Читать книгу: «Gesicht des Todes», страница 9

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Zoe dachte an die wenigen verbliebenen Fußabdrücke an Lindas Tatort, wie die Frau in Sichtweite der Sicherheit gewesen war, als er seinen Draht um ihren Hals geschlungen und sie umgebracht hatte. Er war normalerweise so ein kontrollierter Mörder. Das war ein Bruch in seinem Muster und er war nicht geplant gewesen. Das Mädchen hatte sich freikämpfen können. Zoe betrachtete ihr bewegungsloses ergrauendes Gesicht mit einem ungewöhnlichen Ausbruch von Mitleid, dachte daran, wie stark sie sich ans Leben geklammert haben musste, um überhaupt so weit gekommen zu sein.

Die Farbe sagte ihr noch etwas anders: die Zeit, die vergangen war. Er hatte innerhalb seines normalen Zeitfensters angegriffen. Als Zoe – was getan hatte? Dinge über ihre schwierige Kindheit erzählt und sich in Selbstmitleid gesuhlt? Diese kostbaren Stunden verschwendet hatte, die das Leben dieser Frau hätten retten können?

Der Leichenbeschauer kam heran und Zoe ging zur Seite, erlaubte ihm, sich seine ersten Eindrücke zu bilden. Hier draußen gab es nicht die vollständigen, in weiße Schutzanzüge gekleideten Spurensicherungsteams der Innenstadt. Es gab nur den Leichenbeschauer und seine Aktentasche und sie konnten von Glück sagen, das zu haben. Zoe konnte kaum abwarten, bis er fertig war – sie wusste genau, was er ihr sagen würde.

„Was denkst du?“ fragte Shelley, als Zoe sich ihr näherte. Sie hatte ein wenig entfernt von der Leiche gewartet, an einer Stelle, von der aus sie sie nicht ansehen – oder riechen musste.

„Hast du es dir gut angesehen?“ antwortete Zoe mit einer eigenen Frage. Sie begann, sich Sorgen zu machen, dass Shelley etwas zu empfindlich war – dass sie einen Tatort nicht verkraften konnte. Außerdem wollte sie nicht genau erklären, was sie gesehen hatte. Das konnte der Leichenbeschauer tun und es Zoe damit ersparen, erklären zu müssen, wie sie es gesehen hatte.

„Kurz.“ Shelley nickte. „Es scheint, als ob ihr Hals dort drüben durchgeschnitten wurde, auf der Zufahrtsstraße, aber sie entkam und rannte. Sie ist hier verblutet. Nehme ich zumindest an. Ich konnte keine anderen Wunden sehen.“

„Ich auch nicht. Alles war diesmal anders für ihn. Sie ist fast entkommen und obwohl einige Spuren nah bei der Leiche anscheinend verwischt wurden, hat er nicht seine übliche Großreinigung durchgeführt. Ich könnte mir vorstellen, dass die Forensik hier mehr Hinweise findet, als wir je zuvor hatten.“

„Die Reifenspuren und Fußabdrücke vielleicht.“

Zoe nickte. „Nicht genug, um sein Auto oder ihn selbst zu identifizieren, noch nicht. Aber ein Schritt mehr, um es einzuengen, Beweise, die wir vorbringen können, wenn wir ihn schnappen. Es scheint, dass er verzweifelter wird.“

Der Leichenbeschauer näherte sich, rollte ein Paar Chirurgenhandschuhe auf und stopfte sie wieder in seine Tasche. „Ich habe eine erste Untersuchung vorgenommen. Vorläufig natürlich, bis ich die Möglichkeit habe, sie in mein Büro bringen zu lassen und mir alles genauer anzusehen. Dort kann ich die notwendigen Tests vornehmen und eine gründlichere Untersuchung beginnen, die mehr Details ergeben wird, als ich jetzt anbieten kann.“

Zoe schloss ihre Augen, blendete die Stimme des alten Mannes aus. Er war die Art Person, die nicht zehn Worte benutzen würde, um etwas zu sagen, wenn stattdessen hundert Worte benutzt werden konnten. Das genaue Gegenteil der Art Mensch, mit der Zoe sich gerne unterhielt. Stattdessen dachte sie über den Tatort nach, darüber, dass alles etwas aus dem Lot geraten war.

Gedanklich bewegte Zoe die rote Stecknadel in der Landkarte in ihrem Kopf an den neuen Ort, eine kurze Strecke weiter, aber trotzdem relevant. Die Straße war der Ort, an dem er den Mord versucht hatte und das war wichtig, nicht der Ort des Todes. Dadurch bewegte die Stecknadel sich ein wenig näher an ihre gerade Linie, aber nicht genug, um einen Unterschied zu machen. Es musste eine Kurve sein.

„Wo war der Bluterguss?“ fragte Shelley, weckte damit Zoes Aufmerksamkeit wieder.

Der Leichenbeschauer zeigte auf eine Stelle an seinem eigenen Körper, über den Rippen und dem Magen auf der linken Seite. „Wie ich sagte, der Bluterguss wurde postmortem zugefügt, da zu diesem Moment sehr wenig Blut übrig war. Das ist alles, was ich aufgrund der ersten Untersuchung sagen kann. Ich würde sagen …“

„Ärger“, unterbrach Zoe ihn. „Er war aus irgendeinem Grund ärgerlich auf sie.“

„Vielleicht, weil sie weggerannt ist“, schlug Shelley vor.

„Aber sie war schon tot, als er sie erreichte“, sagte Zoe. „Er hat sein Ziel erreicht. Also warum war er so wütend?“

Shelley spreizte ihre Hände in einer wortlosen Geste, der Leichenbeschauer begann seinen weitschweifigen Monolog wieder, als ob es keine Unterbrechung gegeben hätte.

Zoes Gedanken überschlugen sich. Es gab hier mehr Fragen als sie bei den anderen Tatorten gesehen hatte – geradezu ironisch, da sie nun verzweifelt Antworten brauchten. Warum hatte er diese Straße als seinen Ort ausgewählt, diese beliebige Zufahrtsstraße mitten an einem Highway, mit nichts in der Nähe? Kein Parkplatz oder ein natürlicher Ort für eine Begegnung, wie ein Gehweg, so wie bei seinen anderen Taten – warum die Änderung?

Und warum, wenn er doch sein Ziel erreicht hatte, die Frau umzubringen, war er immer noch wütend genug, um Zeit damit zu verschwenden, sie zu treten – Zeit, die es ihm unmöglich machte, seine Spuren komplett zu verwischen?

Nicht nur das, aber noch etwas anderes irritierte sie. Der Rorschach der Blutlache. Die Muster. Warum hatte das in ihrem Gehirn irgendwas ausgelöst, irgendwas, das ihr die Sicherheit gab, dass es sein Werk war? Wenn sie nur herausfinden konnte, was es war, das dieses geistige Bild mit den anderen Tatorten verband, dann würde sie ihn haben.

Es formte sich allmählich der beunruhigende Gedanke, dass er vielleicht, so wie sie, die Zahlen lesen konnte. Dass dies vielleicht das Werk von jemandem war, der die Fähigkeit des Teufels hatte, Dinge zu sehen, die niemand anders sehen konnte.

Finde das Muster, finde den Killer, sagte Zoe sich. Und finde ihn jetzt – bevor er erneut tötet.

Kapitel fünfzehn

Zoe saß am Rand von einem der Schreibtische, hatte so eine Vogelperspektive über den Ermittlungsraum. Er war wieder lebendig, voller Aktivität und neuen Papieren, die sich zu den Stapeln dazugesellten, die auf den Schreibtischen lagen. Es gab so viele Akten, jetzt offen daliegend, um mit einem Blick überflogen zu werden, irgendwas in ihnen war bereit, sein Geheimnis zu lüften, wenn sie nur genau genug hinsah. Die Zahlen, die sie bereits gesehen hatte, blitzten vor ihren Augen auf, nur eine Ablenkung. Auf sie kam es nicht an. Zoe brauchte die Zahlen, die sie bis jetzt übersehen hatte.

Zoe überflog die Berichte vor ihr, wusste, dass etwas dort war. Etwas, das ihnen allen entgangen war. Wenn sie es nur in die Finger bekommen könnte.

„Wir haben ein Ergebnis zu den Reifenspuren“, sagte Shelley, legte das Telefon mit einem Klappern auf, während sie ihren Bürostuhl zu Zoe rollte. „Sedan. Wahrscheinlich ein älteres Modell, davon gehen sie wegen der Breite aus. Das Profil ist ziemlich abgefahren, also ist er schon reichlich unterwegs gewesen. Es gibt mehrere Hersteller für Sedans, die diese Reifen benutzen, aber es ist ein Anfang.“

Zoe nickte, zog ein Papier aus der Faxmaschine. Es überraschte sie, dass das Sheriffteam in diesen Zeiten noch eine Faxmaschine benutzte, aber es lag nicht an ihr, ihnen zu sagen, wie sie ihr Büro renovieren sollten. „Das ist vom Leichenbeschauer. Es ist eine Fotografie … was ist das?“

Sie neigte den Kopf, analysierte das Bild. Ein grüner Klecks vor weißem Hintergrund. Eine Maßanzeige auf einer Seite zeigte, dass er weniger als einen Zentimeter breit und lang war. Abgesehen davon hatte der Leichenbeschauer keine Informationen geschickt.

„Lass mich mal sehen?“ Shelley streckte ihre Hand aus und neigte ihren Kopf auf ähnliche Weise. „Oh! Es ist ein Farbsplitter. Glaube ich. Ich rufe ihn an und überprüfe es.“

Zoe ignorierte Shelleys Anruf, ließ ihre Stimme mit dem Hintergrund verschmelzen. Farbsplitter und Sedanmodelle waren für die Ermittlung im Allgemeinen gute Nachrichten, aber es war noch etwas anderes hier. Etwas, das an ihrem Gehirn nagte, das sie noch nicht ganz begriffen hatte. Was immer es war, es könnte das Leben einer weiteren Frau retten – denn der Mörder hatte nicht aufgehört, war nicht langsamer geworden und sein Muster verlangte heute Abend nach einer weiteren Leiche.

„Es ist ein Farbsplitter“, bestätigte Shelley, zurückrollend. „Der Leichenbeschauer sagt, dass er unter einem ihrer Fingernägel war. Es besteht eine gute Möglichkeit, dass er vom Auto des Mörders kam.“

Zoe riss ihre Aufmerksamkeit von den Fallakten los und stand auf, ging zu ihrem Flipchart. „Also ein neues Profil“, sagte sie. „Wir suchen nach einem älteren Modell eines grünen Sedans mit Nummernschildern aus einem anderen Staat, gefahren von einem Mann, der der körperlichen Beschreibung entspricht, die wir bereits ausgearbeitet haben.“

Shelleys Gesicht strahlte fast vor Enthusiasmus. „Wir engen es ein.“

„Es ist immer noch ein großes Netz, das wir auswerfen“, sagte Zoe nachdenklich, tippte mit dem Stift gegen ihre Unterlippe. Was übersah sie? „Wir sollten einen Fahndungsaufruf mit dieser Beschreibung herausgeben.“

„Mach ich!“ Shelley sprang von ihrem Stuhl hoch und rannte fast aus dem Zimmer, auf dem Weg zum Büro des Sheriffs und seinen Sendegeräten.

Ihr Eifer könnte entnervend oder abschreckend sein, wenn sie nicht tatsächlich Dinge erledigt bekommen hätte. Zoe musste vor sich zugeben, dass sie froh war, ein weiteres Paar Hände und Ohren bei der Ermittlung zu haben. Es fehlten zu viele Teile, zu viele Puzzlestücke, um es alles alleine zu bewältigen.

Ihnen fehlten allerdings weiterhin dringend Sachbeweise. Das Auto zu identifizieren war eine Sache und sie waren nicht wirklich in der Lage gewesen, das zu tun. Es gab sicher hunderte, wenn nicht tausende von Fahrzeugen, die auf die ihnen vorliegende Beschreibung passten. Die Datenbanken durchzugehen und jedes von ihnen zu suchen, war keine Option. Bis sie sich durch die Liste gearbeitet hätten, würden sich in jedem Staat des ganzen Landes die Leichen stapeln.

Allerdings operierte er nicht im ganzen Land, oder? Er bewegte sich in einer Kurve – eine Kurve, die nur Zoe würde abbilden können. Die Zahlen durften sie nicht im Stich lassen, nicht so nah an einem Hinweis. Sie musste einfach weitersuchen.

Zoe ließ ihren Blick über die Tatortfotografien der Frauen wandern, glasige Augen und offene Hälse starrten zu ihr zurück. Sie konnte alle möglichen Zahlen in den Bildern lesen. Ein dreißig Zentimeter langer Rock gegen ein Outfit, dass nur zweieinhalb Zentimeter über dem Boden hing. Eine 86D BH-Größe, eine 100F, eine 80B. Siebzehn Dollar, zur Sicherheit in eine Handyhülle gestopft, die nicht gestohlen worden waren. Sie teilten ihr etwas über die Opfer mit, aber absolut nichts über den Mörder.

Zoe spürte instinktiv, dass sie bezüglich seiner Auswahl der Opfer richtig lagen. Dass es die Orte und die Möglichkeiten waren, die den Ausschlag gaben, nicht das Erwischen der absolut richtigen Person. Sie musste aufhören, die Frauen anzusehen, so schwer das auch war, wenn ein blutgetränkter Körper gräulich und im Ganzen unter dem Kamerablitz abgebildet war. Sie musste hinter sie blicken, auf den Ort. Die Szene.

Was übersah sie?

Zoe begann erneut, arbeitete sich durch die Fotografien der Tankstelle. Frustrierend wenige der Bilder zeigten etwas anderes als die Leiche selbst. Im Hintergrund konnte sie den sich im Fenster spiegelnden Benzinpreis sehen, die drei dort angebotenen Ausgaben lokaler Zeitungen, konnte die Meter zwischen dem Opfer und der Vordertüre zählen. Aber da war nichts; nichts, das ihr mitteilte, wer der Mörder war.

Etwas schob sich in ihre Erinnerung und Zoe runzelte die Stirn, schaute die Fotografien erneut durch. Es gab nur ein Bild, das ein einzelnes blaues Bonbon zeigte. Aber das stimmte nicht, oder? Es waren mehr Bonbons dort gewesen – viel mehr. Sie erinnerte sich an die um sie verstreuten Farben, als sie am Tatort umhergegangen war.

Sie stand auf und ging den Flur entlang, zu dem kleinen Zimmer weiter hinten, in dem der örtliche Polizeifotograf seine Ausrüstung aufgebaut hatte. Er saß vor einem Mac mit großem Bildschirm, dem modernsten Ausrüstungsgerät im ganzen Gebäude, und sprang hoch, als sie seine Tür ohne Anklopfen aufstieß.

„Kann ich Ihnen helfen, Ma’am?“ fragte er nervös.

„Der Tatort an der Tankstelle“, sagte Zoe, kam direkt zur Sache. Sie mochte es nicht, wenn andere Leute Dinge durch Plauderei verzögerten und da niemand sonst es zu genießen schien, verstand sie nicht ganz, warum meistens darauf bestanden wurde. „Haben Sie irgendwelche Fotografien von den Bonbons, die über den Parkplatz verstreut waren?“

Der Fotograf stand auf, ging zu einem Ablageschrank an der Seite des Zimmers und zog eine dünne Plastikmappe hervor. Er begann, Ausdrucke durchzublättern, jeder von ihnen zum Schutz in einer glänzenden Plastikhülle aufbewahrt, bis er fand, wonach er suchte.

„Hier“, sagte er. „Ich habe eine Aufnahme gemacht. Ich fand es irgendwie skurril, Bonbons am Tatort eines Mordes. Schien aber keinen forensischen Wert zu haben. Sheriff sagte, es wär wahrscheinlich von einem Kind fallengelassen worden.“

Zoe nahm die Mappe aus seiner Hand, betrachtete das Bild genau. „Danke“, sagte sie, wandte sich um, um wieder in den Flur zu gehen.

„Die sollen eigentlich nicht aus meinem Zimmer entfernt werden“, sagte der Fotograf, kam ihr aber nicht nach, als sie ihn ignorierte und weiterging.

Kleinstadtprotokoll oder nicht, hier war etwas. Sie konnte es spüren. Und wenn es jemandes Leben retten konnte, dann war es ihr völlig egal, in welchem Zimmer die Mappe bleiben sollte.

Nur eine Fotografie. Das unterstrich, mehr als alles andere, die Tatsache, dass niemand sonst sehen konnte, was sie sehen konnte. Denn das hier war es. Sie konnte es spüren. Das hier war etwas, das sie alle übersehen hatten, das aber der Schlüssel zu dem ganzen Fall war.

Zoe ließ sich wieder auf ihren Stuhl fallen, ihre Augen betrachteten die Bonbons auf dem Boden immer und immer wieder. Auf dieser Aufnahme, fotografiert direkt von oben und mit einiger Entfernung vom Boden – vielleicht auf einer Trittleiter – konnte sie das Muster so sehen, wie es wirklich aussah. Denn es war ein Muster – genau wie alles andere.

Die meisten anderen Leute hätten es sich angesehen und eine beliebige Verteilung von Bonbons erkannt. Etwas, das vielleicht von einem Kind fallengelassen worden war. Aber wenn es eines gab, das Zoe im Laufe der Zeit gelernt hatte, war es, dass nichts jemals bedeutungslos war. Die zähen Büsche von Arizona wuchsen in bestimmter Entfernung voneinander, abhängig von den Nahrungsstoffen, die sie finden konnten. Wolken formierten sich nach Luftströmungen, folgten Drucklinien und wurden durch Temperaturen und Luftfeuchtigkeit bestimmt. Menschen bewegten sich Tag für Tag in denselben Mustern, Leben auf Leben, gelenkt durch vorbestimmte soziale Annahmen und Genetik.

Und die Bonbons waren in fast perfekte Eckpunkte eines konvexen Polyeders hingefallen. Man musste nur die Punkte verbinden, um die direkten Linien zwischen jedem von ihnen zu sehen. Sie waren offensichtlich, wenn man erst mal wusste, worauf man achten musste.

Fast jeder hätte dies als beliebigen Müll verworfen, etwas, das aufgekehrt und weggeworfen werden musste. Aber nicht. Er hatte alles andere entfernt, die Fußabdrücke, alle Spuren seiner Anwesenheit. Aber er hatte diese gefallenen Bonbons zurückgelassen, hatte sie sorgfältig vermieden, sie dort liegen lassen, wo sie hingefallen waren.

Ein kurzzeitiger Zweifel regte sich in ihren Gedanken, aber es war kein Zweifel daran, dass sie recht hatte. Sie wusste, dass sie recht haben musste. Der Zweifel resultierte aus Angst; Angst, dass sie etwas mit einem brutalen Mörder gemeinsam hatte. Ein Serienmörder – jemand, der menschliche Leben wie einzelne hingefallene Bonbons behandelte. Etwas Wegwerfbares, nur zur Gestaltung eines Musters zu benutzen.

Angst, dass sie sich auch so entpuppen könnte. Ihre Mutter hatte gesagt, dass der Teufel in ihr war.

Zoe wusste, dass sie keine bösartige Mörderin war – auch wenn sie Probleme hatte, zu anderen Leuten eine Verbindung zu finden, sah sie sie doch als Menschen. Die Angst kam von außerhalb ihrer selbst, von dem Aberglauben ihrer Mutter und dem Zwang, ihr wirkliches Wesen verstecken zu müssen.

Aber Angst oder nicht, sie konnte nicht leugnen, was sie vor sich sah. All die Stücke passten ineinander, malten jetzt das gesamte Bild, und auch wenn sie vielleicht umgesetzt werden könnten, konnte sie sich nicht vorstellen, dass sie eine andere Geschichte erzählen könnten.

Nun wusste Zoe, wer ihr Mörder war. Er war wie sie. Er sah Dinge auf die Art, auf die sie es tat. Er betrachtete diese verstreuten Bonbons und sah ein göttliches Signal, dass er auf dem richtigen Weg war. Er betrachtete das Rorschachmuster von Flügeln, das aus einer Halswunde entstanden war, und es ermutigte ihn, weiterzumachen.

Er machte nicht nur aus Notwendigkeit irgendeine Kurve. Er bildete ein Muster.

Und jetzt, da sie ihn kannte, konnte sie ihn kriegen. Sie konnte ihn stoppen.

Die einzige Frage war, ob es ihr gelang, bevor er ein weiteres Leben auslöschte.

* * *

Zoe kam wieder zu sich, realisierte, dass sie schon eine ganze Weile grübelnd in die Ferne gestarrt hatte. Sie sah nun alles aus einer neuen Perspektive. Alles hatte sich geändert. Er hatte auf die gleiche Art gedacht wie sie – und Zoe wusste, dass sie besser dachte als irgendjemand sonst.

Shelley war in das Zimmer zurückgekehrt, um leise vor den Akten zu sitzen und sie durchzusehen, aber Zoe bemerkte kaum, dass sie da war. Sie war zu konzentriert und ihre Gedanken wirbelten.

Zoe griff sich die Fallakten der Opfer, sortierte sie rasch, nahm sich die Tatortnotizen, den Bericht des Leichenbeschauers zu allen außer der letzten Leiche und die Fotografie, die die vollständige Szene am besten zeigte. Als sie sie so alle nebeneinander sah, war die Verbindung noch deutlicher als zuvor. Die klaffenden zweiten Münder auf den Hälsen, alle bis auf den Millimeter gleich breit und tief, der Druck, der jedes Mal in genau gleichem Ausmaß angewendet worden war.

Alles das Werk derselben zwei Hände. Hände, die auch jetzt um ein Steuerrad lagen, ihn an den Ort fuhren, an dem er seinem nächsten Opfer begegnen würde. Zoe betrachtete die Landkarte an der Wand, die Kurve. Sah die Städte, die möglicherweise auf ihr lagen. Sie konzentrierte sich auf eine bestimmte Gegend, den Bereich, in dem die Kurve sich wahrscheinlich fortsetzen würde – ein ländliches Städtchen, nur ein paar Gebäude, eine Zwischenstation an der Straße.

Niemand würde heute Nacht dort sterben. Nicht, wenn sie es verhindern konnte.

Ein Hilfssheriff kam und klopfte an die Tür des Einsatzraums, zögerte mit einer braunen Papiertüte in seiner Hand.

„Kommen Sie rein“, sagte Shelley, lächelte ihn an. „Ist das Mittagessen?“

„Der Sheriff sagte, ich solle Ihnen was bringen“, sagte er, hielt erneut inne, bevor er das Zimmer betrat, als ob er eine verbotene Linie übertrat. „Ich wusste nicht, was Sie mögen, also habe ich ein paar unterschiedliche Sandwiches geholt. Und auch etwas Gebäck.“

„Das ist sehr freundlich.“ Shelley lächelte, nahm die Tüte von ihm entgegen.

„Es ist Mittagszeit?“ fragte Zoe, sah zu der altmodischen Uhr an der Wand hinauf. Die Zeit lief ihnen davon. Sie konnte an einer Hand die Stunden abzählen, bis er wieder versuchen würde, zu töten. Noch vor Mitternacht würde es sicher eine weitere Leiche geben – sofern sie ihn nicht vorher erwischte.

Zoe dankte dem Hilfssheriff und griff nach irgendeinem Sandwich, es war ihr gleich, welches sie erwischte. Es erwies sich als gegrillter Käse mit Tomate, etwas, das sie kaum registrierte, abgesehen davon, dass sie die 1,25 cm Dicke der Brotscheiben bemerkte, die Tatsache, dass die Scheiben nur zwei Drittel einer Tomate ergaben und die uneben aufgestrichene Butter auf den inneren Brotseiten. Was auch immer es war, für ein nach Nahrung hungerndes Gehirn war es köstlich.

Die Akten vor ihr nahmen ihre Aufmerksamkeit in Anspruch, die Zahlen nun noch deutlicher als zuvor. Sie sah auf einen Blick ihre Körpergrößen, ihr jeweiliges Alter, ihr jährliches Gehalt, das Jahr, in dem sie die High School abgeschlossen (oder nicht geschafft) hatten, die Zahl der Hinterbliebenen, die Länge ihres Haares in Millimetern. Nichts davon bot irgendeine Verbindung oder ein Muster.

Zoe erzielte keine Ergebnisse, aber das war nicht unbedingt eine schlechte Sache. Es war ein Zeichen, dass sie auf dem richtigen Weg war. Eine Verbindung zwischen den Opfern auszuschließen bedeutete, dass ihr Instinkt korrekt und der Ort der entscheidende Faktor war. Sie war sich dessen nun noch sicherer als je zuvor. Die zusätzlichen zwanzig Minuten, sich dessen zu vergewissern waren es wert gewesen – und der Beweis lag bei dem letzten Opfer, der jungen Frau, die sie als Rubie identifiziert hatten.

Warum würde der Mörder so wütend auf die Frau sein, die von ihm davongerannt war, dass er sie sogar nach ihrem Tod treten würde? Es ergab keinen Sinn – nicht, wenn man nicht erkannte, wie er dachte. Wenn man es aus der Perspektive irgendeiner anderen Person betrachtete, könnte man sagen, dass er nur frustriert oder dumm oder kleinlich genug war, um Freude daran zu finden, eine Leiche zu treten. Nichts davon hatte sich aus den anderen Tatorten ergeben.

Zoe versetzte sich in ihn hinein. Wenn sie der Mörder wäre, worüber wäre sie so wütend? Was auf der Welt würde sie wütend darüber machen, dass sie ihren Willen erreicht hatte?

Außer, natürlich, wenn sie ihren Willen nicht ganz erreicht hatte.

Das musste es sein. Und dann begriff Zoe plötzlich.

Die Antwort war einfach. Nicht, weil sie sich gewehrt hatte – das hatten sie alle, soweit es ihnen möglich gewesen war, selbst wenn es nur dadurch geschehen war, dass sie um sich schlugen und nach Luft schnappten. Es war nicht nur, weil sie vor ihm weggerannt war, oder aus Angst, dass sie nicht sterben würde – denn als er sie in den Wäldern gefunden hatte, war sie schon gestorben.

Nein, es lag daran, dass sie sein Muster ruiniert hatte. Zoe konnte es nun erkennen, so klar wie das helle Sonnenlicht, das durch die Fenster in der Halle draußen hineinströmte, ein leuchtendes gelbes Viereck auf die gegenüberliegende Wand malte, das ihr Flipchart umfasste und es fast unmöglich machte, das darauf stehende Profil zu lesen.

Zoe brauchte das Profil nicht mehr. Sie wusste jetzt, wonach sie suchte.

Ein Mann, der für Muster lebte, für sie lebte und starb. Oder eher, für sie tötete. Das Muster war ihm wichtiger als alles andere. Was bedeutete, dass die Kurve auf der Landkarte nicht nur eine Kurve war – es war eine Botschaft.

Eine Botschaft, die Zoe nun auf jeden Fall verstehen wollte.

Das Telefon an der Wand brach in ein schrilles Klingeln aus, brachte ihre Gedanken durcheinander. Shelley stand auf, um das Gespräch anzunehmen, ohne darum gebeten worden zu sein, was ein weiterer Grund war, aus dem Zoe begann, sie sehr zu mögen.

„Wirklich?“

Etwas in Shelleys Ton, die Schärfe darin, ließ Zoe aufblicken und aufpassen.

„Wann was das? … Und Sie wurden erst jetzt auf die Übereinstimmung im System aufmerksam? Aha, ja. Wenn Sie alles so bald wie möglich rüberfaxen könnten. Danke.“

Sie hängte das Telefon wieder ein, wandte sich dann mit großen Augen an Zoe. „Noch einer. Vor fünf Tagen, aber das örtliche Polizeirevier hat die Daten erst jetzt ins System eingegeben und die Übereinstimmung mit unserem Fall gesehen. Sieht so aus, als ob es sein erster Mord sein könnte.“

Zoe schoss von ihrem Sitz hoch, auf die Landkarte an der Wand zu. „Wo?“

Es gab jetzt nur noch eine Frage, auf die es ankam. Das Wer war irrelevant. Das Wie war offensichtlich – Erwürgen durch Garrotte, sonst wäre es nie als Übereinstimmung angezeigt worden. Das Warum wurde mit jedem zurückgelegten Schritt klarer.

Es war das Wo, das die ganze Sache entschlüsseln könnte.

Shelley rannte zur Faxmaschine, griff das erste Blatt Papier, das sie hastig ausspuckte. Sie überflog die Seite rasch, rief einen Stadtnamen, sobald sie ihn entdeckt hatte.

Zoe überflog die Landkarte, suchte nach etwas, das auf der geraden Linie oder sogar der sanften Kurve lag, die es nach ihrem jetzigen Wissen war. Wo war diese Stadt? Sie suchte die Namen immer und immer wieder ab, sah ihn nicht, fragte sich, wo er nur sein könnte?

Sie trat einen Schritt zurück, streckte die Hand nach dem Papier aus, nahm es von Shelley entgegen und prüfte es selbst. Der Name des Ortes war richtig. Also, warum war er dann nicht dort, wo er sein sollte?

Zoe sah auf und durch Zufall wanderten ihre Augen über einen anderen Teil der Landkarte, während sie sich orientierte, und der Name fiel ihr ins Auge. Da. Aber überhaupt nicht dort, wo sie ihn erwartet hatte. Viel zu weit seitab, weit über der letzten Stecknadel. Zoe drückte die neue Markierung in die Wand und trat dann erneut zurück, machte sich einen Eindruck.

Und, oh, wie dumm sie sich in diesem Moment fühlte, da sie alle Hinweise hatte.

Was sie zuerst für eine gerade Linie mit kleinen Abweichungen und dann für eine Kurve gehalten hatte, war tatsächlich keines von beidem. Die Beugung war zu scharf, um korrekt als Kurve bezeichnet zu werden. Es war stattdessen eine Form, eine Form, die noch fertiggestellt werden musste.

Aber es war auch zu scharf für einen Kreis. Wenn die einzelnen Punkte sich in einer geschlossenen Schlaufe trafen, würde diese gequetscht und unzentriert sein, ein seltsames unförmiges Ding. Das Muster war dem Mörder viel zu wichtig, um diese Art Fehler zu begehen. Nein, es war kein Kreis.

Es war eine Spirale – oder würde es sein, wenn er es fertiggestellt hatte.

Ein wenig gequetscht, ein wenig verzerrt, aber eine Spirale.

Wie konnte sie das so lange übersehen haben? Rubie hätte nicht sterben müssen, wenn Zoe ermittelt hätte, dass der nächste Ort irgendwo entlang dieses Highways sein würde. Sie hätten Autos und Hunde und Hubschrauber stationieren können. Sie hätten ihn kriegen können, auch wenn seine Spirale von einem wirklich entworfenen Muster zu sehr abwich, um ihren Schätzungen vollständig akkurat zu entsprechen.

Aber passte das zu dem, was sie dachte? Wenn er sich auf das Muster konzentrierte, würde er es zulassen, dass es so unperfekt war? Das schien für Zoe nicht zu passen.

Die Opfer spielten keine Rolle, hatten nie eine Rolle gespielt. Der Mörder nahm sich nur jemanden, der im richtigen Moment am richtigen Ort war – jedenfalls für seine Zwecke – und machte aus demjenigen eine Stecknadel auf einer Landkarte. Wenn die Opfer keine Rolle spielten und der Mörder so wütend auf sein letztes Oper war, weil es davongerannt war, dann–

Zoe nahm die Stecknadel aus den Wäldern, wo der Körper gefunden worden war und bewegte sie zurück zum Anfang der Zufahrtsstraße. Der Ort, an dem er tatsächlich angegriffen hatte.

„Shelley, wurde das Opfer an dem Ort tot aufgefunden, an dem der Angriff geschah?“ fragte sie, Dringlichkeit in ihrer Stimme.

Shelley blätterte durch die anderen Seiten, die die Faxmaschine immer noch ausspuckte, runzelte die Stirn. „Warte, lass mich … Äh … Nein, sieht nicht so aus. Der Mann wurde in einem Farmhaus gefunden – warte, Mann? Das widerspricht dem Muster.“

„Nein, tut es nicht“, sagte Zoe ungeduldig. „Komm schon. Wo wurde er angegriffen?“

„Auf dem Grundstück der Farm.“ Shelley kam vorwärts, legte ihren Finger auf die Landkarte. „Hier. Sieht aus, als ob er wegrannte.“

Zoe bewegte die rote Stecknadel, nur ein klein wenig. Aber als sie das getan hatte, war die Spirale ordentlicher, aufgeräumter, mehr dem entsprechend, was sie erwartet hätte. Es zeigte sich, dass sie es von Anfang an falsch betrachtet hatten. Nicht die Fundorte der Leichen waren relevant. Es ging darum, wo die Angriffe stattfanden – die genauen, präzisen Orte, an denen der Mörder sie haben wollte.

Das Telefon klingelte erneut, irgendwo fern am Rand von Zoes Aufmerksamkeit. Sie ignorierte es, ließ Shelley sich darum kümmern. Das war jetzt nicht wichtig. Was wichtig war, war das Muster.

Er hatte die Tankstellenmitarbeiterin nicht um die Ecke laufen lassen, weil er sie ablenken oder ihr falsche Hoffnung geben wollte, oder weil es alles ein Spiel war. Es war dort passiert, weil es dort sein musste, da sonst seine Spirale nicht funktionieren würde.

Nun, da Zoe sie ansah, würde sie sie tatsächlich als perfekte Spirale bezeichnen. Nichts war ein Fehler und es gab keine Abweichung. Das war eine perfekte Spirale der Art, wie sie überall in der Natur zu sehen war, eine Fibonacci-Spirale, die Abstände verringerten sich in präzisen Verhältnisgrößen, bis sie einen Endpunkt erreichte.

Das bedeutete zwei Dinge. Das Erste war ermutigend: es hieß, dass es ein Ende der Morde geben würde.

Das Zweite war weniger erfreulich.

Es hieß, dass es noch drei Morde geben würde, bis die Spirale komplett war.

Возрастное ограничение:
0+
Дата выхода на Литрес:
15 апреля 2020
Объем:
292 стр. 4 иллюстрации
ISBN:
9781094305646
Правообладатель:
Lukeman Literary Management Ltd
Формат скачивания:
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