von Basel direkt an der Bahnlinie, die den Norden Europas mit dem Süden verbindet, der sogenannten Gotthardstrecke. Alle paar Minuten braust entweder ein Schnellzug oder ein endloser Güterzug an der Häuserzeile vorbei, welche die Gleisstrecke säumt.

Im Wohnblock, der entlang dieser Bahnlinie am Bahnhof erbaut wurde, mietete sich 1948 ein junger Zahnarzt mit seiner Frau in der zweiten Etage ein. Man konnte bequem mit einem Lift die zwei Stockwerke hochfahren. Trat man dann aus der altmodischen Liftkabine, bei der zuerst eine quietschende Gittertür beiseitegeschoben werden musste, führte die Tür rechter Hand zur Zahnarztpraxis und links zur Wohnung, welche das junge Paar bezog.

Sicher haben Sie auch schon schmunzeln müssen, wenn Sie von einem Fleischer lasen, der den Namen Metzger trägt, oder von einem Schuster, der Schuhmacher heisst. Nun, so ein Schmunzler war auch meinem Vater beschieden: Der junge Zahnarzt hiess Borer.

Diese Wohnung am Bahnhofplatz in Pratteln war mein erstes Zuhause und dort trat ich als Reto Borer den Start in diese Welt an. Ich kam bei der traditionell verhütungsfreien katholischen Kinderproduktion als Dritter an die Reihe, vor mir waren bereits zwei Brüder eingetroffen und nach mir folgten noch drei Schwestern nach. Wie das schon in den Märchen immer wieder beschrieben wird, wo der erstgeborene Sohn ein verwöhnter Feingeist, der zweite ein eher phlegmatischer Haudrauf und der dritte ein Luftikus und Abenteurer ist, dem niemand viel zutraut und der in die Welt hinausziehen muss, um sein Glück zu suchen, ist dieser am Schluss derjenige, der mit einer tollen Prinzessin im Schlepptau heimkommt, an der meist noch ein ganzes Königreich hängt. Ich war der Luftikus der Familie und als solcher bekam ich zwar keine echte Prinzessin und auch kein Königreich, aber etwas, das für mich ebenso viel bedeutet: die wunderbarste Frau der Welt und ein Publikum, das mir durch dick und dünn die Treue halten würde.

Meine Eltern waren recht unterschiedliche Charaktere. Der Vater, Hugo, war Kaufmannssohn aus dem Bauerndorf Büsserach am Fuss des Passwang. Er war das achte von neun Kindern, von denen aber zwei bald nach der Geburt starben; ein stiller, fein- und eigensinniger Mann, der im Geheimen Gedichte schrieb, die nie jemand zu lesen bekam. Hugo schilderte sein Elternhaus Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts als ziemlich konfus. Da der Abstand von den ältesten zu den jüngsten Geschwistern etwa achtzehn Jahre betrug, wurden die Kleinen eher als Last denn als Freudenquell empfunden und entsprechend vernachlässigt. Die Mutter, Josephine (meine Grossmutter also), von den vielen Schwangerschaften und Geburten ausgelaugt, lag vorwiegend im Bett und gab sich unpässlich. Der Vater, Albin (mein Grossvater), ein vielbegabter und wohlhabender Kaufmann, war selten zu Hause und wenn, dann war er so beschäftigt, dass ihm die Kinderschar hinderlich war. Der Standardsatz, den er zu den jüngeren Söhnen sagte, wenn sie ihm im Weg waren, lautete: »Flieh, Kleiner, flieh.«

Die zwei Jüngsten, Hugo und Iwan, assen allein an einem Katzentischchen und wurden zu keinerlei Einhaltung von Anstands- und Verhaltensregeln angehalten, da sie von niemandem wirklich beachtet wurden. An dem Tischchen »frassen wir beiden Jüngsten wie die Säue«, erzählte mir mein Vater einmal. Später, als er bereits Zahnarzt und mehrfacher Familienvater war, machten wir Kinder uns immer noch lustig darüber, dass seine Krawatten nach dem Essen manchmal aussahen wie Picassobilder.

Es gibt noch ein vergilbtes Foto, auf dem mein Vater als Fünfjähriger mit seinem kleineren Bruder barfuss an der staubigen Hauptstrasse von Büsserach mit Steinen spielt. Das einzige Auto weit und breit besass der Arzt, der in Laufen wohnte, und wenn der, eingehüllt in eine Staubwolke, mit atemraubenden 30 Stundenkilometern vorbeiknatterte, kam das ganze Dorf aus den Häusern gerannt, um das seltene Schauspiel nicht zu verpassen.

Der Patriarch Albin Borer, mein Grossvater, war ein künstlerisch und politisch begabter Mensch, der allerhand Ämter im Kanton und der Gemeinde übernahm. So brachte er es unter anderem zum Kantonsrat und zum Gründer und ersten Dirigenten der Blasmusik Büsserach, einem Orchester, das heute noch unter dem Namen Brass Band Konkordia Büsserach bei Wettbewerben Preise einheimst. Allerdings hatte er finanziell kein so gutes Händchen und fiel nach dem Krieg einem Spekulanten zum Opfer, der ihn dazu brachte, eine beträchtliche Summe in irgendwelche mechanische Beatmungsapparate zu investieren, die sich dann aber bald als überholt und wertlos entpuppten und zu Hunderten auf dem Dachboden verrotteten. Aus diesem und anderen Gründen konnte er seinen Kindern nur noch Schulden vererben, ausser seinem ältesten Sohn, der das ganze Warenlager und das schöne, stattliche Kaufmannshaus bekam. Dafür waren ihm seine Geschwister ein Leben lang gram, was dem Familienfrieden nicht gerade gut bekam.

Mein Vater machte seine Matura im katholischen Kollegium Mariahilf in Schwyz und doktorierte später in Basel als Dr. med. dent. Als mausarmer Student hauste der junge Hugo in einer winzigen Dachmansarde im Kleinbasel, wo seine häufigsten Besucher die Langeweile und die Einsamkeit waren.

Meine Mutter, Anna Eichhorn, war eine bodenständige Innerschweizerin aus Küssnacht am Fuss der Rigi am Vierwaldstättersee. Als junges Mädchen war Anneli ein richtig urwüchsiges »Kind der Berge«, voller Lebensfreude und Energie.

Sie war eine der Zwillingstöchter des schnauzbärtigen Malermeisters Ernst Eichhorn, der in seinen Gesellen- und Wanderjahren durch die ganze Welt gestreift war (es existiert noch ein vergilbtes Foto, das ihn auf einem Kamel sitzend vor den ägyptischen Pyramiden zeigt) und in Hamburg seine Liebe fand. Anneli war aus anderem Holz geschnitzt als der intelligente und verschlossene Hugo. Sie war vielleicht nicht so gebildet wie er, dafür aber lebenslustiger und energiegeladener.

Auch von ihr gibt es einen abgegriffenen Zeitungsausschnitt, der sie als Jugendliche mit wallendem blondem Haar auf einem Heuwagen thronend am Festumzug der »Sennenchilbi« in Küssnacht zeigt, mit dem Untertitel »Schönheit vom Rigi«.

Anneli Eichhorn wurde in eine Zeit und Umgebung geboren, nach der man sich heute wehmütig zurücksehnen möchte. Das idyllische Dörflein Küssnacht am Vierwaldstättersee war nicht nur eine der schönsten Gegenden weltweit, es war auch noch ein richtig heimeliges Dorf, in dem jeder jeden kannte. Die Leute hiessen nicht nur Herr Meyer, sondern das war der »Senn Meyer« oder »s’Alpbode Meyers Wysel«. Der Heinrich, von denen es offenbar einige gab, wurde identifiziert über seinen Vater Josef, der mit Trinkschalen und Melkkesseln handelte, und war somit »s’ Mucheli Seppes Heiri«.

Annelis Kindheit war aber nicht nur glücklich. Sie hatte eine Zwillingsschwester, die mit neun Jahren ums Leben kam. Während eines Festumzugs, bei dem die kleine Liselotte auf einem Heuwagen mitfahren durfte, trat sie auf einen rostigen Nagel und starb darauf innert weniger Wochen an einer Blutvergiftung. Der Schmerz der Mutter Elisabeth war so immens, dass Anneli alles tat, um ihr als gute Tochter das verlorene Kind zu ersetzen. Das war natürlich für die kleine Anneli purer Stress, vor allem weil sie spürte, dass dies trotz allem Aufwand vergebliche Liebesmüh war.

Die Umstände, unter denen Vati aus dem abgelegenen Büsserach in das ferne Küssnacht kam, um die Malerstochter kennen zu lernen, waren eine Geschichte für sich. Hugos ältere Schwester Erna hatte nämlich einen Kaufmann geheiratet, den Alois Meyer, der am Dorfplatz in Küssnacht einen grossen Gemischtwarenladen betrieb, der auch heute noch genau dieselben Waren anbietet wie damals. Als Medizinstudent verbrachte Hugo einen Teil seiner Semesterferien bei seiner Schwester Erna und half ein bisschen im Laden.

Anneli hatte nach der Schulzeit eine Stelle in der Kalender- und Papierfabrik Calendaria in Immensee angetreten. Da fuhr sie täglich mit dem Velo hin.

Eines Tages wurde sie überrascht, als plötzlich ein gutaussehender junger Mann neben ihr herradelte. Sie hatte diesen hübschen Burschen schon öfter gesehen, er arbeitete als Ferienaushilfe in der grossen Handlung am Dorfplatz, und soviel sie in Erfahrung bringen konnte, war er der jüngere Bruder der Frau Erna Meyer, der dieser Laden zusammen mit ihrem Mann Alois gehörte. Sie hatte bereits bemerkt, dass er sie intensiv fixierte, wenn sie im Laden war, aber der Anstand gebot, dass sie ihn nie anblickte und so tat, als würde sie ihn gar nicht sehen. Dieser junge Mann stellte sich nun also als Hugo Borer, Medizinstudent aus Büsserach, vor.

Es kam, wie es kommen musste, die beiden verliebten sich ineinander und heirateten am 9. Februar 1948 in Luzern. Hugo schloss sein Studium als Zahnarzt ab und eröffnete eine Praxis an der Bahnhofstrasse 1 in Pratteln. In den folgenden Jahren schenkte Anneli sechs Kindern das Leben und war mit Leib und Seele Mutter.

Annelis Mutter Elisabeth (meine Grossmutter also), eine geborene Struwe aus der Hansestadt Hamburg, war im zarten Alter von 17 Jahren von einer Krankheit befallen worden, in deren Folge Lähmungserscheinungen am ganzen Körper auftraten. Das arme Mädchen wurde kuriosesten Heilprozeduren ausgesetzt: Sie musste unter anderem, laut den Schilderungen meiner Mutter, monatelang in einer Wasserlauge liegend verbringen, wurde in Streckbetten in die Länge gezogen und hatte allerlei weitere phantasievolle Behandlungen zu erdulden. Als sie nach neun Jahren aus dem Sanatorium entlassen wurde, war sie wieder einigermassen wiederhergestellt, nur ein Bein blieb steif und Elisabeth humpelte für den Rest ihres Lebens. Wie der Innerschweizer Malergeselle Ernst Eichhorn dazu kam, sich in die körperlich eingeschränkte Hanseatin Elisabeth zu verlieben, ist mir nie hinterbracht worden, darum kann ich diese bestimmt spannende Geschichte hier nicht weitergeben. Jedenfalls ehelichte er sie, verschleppte sie in die Rigigasse im Sennekaff Küssnacht am Rigi, in der es nach Schweinemist und Kuhdung stank, sodass sie unter den Einheimischen verächtlich »Schiissgass« genannt wurde, und eröffnete ein kleines Malergeschäft. Elisabeth blieb auch als Innerschweizer Malersgattin ihr ganzes Leben lang stolze Hanseatin und sie wich auch nach sechzig Jahren Rigigasse kein Mü von ihrem althergebrachten Dialekt ab. Der Satz: »Ich hab mein’ Fuss an ein’ spitzen Stein gestossen« wurde ausschliesslich mit dem typischen scharfen »S« ausgesprochen anstatt dem üblichen »sch«.

Einige Male wurde ich in den Sommerferien bei den Grosseltern untergebracht. Für den kleinen Zappelphilipp waren die beiden alten Leutchen keine besonders amüsanten Spielkameraden. Daher trieb ich mich auf dem Platz vor dem Haus herum, auf dem ein Brunnen vergnügt plätscherte, und liess Laub und sonstige schwimmende Gegenstände darauf »schifflifahren«. Eines Tages, ich war nicht älter als fünf, entdeckte ich ein neues Spielzeug, das neben dem Brunnen lag. Mit Freuden ergriff ich es und setzte es zu den anderen schwimmenden Objekten in den Brunnen. Zu meiner grossen Gaudi begann das Gerät zu zappeln und zu piepsen, und immer wenn es den Brunnenrand erreichte und sich daran hochziehen wollte, schubste ich es wieder zurück und ergötzte mich an dem allmählich erlahmenden Kampf meines lustigen Spielkameraden gegen das Absaufen. Plötzlich riss mich die strenge Stimme von Grossmutti aus meinem wissenschaftlichen Experiment. Gross und bedrohlich stand sie am Fenster und rief mit apokalyptischer Stimme: »Retole, nimm sofort die Katze aus dem Wasser. Was fällt dir ein? Das arme Tier könnte ja ertrinken!« An diesem Abend musste ich zur Strafe »ohni z’Nacht i’s Bett«.

Das war mein erster Kontakt mit einer Katze. Hätte ich damals geahnt, dass ich dereinst ihrer Gattung meinen Künstlernamen verdanken würde, ich hätte sie vermutlich respektvoller behandelt.

Meine Kindheit an der Bahnhofstrasse in Pratteln war insofern glücklich, als ich ein Kind war, dem glücklich zu sein nicht schwerfiel. Allerding brauchte ich unentwegt eine Beschäftigung, und wenn gerade keine da war, maulte ich: »Mir ist langweilig! Was soll ich machen?« Damit nervte ich meine Umgebung so lange, bis jemand mit mir spielte oder mir etwas zum Werkeln gab.

Mein kleines Gemüt war leicht entflammbar, und wenn etwas nicht nach meinem Kopf ging, verfiel ich in einen meiner gefürchteten Wutausbrüche. Die waren jeweils so explosiv, dass meine Mutter manchmal keinen anderen Ausweg sah, um den tobenden Vulkan zur Räson zu bringen, als ihn splitternackt in die Badewanne zu stellen und eiskalt abzuspritzen. Dieser Jähzorn blieb mir bis zur Pubertät erhalten und endete erst, als ich mit siebzehn bei einem Wutanfall mit der Faust in eine Fensterscheibe schlug, sodass das Glas zersplitterte und meine Hand voll Blut und Splitter auf der anderen Seite herauskam. Dieser Vorfall gab mir zu denken und von da an versuchte ich, meine Zorngewitter im Zaum zu halten, was mir zwar nicht immer, aber immer besser gelang.

Um mir die Beachtung meiner Eltern und Geschwister zu sichern, machte ich Kapriolen, schlug Purzelbäume und führte Clownerien auf. Ich kann nicht sagen, dass es ein dringendes Bedürfnis war, beachtet zu werden, es war eher so, dass eine Situation, in der ich nicht mit Aufmerksamkeit versorgt war, nicht in Ordnung war. Ohne Beachtung stimmte einfach etwas nicht, es war ein falscher Zustand. Also brachte ich ihn wieder in Ordnung, entweder mit Unterhaltung, mit »Gstürm« oder mit Tränen.

An einer Weihnacht – ich war etwa drei oder vier Jahre alt – machte mein Vater mit seinem neuen tragbaren Uher-Tonbandgerät Aufnahmen von den Weihnachtsgedichten und -liedern, die wir Kinder vortrugen. Auch ich bin darauf zu hören, wie ich mit meinem Verslein in einem normalen Tempo anfange, gegen Schluss immer schneller werde und dann lautstark ins Mikrofon krähe: »Ich bin der Reto, hört dann gut zu!«

Ich wende mich wie selbstverständlich an ein Publikum und postuliere bereits, bevor ich bis zehn zählen kann, dass man mir zuhört. Ich hatte einfach das Gefühl, es sei etwas anderes, ob meine Geschwister etwas vortrugen oder ich. Bei mir war es etwas Besonderes, bei dem es sich empfahl, gut zuzuhören.

Unsere Mutter – oder Mutti, wie wir Kinder sie nannten – hatte sich lieber Mädchen anstatt Knaben gewünscht, und als dann beim dritten Anlauf schon wieder ein Männeken herauskam, stillte sie ihren nicht erfüllten Wunsch damit, dass sie meinen älteren Bruder Ingo und mich zeitweilig als Mädchen verkleidete. Wir Knirpse merkten nicht viel von dieser Maskerade und Mutti hatte ihren Spass daran. Sie liess uns beiden auch die strohblonden Haare lang wachsen und mit drei Jahren war ich mit meinem Look der Zeit bereits Jahrzehnte voraus und trug jene Frisur auf dem Kopf, die in den Sechzigerjahren die Beatles zu ihrem Markenzeichen machen würden: einen waschechten Mophead.

Die Sache mit dem Pilzkopf begann mir erst lästig zu werden, als ich in den Kindergarten kam und die Jungs mir »Mädchen, Mädchen!« nachriefen. Auf meine Beschwerden bei den Eltern kriegte ich zuerst einen sogenannten Pagenschnitt verpasst, und als dieser bei meinen Kameraden immer noch Irritationen und Beleidigungen hervorrief, bekam ich endlich eine normale Bubenfrisur, mit einem ordentlichen Scheitel.

Der Kindergarten wurde von katholischen Ordensschwestern geführt und mich gab man in die Obhut von Schwester Hilarina, einem uralten Weiblein, das kaum grösser war als die Knirpse, die sie betreute. Wenn ein Kind nicht gut tat, wurde es zur Strafe in das dunkle Besenkämmerlein gesperrt. Meiner aufmüpfigen Art war es zu verdanken, dass ich mehr als einmal dem Besen in seinem Gemach Gesellschaft leisten durfte. Aber trotzdem hatte Schwester Hilarina mich gern und aus unerfindlichen Gründen sagte sie mir, als ich bereits Primarschüler war und sie immer mal wieder auf dem Nachhauseweg besuchte, sie bete zum lieben Gott, dass ich einmal Priester werden würde. Sie spüre, dass ich das Zeug dazu hätte.

Für mich war es ein grosses Vergnügen, wenn ich im Labor der Zahnarztpraxis meines Vaters am Fenster sitzen durfte, wo die Zahnarztgehilfin Amalgame schüttelte, Operationsbesteck desinfizierte oder Gebisse reinigte. Wenn ich zum Fenster hinaus auf den Pratteler Bahnhof schaute, konnte ich zusehen, wie die schwarzen Dampflokomotiven Güterwaggons auf den Gleisen rangierten oder Regionalzüge hielten und Passagiere ausspuckten und andere verschlangen. Ein Pfiff vom Bahnhofvorstand gellte, er winkte rotbemützt mit einer Kelle und das schlangengleiche Gefährt setzte sich quietschend und ächzend in Bewegung und kroch Richtung Liestal davon. Es gab die stumpfnasigen elektrischen Gotthardloks für die Schnellzüge, die dunkelgrünen Krokodilloks, die hinten und vorn eine langgezogene Schnauze hatten für lange Güterzüge, dann waren da noch die faszinierenden Dampflokomotiven in allen Grössen: von den kleinen Rangierloks bis zu den mächtigen Sauriern, die stampfend und keuchend ganze Wagenkolonnen wegzuschleppen vermochten. Das waren für mich die wunderbarsten Ungetüme, wie sie da polternd, rauchend und zischend hin- und hertuckerten und die ganze Gegend in eine dichte, nach Kohle stinkende Wolke hüllten, in der die elektrischen Leitungen zitterten.

Für Mutti war diese Szenerie allerdings nicht so faszinierend wie für mich. Sie hatte durch ihre Heirat mit Hugo den paradiesischen Kurort Küssnacht am Vierwaldstättersee mit seiner klaren Alpenluft und seiner Postkartenaussicht verlassen, um in diese Vorhölle im übelriechenden, von Industrieschloten und Dampflokomotiven verrauchten Pratteln ziehen zu müssen. Anneli wurde krank vor Heimweh nach ihrer idyllischen Heimat. Jedes Mal, wenn sie am Radio ein Alphorn oder einen »Hudigäggeler« hörte, brach sie in schiere Tränen aus und schluchzte zum Gott erbarmen.

Sie genoss es zwar, nun die »Frau Doktor Borer« zu sein, und sie machte sich in der Praxis nützlich, indem sie die Telefonate entgegennahm, Termine einschrieb und die Patienten ins Wartezimmer führte. Am Telefon meldete sie sich mit einem freundlichen »Praxis Zahnarzt Doktor Borer«, und auch Privatanrufe nahm sie voll Stolz mit dem Satz »Zahnarzt Doktor Borer privat« entgegen. Sogar in den Läden nannte man sie respektvoll Frau Doktor, und das tat dem heimwehkranken Anneli aus der Rigigasse wohl, wog aber den Verlust ihrer geliebten Innerschweiz nicht auf. Sie wollte wieder zurück.

So oft es ging, reisten wir zu Muttis Eltern nach Küssnacht. Das waren aber immer sehr beschwerliche und lange Reisen, da man in den Fünfzigerjahren die ganze Strecke durch sämtliche Dörfer und über Hügel und Pässe schleichen musste, weil es noch keine Autobahnen gab. Vati packte uns also alle in seinen riesigen Amerikanerwagen, der vorne eine Sitzbank hatte, auf der die Eltern und der privilegierte Älteste Iwan sassen, während wir anderen vier uns auf die Rückbank quetschten. Diese Schaukelfahrten in dem Amischlitten sind mir in grauenhafter Erinnerung, weil unser Ernährer obendrein nicht davon absah, bei geschlossenen Fenstern pausenlos seine fürchterlichen Rössli-Zigarren zu paffen. Mir wurde davon derart schlecht, dass ich schon nach zehn Minuten den Kopf zum Fenster hinaushängen musste, um die Seitentür mit dem Frühstück zu verzieren, das ich mir nochmal durch den Kopf gehen liess. Mutti verspritzte dann ein paar Tropfen von dem unsäglichen Kölnischwasser, das bei mir sogleich den nächsten Brechreiz aus dem Magen pumpte. Seither bin ich allergisch auf billiges Parfüm.

So fanden die Fahrten in einem olfaktorischen Gemisch aus Benzingeruch, feuchten, schimmelnden Fussteppichen, Stumpenrauch, Erbrochenem und 4711 statt und es ist nicht verwunderlich, dass ich mich schon krankmeldete, wenn es nur hiess, »wir fahren nach Küssnacht«.

Weil Hugo kein Geld hatte, kaufte er immer amerikanische Gebrauchtwagen, die kurz vor der Verschrottung standen und meist nur ein paar Monate, maximal zwei Jahre hielten. Es waren rostende alte Chrommonster wie Nash, Chevrolet, Buick oder Oldsmobile. Wegen der grossen Familie mussten die Fahrzeuge geräumig sein und Familienkombis waren noch nicht erfunden.

Rein äusserlich liebte ich diese Karossen. Sie verkörperten den Rock ’n’ Roll wie nichts anderes. Ich bekomme heute noch Herzklopfen, wenn ich einen Chevy Belair oder einen Ford Thunderbird vorbeirauschen sehe. Hätte ich die Wahl, einem bikinibekleideten Model oder einem 56er-Buick nachzugaffen, mein Auge würde automatisch den Buick wählen. Diese Ungetüme waren echt sexy.

Vati konnte irgendwann dem mentalen Druck von Mutti nicht länger standhalten und so entschlossen sich meine Eltern 1960, mit ihrer bereits fünfköpfigen Kinderschar nach Luzern zu ziehen. Der Wohnblock an der Maihofstrasse bot zwar auch nicht gerade die Idylle, die man sich gewünscht hätte, aber wenigstens gab es dort keine stinkenden Kamine und Dampfloks. Dagegen war der Durchgangsverkehr Richtung Zürich, der Tag und Nacht durch die Maihofstrasse brauste, mehr als akzeptabel.

Luzern 1960–1964

Die neue Sechszimmerwohnung in dem grossen Neubau war toll. Wir wohnten zuoberst im fünften Stock und Vati hatte im zweiten Stock eine Praxis eingerichtet. Diese Praxiseinrichtung war allerdings enorm teuer für den kleinen Landzahnarzt, der eine siebenköpfige Familie zu versorgen hatte, und sie brachte Vati an den Rand des Ruins. Erschwerend kam hinzu, dass er die alte Praxis in Pratteln nicht verkaufen konnte, da sich kein Käufer dafür fand. Obendrein erwies es sich als schwieriger als erwartet, in dieser fremden Stadt eine Klientel aufzubauen. Vati war enttäuscht, zumal die spärliche Kundschaft eine katastrophale Zahlungsmoral besass und er die meisten Rechnungen nach aufwendigen Mahnungen von einem kostspieligen Treuhänder eintreiben lassen musste. Viele Patienten gaben auch einen falschen Namen an, damit sie die Zahnarztrechnung nicht bezahlen mussten.

Er hatte jetzt zwei teure Praxen, die noch nicht abbezahlt waren, eine Sechszimmerwohnung und eine bald achtköpfige Familie am Hals. Mutti war nämlich zum sechsten Mal in Erwartung. Dass er die Praxis in Pratteln nicht verkaufen konnte, erwies sich in der Zwischenzeit als Segen, denn er hatte dort immer noch eine Kundschaft, die auf den Dorfzahnarzt angewiesen war. Weil die Praxis in Luzern bei Weitem nicht genügend einbrachte, pendelte Hugo in den nächsten vier Jahren zwischen Pratteln und Luzern hin und her und schuftete, bis er fast zusammenbrach.

Verständlicherweise murrte er gegen diese unerträgliche Situation und gegen Anneli, die sie ihm eingebrockt hatte. Diese Aufmuckser liefen je länger je öfter auf handfeste Ehekräche hinaus, aus denen sich Vati jeweils dadurch zurückzog, dass er in die Praxisräume hinunterflüchtete und ein Bad nahm oder sich in seine Bastelstube im Keller verkroch, wo er stundenlang mit seinem Meccano-Set Riesenräder und ähnliche Spielsachen zusammenschraubte. Wir Kinder bekamen ihn in dieser Zeit selten zu sehen, weil er entweder in Pratteln war oder in einem seiner Refugien. Wenn er spätnachts von Pratteln nach Hause kam, war er so abgekämpft, dass er kaum noch als Familienvater oder Ehemann zu gebrauchen war.

Am meisten genoss ich in diesen Luzerner Jahren die sonntäglichen Familienspaziergänge, und wenn diese noch mit einer Fahrt in einem Bähnchen auf die Rigi, den Urmiberg oder die Klewenalp verbunden waren, war ich im siebten Himmel. Allerdings kam das aus Kostengründen relativ selten vor. Um Restaurants machte Vati immer einen grossen Bogen, damit bloss niemand auf die Idee käme einzukehren. Ein Restaurantbesuch war ein absoluter Luxus, und wenn doch einmal ein solcher stattfand, schlürften wir Kinder unser kostbares Sirüplein so andächtig, als wäre es purer Nektar aus dem Elysium.

Für ein Kind, das in seinen ersten acht Lebensjahren seine Umwelt in Form von verqualmten Bahnhöfen, Rangierlärm und Strassenkreuzungen wahrgenommen und lieben gelernt hat, war diese wunderschöne Alpenwelt, in der es so fein nach Blumenwiesen, Heu und Kuhdung roch, das reine Paradies. Das hat mich bis heute geprägt. Ich bin nirgendwo auf der Welt glücklicher als auf einer Alp.

Oft gab es an den Bergstationen der Bahnen einen Kiosk, wo man Souvenirs kaufen konnte. Diese Kioske übten einen unwiderstehlichen Zauber auf mich aus. Was es da alles gab, das man sich wünschen konnte: echte Schweizer Tirolerhüte aus grauem Filz mit einer Feder am Hutband, knorrige Spazierstöcke und kleine, metallene Plättchen zum Draufnageln, auf denen der aktuelle Berg eingraviert und bunt bemalt war. Kuckucksuhren aus Hongkong, auf denen »Seelisberg« stand, kleine Revolver, mit denen man einen an einem Faden angehängten Korkzapfen abschiessen konnte, Kristalle und getrocknetes Edelweiss. Bestimmt rührt meine Leidenschaft für Anstecknadeln mit einem Edelweiss- oder Enzianmotiv, der ich jahrelang frönte, aus jenen Bubentagen. Ich besitze heute eine Sammlung von über Hundert solcher Pins, die ich an jedem Kiosk auf jedem bestiegenen Berg erstanden habe. Es ist die einzige Sammlung, die ich immer noch hüte und vervollständige.

Wenn meine Eltern den Aufwand scheuten, den ein grösserer Ausflug mit den vielen Kindern mit sich brachte, beschränkten wir uns darauf, an Sonntagnachmittagen einfach durch die schöne Stadt Luzern zu schlendern. An einem solchen Sonntag entdeckte Vati einmal einen seiner Lieblingsschauspieler, den berühmten Kabarettisten Zarli Carigiet, auf der anderen Strassenseite, wie er Arm in Arm mit seiner Frau an den Schaufenstern vorbeipromenierte. Vati zückte ein Notizblöcklein und einen Kuli und sagte zu mir: »Reto, spring doch schnell rüber und bitte Herrn Carigiet um ein Autogramm!«

»Ich trau mich nicht. Der kennt mich ja gar nicht«, zögerte ich.

Vati beruhigte mich: »Der frisst schon keine netten kleinen Buben wie dich. Ausserdem ist er ein ganz Lustiger, du wirst schon sehen. Musst einfach schön höflich fragen.«

Aufgeregt hüpfte ich also über die Strasse, näherte mich dem berühmten Mann und sagte so höflich wie möglich: »Grüezi, Herr Carigiet. Dürfte ich wohl ein Autogramm von Ihnen haben?«

»Verschwinde, du frecher Bengel!«, blaffte mich der Mann wütend an. »Was fällt dir ein, an einem Sonntag fremde Leute zu belästigen! Mach, dass du fortkommst!«

Ich fiel aus allen Wolken. Diese Reaktion des »lustigen Mannes« war das Letzte, was ich erwartet hätte. Verwirrt schlich ich wieder zu meiner Familie zurück und berichtete schockiert, was mir soeben widerfahren war. Seit diesem unerfreulichen Korb habe ich eine gewisse Scheu, bekannte Leute anzusprechen, aber ich schwor mir damals, wenn ich selber einmal berühmt sein sollte, würde ich immer nett mit meinen Fans umgehen und allen ein Autogramm geben. An diesen Vorsatz habe ich mich bisher auch gehalten.

Ich war damals ein kleiner, schmächtiger Typ, ein »Knochengestell«, wie ich oft gehänselt wurde. Als ich den Pfadfindern beitrat, trug mir diese Erscheinung auch den Pfadinamen ein: Knochen.

Trotz meiner nicht gerade furchteinflössenden Figur machte ich aber nicht den Eindruck eines Angsthasen und die Mädchen guckten gern aus den Augenwinkeln zu mir hin, wenn ich gerade so tat, als würde ich es nicht bemerken. Das wurde natürlich von anderen Buben registriert, und wie das so ist, gereichte mir dieser Umstand nicht nur zum Vorteil. Einmal passten mich zwei Kerle aus einer oberen Klasse nach der Schule ab und versperrten mir den Weg.

»Hey, Kleiner, bist du stark?«, wollte einer von den Burschen wissen.

Nicht ahnend, was die beiden vorhatten, witterte ich einen kleinen Wettbewerb, bei dem es um Stärke ging, und antwortete daher keck: »Klar, warum?«

Wumm, hatte ich eine Faust auf der Nase. Bevor ich mich vom Schreck erholen konnte, landete eine zweite in meiner Magengegend, die mich aus den Schuhen haute. Unversehens lag ich am Boden und krümmte mich, während Blut aus meiner Nase aufs Trottoir troff. Lachend liefen die beiden davon und grienten: »Schwächling! Weiss gar nicht, was die Weiber an dem finden.«

Ich begriff, dass ich wohl nicht dazu geschaffen war, meine Gegner mit Muskelkraft zu besiegen, und mich besser anderer Mittel bedienen sollte, um Oberwasser zu behalten. Diese Einsicht schoss mir Jahre später wieder durch den Kopf, als ich mich in ähnlichen Situationen befand, und sie rettete wahrscheinlich mehr als einmal mein Nasenbein.

Einer dieser Vorfälle ist mir unvergessen geblieben: Es war in den Achtzigerjahren bei einem Open-Air-Konzert im grossen Steinbruch in Liesberg, wo ich mit meiner Bo Katzman Gang auftrat. Vor uns war Stefan Eicher an der Reihe gewesen und er hatte ein Stück in seinem Programm, in dem er unseren Hit I’m in love with my Typewriter parodierte. Stefan hatte schon damals das Image des Einzelgängers und zog zum Teil ein Publikum an, das sich mit diesem Image identifizierte und gern »einen auf Anti« machte, wie wir damals sagten.

Das Publikum war daher sehr gemischt und es waren auffällig viele Punks darunter. Mit unserer gefälligen Popmusik waren wir nicht gerade zuoberst auf der Favoritenliste dieser Abteilung, und als wir den Song Who’s that Woman anstimmten, kam ein Geschoss aus dem Publikum angeflogen und traf mich auf der Brust. Es war ein Stück Kuchen. Ich mimte den Unerschütterlichen, und während die Band unverdrossen weiterspielte, hob ich das Teil vom Boden auf, dankte dem edlen Spender und steckte es in den Mund. Bald darauf kam ein zweites Geschoss angeschwirrt und landete krachend auf meiner Gitarre. Diesmal hatte der Absender einen Stein in den Kuchen gepackt. Das fand ich nun beträchtlich weniger lustig. Im Verlauf des Songs knallten noch ein paar solcher Geschenke auf die Bühne, nun war aber nicht nur ich das Ziel, sondern auch meine Mitmusiker. Ich wurde dermassen wütend, dass ich das Stück abbrach und ins Mikrofon schrie, der feige A…, der hier anonym Steine auf die Bühne werfe, solle gefälligst damit aufhören. Wir würden hier schliesslich unsere Arbeit machen. Wenn ihm die Musik nicht passe, solle er die Fliege machen. Und wenn er nur ein Fitzelchen Mut besitze, solle er nach dem Gig zu mir kommen und sich stellen.

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9783905958379
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