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Männer machen nicht mehr mit

Was können Männer tun? Sie streiken. Men On Strike heißt das passende Buch dazu von Helen Smith (deutsch: Männerstreik. Warum das starke Geschlecht auf Bindung und Kinder verzichtet). Der Ausdruck trifft die Sache nicht. Ein »Streik« ist allerdings auch nicht mehr das, was er einmal war, er steht nicht mehr im Zusammenhang von einem Arbeitskampf: Bei einem Streik von Kindergärtnern oder Lokführern wird nicht etwa ein Arbeitgeber unter Druck gesetzt, es wird unbeteiligten Dritten Schaden zugefügt. Greta Thunberg hat mit der Fridays-for-Future-Bewegung einen internationalen Schulstreik – Skolstrejk – losgetreten, dem sich auch der Papst angeschlossen hat, der jedoch nicht mehr zur Schule geht, so dass man in seinem Fall vom »Klima-Streik« spricht. In beiden Fällen passt der Begriff nicht: Man kann weder eine Schule noch das Klima bestreiken. Auch Frauen nicht. Oder Kinder. Wenn Meike Dinklage in ihrem Buch Der Zeugungsstreik. Warum die Kinderfrage Männersache ist ebenfalls von einem »Streik« spricht, macht sie denselben Fehler. Es ist kein Streik. Es handelt sich vielmehr um einen Rückzug, um eine generelle Verweigerungshaltung.

Männer ziehen sich auf allen Gebieten zurück. Sie meiden insbesondere die Ehe, die zu einem Modell verkommen ist, bei dem sie nur verlieren können. Roy Baumeister, dessen Spezialgebiet die »unerwiderte Liebe« ist, vergleicht eine Eheschließung von heute mit der Idee, sich betrunken tätowieren zu lassen. Diese Idee ist offenbar weit verbreitet, wie man im Sommer merkt, wenn man die leicht bekleideten Passanten anschaut. Tätowieren lassen sie sich schon, aber heiraten wollen sie nicht mehr, sie zeugen auch keine Kinder mehr – viele wollen gar nichts mehr mit Frauen zu tun haben.

Sie werden Migtows (sprich Migtaus), Flaptonauten, Herbivore (deutsch: Grasesser) oder InCels, auch Incels geschrieben. Die Bezeichnung »Migtow« geht auf die Abkürzung MGTOW zurück men go their own way, also: Männer gehen ihren eigenen Weg. Von einer Bewegung oder einer gut organisierten Gruppe kann man in diesem Fall nicht sprechen, schließlich gehen alle ihren eigenen Weg; einen, bei dem sie sich nicht mehr an den Wünschen von Frauen orientieren und angestrengt versuchen, der gynozentrischen Weltsicht zu entkommen. Mit diesem etwas sperrigen Begriff, der nach »Gynäkologie« klingt, ist gemeint, dass sich alles immer nur um Frauen dreht. Dadurch entsteht eine Unwucht, das Zusammenleben der Geschlechter verläuft nicht mehr harmonisch und verunglückt schließlich. Es ist ein altes Lied und ein altes Leiden. Schon die Frauen in Sparta galten als selbstherrliche Weiber, die nur noch herablassend über Männer redeten, weshalb die Griechen die Gynaikokratie – daher das Wort – fürchteten und sich Spartaner-Witze erzählten. Heute werden keine Witze mehr gemacht.

Manche der Migtows sehen sich als Boykotteure, die als Störfaktoren den Verfall des Systems beschleunigen werden, andere sind einfach nur resigniert. Sie vertrauen dem Rechtssystem nicht mehr, der Politik sowieso nicht, der Presse schon mal gar nicht. Sie sehen in Familiengerichten, Anwälten, Gutachtern, Jugendämtern, Gleichstellungsbeauftragten und Hilfsorganisationen eine Art Kartell mit zum Teil offen kriminellen Machenschaften. Da machen sie nicht länger mit – »they are checking out« – sie sehen keinen Sinn darin, sich in einem abgekarteten Spiel aufzureiben und sich gutgläubig an die Polizei, an Gerichte, an die Politik oder die Öffentlichkeit zu wenden. Das unterscheidet sie von den Aktivisten, die man behelfsweise »Männerrechtler« nennt, oder auch – ob sie wollen oder nicht – »Maskulisten« oder »Maskulinisten«. Doch diese Begriffe sind Fremdzuschreibungen, die zögerlich und zähneknirschend in Ermangelung eines besseren Begriffes übernommen werden. Es gibt keine Gruppierungen, die sich »Maskulisten« nennen, »Maskulinisten« schon mal gar nicht. Es sind immer nur Einzelstimmen. Sie werfen den Migtows vor, sich der vorherrschenden Ideologie unterworfen und bedingungslos kapituliert zu haben. Migtows dagegen finden, dass jeder, der immer noch versucht, innerhalb des Systems um sein Recht zu kämpfen oder meint, mit Argumenten etwas bewirken zu können, den Ernst der Lage nicht verstanden hätte.

Flaptonauten verzichten nicht nur auf Sex mit einem Partner, sie verzichten auch auf Ersatz- und Selbstbefriedigung und haben den Monat November zum No-Flap-Monat erkoren, zu einer Art von Self-Sex-Ramadan. Sie sehen es als Form der Askese. Als Herbivore werden junge Männer in Japan bezeichnet, die sich ebenfalls radikal von jedem Sexleben abgewandt und entdeckt haben, dass es auch so geht. Hanna Rosin nennt Zahlen, nach denen fast 50 % der Männer in Japan keine Lebenspartnerin mehr wollen. Sie sieht es als einen der viele Belege für die Überlegenheit der Frauen, die sie schon im Titel ihres Buches Das Ende der Männer und der Aufstieg der Frauen deutlich macht.

Herbivore gelten als exotisch und harmlos. Im Unterschied zu den InCels, die unfreiwillig keusch sind und sich damit nicht abfinden wollen. Der Name ist eine Zusammensetzung aus »involuntary« (unfreiwillig) und »celibacy« (Zölibat). Incels werden gefürchtet, weil man ihnen Racheakte unterstellt. Es sind unruhige Männer, denen man nachsagt, dass sie bisher keine Frau abgekriegt haben und auch in Zukunft keine abkriegen werden. Man vermutet, dass sie ebenso leiden wie einst der junge Werther gelitten hat, nur dass es bei ihnen nicht um eine einzelne angebetete Frau geht und nicht zum Selbstmord, sondern zum pauschalen Hass auf alle Frauen führt, der sich ungehemmt im Internet austobt und sogar zu offener Gewalt führt.

In Toronto hatte Alek Minassian wahllos zehn Passanten überfahren. Da man ihn den Incels zurechnet, gilt seine Tat als eine der ersten, speziell »gegen Frauen« gerichteten »terroristischen Angriffe«, von denen zukünftig noch mehr erwartet werden. In Ausweitung der Kampfzone von Michel Houellebecq gibt es eine Szene (die mir allerdings nicht glaubwürdig erschien): Da tötet jemand ein ihm fremdes Paar, das sich nach einem Disco-Besuch mit einem spontanen Sexabenteuer in den Dünen vergnügt, weil er sich selber von so einem lustvollen Leben ausgeschlossen sieht.

Von solchen Männern wird es umso mehr geben, je mehr sich die Gesellschaft von der Monogamie abwendet, die ein vergleichsweise friedliches Zusammenleben ermöglicht, und stattdessen ein polygames Modell fördert, das stark konfliktgeladen ist, weil in so einem System ein Mann viele Frauen hat und viele Männer keine. Ein Mann mit vielen Frauen hat auch viele eifersüchtige Feinde und viele Männer ohne Frauen sind gefährlich. Die überschüssigen und chancenlosen Männer werden zu einer ständigen Bedrohung für ungebundene Frauen, die durch ein Kopftuch symbolisieren müssen, dass sie unter besonderem Schutz stehen. Sonst sind sie ausgeliefert und werden zu Opfern von Vergewaltigungen und dem, was man »taharrush gamea« nennt, was seit Silvester 2015 auch in Deutschland angekommen ist. Das Problem wird sich noch verstärken, je mehr Männer mit großen Träumen und geringen Chancen importiert werden und hier einer Reizüberflutung ausgesetzt werden, die sie bisher nicht kannten. Sie werden bald schon die treuherzige Vorstellung beerdigen, dass bei uns jeder sein Glück finden kann und dass es, weil doch alles so wundersam gleichverteilt ist, für jeden Topf einen passenden Deckel gibt. Man kann hier auch sein Unglück finden.

Die einen kriegen keine Frau, die anderen wollen keine mehr. »Ich will nie wieder eine Frau in meinem Leben«, sagt jemand in der Schweizer Fernsehsendung 20 Minuten. Schon Verabredungen sind inzwischen zu riskant geworden. Viele wollen flüchten – aber wohin? In die Unwirklichkeit der Bilderwelt, die den Sehnsüchtigen nur umso sehnsüchtiger zurücklässt? Oder soll man sich ganz auf eine Umformatierung des Gefühlslebens einlassen und das Liebesverlangen zu einer Angelegenheit von bezahlten Dienstleistungen machen? Lieber nicht. Eine Prostituierte kann sich schnell als Zwangsprostituierte erweisen; der Freier, der das nicht rechtzeitig erkennt, wird noch nachträglich bestraft. Kämpfern gegen Sexismus geht es darum zu strafen, nicht darum, jemandem zu helfen. Houellebecq sieht in dem Angriff auf die Prostitution, die hinter dem vorgeblichen Kampf gegen Zwangsprostitution steckt, einen Schlag, der in Wirklichkeit gegen die Ehe gerichtet ist, die bisher durch die Schattenseite der Prostitution wie durch ein Überdruckventil stabilisiert worden war. Auch in Deutschland häufen sich Stimmen, die jede Prostitution verbieten – besser gesagt: in die Illegalität verdrängen – wollen.

»Sobald es annehmbare Sex-Roboter gibt, werde ich sie nutzen«, bekennt einer der Schweizer in der obengenannten Sendung. Doch selbst das ist problematisch. Feministen fordern bereits die Schließung der ersten Sexpuppen-Bordelle. Dort würden die Puppen nämlich – woher auch immer man das wissen will – von den Kunden vergewaltigt. Nun hat es also auch die Puppen – die fembots – erwischt. Ein Hauch von Gewalt liegt über allem, was früher Spiel, Flirt, Scherz, Tanz, Erotik, Fantasie, Spaß, Vergnügen, Verständnis, Vertrauen, Lust, Leichtsinn, Sehnsucht, Berührung, Risiko, Nähe, Wohlwollen, Freundlichkeit, freies Sprechen, Kunst und Liebe war. Wir dürfen nicht einmal mehr Witze machen, die uns trösten könnten. Es wären sexistische Witze. Die sind strafbar. Zum kulturellen Kahlschlag gehört auch das Ende der Witze.

Rotes Licht für die Liebe. Grünes Licht für Sex

Im Jahre 1978 schien die Sexwelle wieder abzuflauen, als wäre nichts Besonderes vorgefallen, die Report-Filme lagen in den letzten Zuckungen. Hurrah, die Schwedinnen sind da verzeichnete noch einen gewissen kommerziellen Erfolg und erinnerte daran, dass einst eine Sexwelle aus dem Norden herübergeschwappt kam, doch der inzwischen 12. Teil der Schulmädchenreports war kein Kassenschlager mehr. Vielleicht lag es am Titel: Junge Mädchen brauchen Liebe.

Das schien nicht besonders gefragt zu sein. Das reizte nur wenige, es herrschte Ebbe an den Kinokassen. Da half es auch nicht, dass der Streifen schon ab 16 zugelassen war. Vielleicht irritierte die im Titel aufgeführte »Liebe« sogar mehr als sie lockte, denn bisher hatte der besondere Reiz – und eigentliche Skandal – der Filme darin gelegen, dass Liebe keine Rolle spielte. Nur Sex.

Eva Illouz hat über einen Zeitraum von 30 Jahren die Entwicklung der Liebe beobachtet und ihre Eindrücke in dem Buch Warum Liebe endet zusammengefasst. Sie hat eine grundlegende Veränderung festgestellt: Zur Sexualität, wie man sie heute beobachten kann, erklärt sie: »Sie ist fast zum zentralen Merkmal von guten Liebesbeziehungen geworden. Liebe erwächst heute aus sexuellen Handlungen – und nicht umgekehrt«. Also: erst Sex, dann Liebe.

Wenn das stimmt, wäre das eine Veränderung im großen Stil, ein Paradigmenwechsel. Dann hätten sich die Prioritäten verschoben. Es hätte eine Umorientierung gegeben, die so bedeutungsvoll ist wie der Wandel von einer säkularen Gesellschaft zu einer religiösen – oder umgekehrt. Wir hätten, wenn die Einschätzung von Illouz richtig ist, ein neues Vorzeichen, wir hätten geänderte Vorfahrtsregeln beim Geschlechtsverkehr: Sex käme vor Liebe. Stimmt das?

Als Frauen in die Bundeswehr aufgenommen wurden, gab es im ersten Jahr vier Anzeigen wegen Vergewaltigung. Eine davon wurde gleich wieder ad acta gelegt, die Klägerin heiratete den Beklagten. Bei ihnen war tatsächlich Sex zuerst gekommen, sie hatten sich verstolpert. Wie war das bei den Schulmädchen? Kam bei denen auch zuerst Sex und hat sich später daraus eine Liebesbeziehung entwickelt? Ich hatte nicht den Eindruck. Den Report mit der laufenden Nummer 2 habe ich mit meiner Freundin angesehen – wir waren gerade mal volljährig und durften erst ins Kino, nachdem wir unsere Ausweise vorgezeigt hatten. Wir hatten den Eindruck, dass wir mit unserem eigenen Liebesleben besser dastünden als die Schulmädchen und haben gleich gemerkt, was da faul war: Die Mädchen haben »es«, wie wir damals sagten, nicht aus Liebe getan und »es« trotzdem getan. Es fehlte das Vorspiel. Es fehlte die Sehnsucht, das Drama um den ersten Kuss, die Bereitschaft zur Liebe. Es war wie in dem Witz, der kursierte, als Armin Hary mit 10,0 Sekunden den Weltrekord im Hundertmeterlauf aufgestellt hatte. Da hatte doch glatt ein Scherzbold behauptet, der Rekord wäre wieder gebrochen worden, jemand hätte nur 7 Sekunden gebraucht. Wie das? Er hatte eine Abkürzung gefunden. So war Schulmädchensex: Sie hatten eine Abkürzung gefunden, die es nicht gibt.

Erst muss die Liebe kommen – sei sie noch so ein zartes Pflänzchen. Wie unterscheidet sich sonst eine sexuelle Handlung von Vergewaltigung oder Prostitution? Wenn nicht wenigstens die Vorzeichen einer Liebe vorhanden sind, fehlt ein Rahmen, als würde man versuchen, ein Glas Wein einzuschenken und hätte kein Glas. Ohne vorausgehende Küsse, ohne Signale von gegenseitigem Einverständnis müssen alle weiteren Mühen entweder als Missverständnisse enden oder als Dienstleistungen gelten, die noch auszugleichen sind. Deshalb küssen Nutten nicht. Sie wollen vermeiden, dass es zu einer Ausschüttung von Glückshormonen kommt, die eine Bindung an einen Partner schaffen, den sie nicht wollen. Sie versuchen mit der Zurückhaltung von Küssen und Zärtlichkeiten, gewisse Teile aus dem Repertoire intimer Handlungen für sich zu behalten und nicht in die Handelsbeziehungen einfließen lassen.

Alles, was dem sexuellen Akt vorausgeht, ist nicht etwa ein verzichtbares Vorspiel, das sich wegkürzen lässt – es ist das Leben selber. Wenn einem das Wort »Liebe« zu kitschig ist, kann man so sagen: Der Begegnung mit einer Person, mit der man sich auf eine sexuelle Begegnung einlässt, muss eine Wertschätzung zugrunde liegen, die den ganzen Menschen umfasst. Ein Nachspiel ist stets mitgedacht, auch wenn nicht deutlich darüber gesprochen wurde. Offenbar hatte Illouz Paare im Blick, die sich in Sexabenteuer gestürzt, aber versäumt hatten, sich vorher zu küssen und sich Gedanken über ein Nachher zu machen. Deshalb kann sie schreiben: »Liebe ist wie das Licht eines erloschenen Sterns.«

Geht es überhaupt ohne Liebe? Muss sie nicht grundsätzlich an erster Stelle stehen und an jeder Kreuzung, an der sich die Geschlechter begegnen, Vorfahrt haben?

Feministen haben die Liebe in ihren Schriften immer wieder verdammt, als Unterdrückungsmechanismus enttarnen und ihr die Vorfahrt nehmen wollen. Alexandra Kollontai, die als Ministerin unter Lenin Die neue Moral der Arbeiterklasse – so der Titel ihrer Broschüre – beschrieb, hatte sich schon 1918 Gedanken dazu gemacht. Berühmt; ja, geradezu berüchtigt, wurde sie mit einer Formulierung, bei der sie den Geschlechtsakt mit »einem Schluck Wasser« verglich.

Kollontai hielt die Liebe für eine Ausnahmeerscheinung, die sich vor allem im bürgerlichen Milieu findet. Die »große Liebe« steht bei ihr in Anführungsstrichen, sie ist ein »seltenes Geschenk des Geschickes, dessen nur wenige Glückliche teilhaftig werden. Die mächtige Zauberin ›große Liebe‹, die mit leuchtenden Farben unser graues Dasein schmückt, geizt mit ihrem Zauberstab den menschlichen Herzen gegenüber. Millionen Menschen haben nie die Allmacht ihrer berückenden Glut erfahren. Was soll mit diesen Enterbten, diesen Umgangenen geschehen?«

Die sollen sich mit dem »Liebesspiel« begnügen: »Dort, wo die große Liebe fehlt, dort wird sie ersetzt durch das ›Liebesspiel’«. Das müssen wir jedoch erst lernen, deshalb spricht Kollontai von der »Schule der Liebe«. Erst wenn wir die erfolgreich absolviert haben, entsteht eine neue »große Liebe« für alle, für die ganze Menschheit: »Damit die große Liebe zum Erbe der ganzen Menschheit werde, muss die schwierige, die Seele adelnde Schule der Liebe durchschritten werden«. Diese große Transformation, bei der wir die Liebe, wie wir sie bisher kennen, zurücklassen und als Liebe, die zum Erbe der ganzen Menschheit wird, neu entdecken, kann nur gelingen, wenn alle mitspielen. Das würde, wie sie schon ahnte, nicht gerade leicht werden. Doch man müsse sich bewusst sein, schreibt sie, dass die Liebe eine Kraft sei, »die sich in dem Maße vermehrt, als man Gebrauch von ihr macht.«

Was sie »Liebesspiel« nennt, würde man heute als sexuelle Aktivität durchgehen lassen. Die Genossen sollten sich getrost schon mal ohne »große Liebe« sexuell betätigen. So war ihre Botschaft gemeint. Es wäre ein erster Schritt in die richtige Richtung, Frauen könnten so die schweren Ketten sprengen, die ihnen vom bürgerlichen Leben und von einer legalen Ehe angelegt würden. Entsprechend sahen die revolutionären Dekrete aus: 1918 wurde die Aufhebung der Ehe verfügt, kirchliche Trauungen wurden abgeschafft, Abtreibungen legalisiert. Scheidungen wurden erleichtert und galten als Frage der persönlichen Entscheidung.

Es war eine Zeit sexueller Exzesse, wie sie auch bei anderen revolutionären Umbrüchen auftreten. »Mit 10 Jahren war ich schon allen möglichen unanständigen Verhaltensweisen ausgesetzt. Pornografische Bilder waren nicht gerade eine Seltenheit«, schrieb ein anonymer Soldat kurz vor der Revolution. Michail Bulgakow notierte in seinem Tagebuch: »Sehr nackte Menschen mit Armbändern mit der Aufschrift ›Weg mit der Scham!‹ sind kürzlich in Moskau aufgetaucht. Eine Gruppe wurde gesehen, wie sie in eine Straßenbahn stieg. Die Bahn hielt an, die Öffentlichkeit empörte sich!« So war das. Zunächst.

Vage Versprechungen, alte Ketten abstreifen und bisher ungekannte Freiheiten erleben zu dürfen, gehören stets zu den Verheißungen einer Revolution im Anfangsstadium. Was dann? Dann war wieder Schluss damit. 1936 brachte Stalin die Wende und schaffte die Kollantai-Reformen wieder ab. Es hatten sich auch nicht alle bewährt. Die Einrichtung von Heimen für Kinder, die man aus den Familien herausholte, damit die Frauen arbeiten können, führte dazu, dass die Kinder massenhaft aus den Heimen flüchteten und es vorzogen, in Banden auf der Straße zu leben.

Die Revolution brachte sofort neue Ketten, die von der »Moral der Arbeiterklasse« bereitgehalten wurden. Das zeigt sich – womöglich unfreiwillig – in einem Zitat von Kollontai, in dem sich die revolutionäre Frau kurzfristig von den Fesseln der Familieninteressen befreit, um sich sogleich in die Ketten der Klassengemeinschaft zu begeben: »Die Fesselung der Frau an das Haus, das Betonen der Familieninteressen, die Verbreitung des Begriffs von einem ausschließlichen Besitzrecht des einen Ehegatten an dem anderen – all dies sind Erscheinungen, die die grundlegenden Prinzipien der Ideologie der Arbeiterklasse, der kameradschaftlichen Solidarität zerstören, die die Kette der Klassengemeinschaft zerreißen.« Diese Kette – gemeint ist die der Klassengemeinschaft und die der kameradschaftlichen Solidarität – darf keinesfalls zerrissen werden und so hieß es für die Frau im revolutionären Russland: raus aus den Ketten der Familie, rein in die Ketten der Arbeiterklasse. So wie es für die Frau von heute heißt: raus aus der Abhängigkeit vom ehemals geliebten Ehemann, rein in die Abhängigkeit zum sowieso nicht geliebten Staat. Raus aus den Zwängen der Rollenbilder des Patriarchats, rein in die Zwänge der Rollenbilder des Gender-Mainstream.

Die Liebe, die zur bürgerlichen Familie gehört, verschwindet bei Kollontai nicht, um durch befreiten Sex von der Pole-Position verdrängt zu werden, vielmehr tritt etwas anderes an die erste Stelle, an der bisher die Liebe zum Partner und zur Familie stand: die Liebe zur Revolution, die Verpflichtung gegenüber der Arbeiterklasse, die Kette der Klassengemeinschaft. Sex blieb untergeordnet und sollte es auch weiterhin bleiben. Die Konflikte zwischen Mann und Frau galten sowieso nur als Nebenwiderspruch. Sex stand nicht an oberster Stelle. Noch nicht. Nicht im Kommunismus. Sex wird erst dann zur wichtigsten Sache, wenn eine Zeit anbricht, die ganz von Sexismus geprägt ist – so wie unsere Zeit; die Epoche, die Illouz beobachtet hat.

Ich gehöre vermutlich noch zu den letzten Jahrgängen von Männern, die erst eigene Erfahrungen gemacht und danach Filme zu dem Thema gesehen haben. Ich habe erst geküsst. Womöglich ist das heute anders. Heute gibt es für alles, was man anfangen will, ein Video als Tutorial. Man sollte jedoch nicht verkennen, wie lange ein Licht noch leuchtet, wenn ein Stern schon erloschen ist. Das Licht der Liebe – um das Zitat von Illouz weiter zu benutzen – leuchtet immer noch. Liebe ist nach wie vor Trumpf. Auch wenn Sex gelegentlich versucht, sich vorzudrängeln.

Wenn jemand meint, Sex hätte Vorrang vor der Liebe, kommt es mir vor, als wollte er die Dinge absichtlich auf den Kopf stellen wie in der Redewendung »to put the cart before the horse«. Es würde dann die Karre vor das Pferd gespannt. In Deutschland wurde das tatsächlich ausprobiert. Karl Friedrich Christian Ludwig Freiherr Drais von Sauerbronn, der seinen Adelstitel aus Protest ablegte und unter dem bürgerlichen Namen Karl Drais als Erfinder des Laufrades und der Schreibmaschine bekannt wurde, hatte tatsächlich kurzfristig mit einem Modell experimentiert, bei dem das Pferd schieben sollte und die Karre vor das Pferd gespannt war.

Es hat sich, wie wir inzwischen wissen, nicht durchgesetzt.

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