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Die Schrecken der Flut und die Schrecken der Ebbe

Im Jahr 1977 erlebte die Sexwelle einen spektakulären Höhepunkt. Man hatte schon vorher leichte Wellenschläge spüren können: Es gab Sex-Kinos und kleinere Rotlichtviertel in Bahnhofsnähe, zumeist in Städten, in denen Soldaten stationiert waren, doch nun hatte sich ein heftiger Sturm zusammengebraut. Die Sexwelle, die über Deutschland hereinbrach, war nicht nur eine harmlos Modewelle, es war eine Monsterwelle, die bleibende Schäden hinterließ.

Es hatte einen gewissen Anlauf gebraucht: Schweden und Dänemark waren mit der Freigabe von Pornographie und einem liberalen Umgang mit Homosexualität vorausgegangen. Das hatte in den skandinavischen Ländern zu einer Mode von Schweden-Witzen geführt. 1969 hatte in Kopenhagen die erste Sexmesse stattgefunden, bei der die Besucher von splitternackten Hostessen begrüßt wurden; erste Sexshops wurden in Kopenhagen und direkt an der Grenze zu Deutschland eröffnet. Nicht weit von der Landesgrenze hatte sich auf deutscher Seite der Beate-Uhse-Versand niedergelassen; die Sexwelle kam mit einer steifen Brise aus dem kühlen Norden.

Post aus Flensburg konnte nun zweierlei Bedeutung haben: Verkehrssünder erhielten Mahnungen vom Kraftfahrt-Bundesamt, Sünder des Geschlechtsverkehrs kleine Päckchen vom diskreten Beate Uhse Versand – wenn wir die Kunden des Versandhauses als Sünder der besonderen Art ansehen wollen: als Geschlechtsverkehrssünder, was sicher einige ihrer Ehepartner so empfunden haben. Vielleicht sogar die Kunden selber. Neugier, Unbehagen, Schuldgefühle und Lust gingen direkt ineinander über. Für manche lag allein schon der Besuch in einem Sexshop im Grenzbereich zum Seitensprung und wurde als moralische Verfehlung, zumindest als Versagen angesehen.

Die Sexwelle erreichte auch die literarische Welt. Bei einem Rundgang auf der Buchmesse konnte man in dem Jahr – aus heutiger Sicht unvorstellbar – riesige Nacktfotos sehen, als hätte man sich auf eine Sexmesse verirrt. Etwa zehn Jahre zuvor – also im Jahr 1969 – war die entscheidende Wende in der Rechtsprechung vorausgegangen: Der Bundesgerichtshof sah nach eigenem Bekunden seine Aufgabe nicht länger darin, einen moralischen Standard durchzusetzen, vielmehr wollte er sich darauf beschränken, die Gemeinschaft vor Störungen zu schützen. Eine ganze Reihe von Delikten wurden seitdem abgeschafft: zum Beispiel der Ehebruch – der galt bis dahin als Delikt –, die Unzucht mit Tieren, die einfache Homosexualität, die Erschleichung des Beischlafs und die Kuppelei. In der Diskussion um den Roman Die Memoiren der Fanny Hill wurde exemplarisch eine Unterscheidung zwischen weicher und harter Pornografie vorgenommen. Das Buch war bereits 1906 erschienen und stand seither auf dem Index. Nachdem 1964 eine »Luxusausgabe« ediert und wiederum indiziert wurde, klagte der Verleger: Anno 1969 hielt das Gericht fest, dass weiche Pornografie weder für Erwachsene noch für Jugendliche schädliche Folgen hat.

Schon ab 1970 konnte daraufhin eine Serie von Schulmädchen-Reporten anlaufen – stümperhafte Episodenfilme im Stil einer Scheinauthentizität, die sich auf wahre Erlebnisse bezogen und dennoch verlogen waren. Rückblickend sieht der Filmproduzent Wolf C. Hartwig darin die »Geschäftsidee seines Lebens«. Die ohne Aufwand mit unbekannten Schauspielern gedrehten Pseudo-Dokumentationen hatten weltweit insgesamt über 100 Millionen Zuschauer erreicht. Es folgte eine ganze Reihe solcher Filme, Hausfrauen-Report, Lehrmädchen-Report, Tanzstunden-Report, Krankenschwestern-Report – Provinzpossen im Vergleich zu dem, was gleichzeitig in Amerika passierte.

Es gab nicht nur eine, es gab mehrere Sexwellen: Eine aus dem Norden, eine weitere kam über den großen Teich geschwappt. Im Januar 1972 war zuerst in New York, wenig später in anderen Städten, ein Film in die Kinos gekommen, der, wie es heißt, die Nation spaltete wie sonst nur der Vietnamkrieg: Deep Throat, ein von einer Handvoll unbeholfener Halbamateuren heruntergekurbelter Porno, der in wenigen Jahren über 600 Millionen Dollar eingespielt haben soll und damit einer der profitabelsten Filme aller Zeiten ist. Was dermaßen viel Geld einspielt, gilt etwas im Kapitalismus. Das schmuddelige Genre, das bis dahin ein tristes Dasein in Hinterzimmern fristete, war damit auf der großen gesellschaftlichen Bühne angekommen. In den Schlangen vor den Kinos sah man verheiratete Pärchen und Damen in eleganter Abendgarderobe. Noch gab es leichten Gegenwind, der Hauptdarsteller Harry Reems musste für einige Zeit ins Gefängnis, doch mit dem großen kommerziellen Erfolg war der Porno salonfähig geworden und war nicht länger eine unbedeutende Randerscheinung. Er hatte gesamtgesellschaftliche Bedeutung erlangt. Wer sich zu Deep Throat äußerte, urteilte nicht nur über einen Film, sondern gleich über die sittliche Zukunft Amerikas. Seit dem Film Panzerkreuzer Potemkin, so wird in Darstellungen zur Kinogeschichte behauptet, hatte kein anderer Film so eine Wirkung erzielt. Hatte Panzerkreuzer Potemkin seine Bedeutung für die kommunistische Weltbewegung und der Film Birth of a Nation für das Selbstverständnis der Vereinigten Staaten nach dem Bürgerkrieg, so hatte Deep Throat seine Bedeutung für die nun heraufdämmernde Zeit, die im Zeichen der Überbewertung von Sexualität stehen würde: Sex war plötzlich allgegenwärtig.

Mit Deep Throat war zumindest in den USA der Vorstoß in den Mainstream geschafft. Bald schlossen sich Kultfilme an wie Der letzte Tango von Paris, die auch bis Tübingen vordrangen. Vorher hatte noch das generelle Verbot für Pornografie fallen müssen – und es war gefallen. Zuerst 1968 in Dänemark, was die erwähnte Sexmesse ermöglicht hatte. In Deutschland fiel das Verbot erst 1975. Vorausgegangen war das 4. Gesetz zur Reform des Strafrechts, das eine weitere Liberalisierung mit sich brachte und im Sinne der Reformen von 1969 sich jeder moralisierenden Wertung von sexuellen Tätigkeiten entzog. Das zeigte sich bereits an der Neufassung der Überschriften: »Verbrechen und Vergehen wider die Sittlichkeit«, wie es bis dato hieß, wurde durch »Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung« ersetzt. Der Begriff »unzüchtige Handlung« wurde komplett gestrichen. Es war genau diese Unterscheidung zwischen »Unmoral« und »Sozialschädlichkeit«, die den Wertewandel widerspiegelte: Bestraft werden sollte ein Verhalten nur, wenn es die Interessen anderer oder die der Gemeinschaft verletzte, nicht aber, wenn es unmoralisch war.

Inzwischen hat sich der Wind gedreht. Vierzig Jahre Hochwasser haben die Verhältnisse komplett verändert. Nun wird wieder gewertet. Die Moral hat sich zurückgemeldet, tritt gnadenlos als Hypermoral auf und hat eine Zensur eingeführt, die strenger und umfassender ist als alles, was wir bisher kannten. Die Memoiren der Fanny Hill stehen – zumindest in einigen Universitäten in Kanada – wieder auf dem Index, diesmal weil sie von einigen Studenten als »unerträglich heteronormativ« empfunden werden. Es gibt neue Varianten von sexuellem Fehlverhalten und von »sexistischer Gewalt«. Selbst wenn sie im Mikrobereich liegen, drohen drakonische Strafen. Kleinste Verfehlungen reichen aus, um ein Lebenswerk zu zerstören, auch wenn sie schon lange zurückliegen, bisher nicht als solche angesehen wurden, nicht bewiesen werden können und auch keinen erkennbaren Schaden angerichtet haben – wie der Fall Hunt zeigt:

So wurde gemeldet, der Nobelpreisträger Timothy Hunt, ein Molekularbiologe, habe bei einer Konferenz in Südkorea eine Bemerkung gemacht, die Empörung und betretenes Schweigen ausgelöst hätte: »Lassen Sie mich über meine Probleme mit Mädchen sprechen. Drei Dinge passieren, wenn sie im Labor sind: Du verliebst dich in sie, sie verlieben sich in dich und wenn du sie kritisierst, weinen sie.« Es gab einen gigantischen Sturm der Entrüstung. Hunt musste die Konsequenzen ziehen und von seiner Position als Honorarprofessor zurücktreten – wegen eines »sexistischen Kommentars«, wie die Presse meldete. Auch die britische Forschungsgesellschaft Royal Society distanzierte sich von ihm.

Er trat nicht zurück, er wurde getreten. Er fiel tief, seine Karriere war auf einen Schlag beendet. Als der damalige Londoner Bürgermeister Boris Johnson sich schützend vor ihn stellen wolle und den »unerbittlichen Moloch politische Korrektheit« anprangerte, geriet er selbst in die Schusslinie, es hieß, er mache sich »schuldig im Sinne des Antidiskriminierungsgesetzes«. Hunt hatte tatsächlich gesagt, dass Frauen weinen, wenn man sie kritisiert, er hatte allerdings auch – wie absichtlich nicht gemeldet wurde – ergänzt: »Spaß beiseite, ich bin beeindruckt von der wirtschaftlichen Entwicklung Koreas. Und Wissenschaftlerinnen spielten dabei zweifellos eine wichtige Rolle. Wissenschaft braucht Frauen.« Applaus! Gelächter! Die ersten Meldungen waren von der Journalistin Connie St Louis bewusst verfälscht worden. Sie wollte ihn fertig machen. Der Kampf gegen Sexismus ist grausam und verlogen, Schuldbeweise sind nicht nötig, es werden vorzugsweise Unschuldige gerichtet – beinah wäre der Kampf erfolgreich gewesen: Sir Richard Timothy Hunt stand kurz davor, sich das Leben zu nehmen.

Hände hoch! Keine falsche Bewegung!

Die Stimmung ist gekippt. Sexualverbrechen und Gewalttaten haben zugenommen; manche sind von bisher nicht gekannter Scheußlichkeit. Wenn man zurückdenkt an Sommertage im Freibad, an nächtliche Spaziergänge, stimmungsvolle Weihnachtsmärkte und Open-Air-Veranstaltungen, die seit den Siebzigern das Leben in der Stadt mit mediterranem Flair durchwehten und uns die neue Lebensqualität bescherten, von der Willy Brandt einst gesprochen hatte, erscheint einem das wie ein Blick in ein Fotoalbum aus einer versunkenen Welt.

Nach den Übergriffen in der Silvesternacht in Köln hatte es keinen Aufschrei gegeben. Wer Opfer von nicht-deutschen Tätern beklagt, wird als Fremdenfeind und Rassist beschimpft, als jemand, der solche Fälle instrumentalisieren will. Also schweigen wir. Wir erfahren auch wenig von den »orientalischen Vergewaltigungen« in Norwegen und Schweden – im Jahr 2018 wurden laut Polizeibericht 20 Vergewaltigungen pro Tag gemeldet. Und wir wissen wenig von den erschütternden Schicksalen der Mädchen der grooming-Skandale (damit ist Anbahnung sexueller Kontakte gemeint, um Minderjährige zu missbrauchen) von Rotherham, Rockdale, Oxford, Derby, Halifax, Newcastle und Telford – allein da geht es um etwa tausend Fälle –, die jahrelang vertuscht wurden. Das gab keinen Aufschrei.

Geschrien wird im Internet mit einem flotten Hashtag oder Shitstorm. Nun sind es Frauen, die nicht länger an sich halten können und sich lustvoll an den digitalen Steinigungen beteiligen, bei denen sie feige in der Anonymität untertauchen, oder – wie im Fall Hunt – kokette Selfies ins Netz stellen, auf denen sie mit falschen Tränen posieren. Ihnen geht es um Anlässe ganz anderer Größenordnung. Je bedeutungsloser sie sind, umso aufgedrehter wird das Kreischen.

Mit dem Hashtag #metoo ging ein Aufschrei um die Welt, der bei einigen Prominenten – und solchen, die es gerne wären – alte Erinnerungen hochkochte, die zu neuen Beschuldigungen führten, die wie Streubomben wirkten und unüberschaubar viele Unschuldige ins Unglück rissen: Es kam zu Selbstmorden, Löschungen, Kündigungen und Absagen: Filmszenen aus Alles Geld der Welt, in denen Kevin Spacy, mitgewirkt hatte, wurden neu gedreht, Spotify nahm Songs von R. Kelly aus der Playlist, Konzerte mit Plácido Domingo wurden abgesagt, es gab keinen Literaturnobelpreis. Die Ausfälle im Kulturbereich waren keine bloßen Kollateralschäden, für die Krieger im Kulturkampf waren es Etappensiege im culture war, der auch »cancel culture« genannt wird, Versuch einer Auslöschung der gesamten Kultur. Die Schäden sind nicht mehr zu überblicken. Es hat vor allem Unheil gebracht und kaum einen – oder gar keinen – Gewinn. Die meisten Beschuldigungen wurden inzwischen wieder fallen gelassen, es gab nur wenige tatsächliche Verurteilungen, die es womöglich auch ohne MeToo-Welle gegeben hätte. Dass es auch in der Welt der Prominenten Widerlinge gibt, die für ihr Verhalten gegenüber Frauen Strafe verdient haben, ist keine Neuigkeit und müsste nicht zu Beschuldigungen nach dem Gießkannenprinzip führen.

Die schwedische Außenministerin Margot Wallström erinnerte sich, dass sie wie paralysiert war, als ihr Tischnachbar ihr vor Jahren bei einem Bankett die Hand aufs Knie gelegt hatte. Deshalb wollte sie die Kampagne MeToo auf höchster Ebene unterstützen. Was hätte sie sonst auch tun sollen? Sie hätte es ja nicht gleich der ehemaligen Umweltministerin Barbara Hendricks nachmachen müssen, die eine Zigarette auf dem Handrücken eines Mannes ausgedrückt hatte – vielleicht ist Wallström Nichtraucherin –, doch sie sollte schon in der Lage sein, so eine Situation zu bewältigen, ohne eine Staatsaffäre daraus zu machen. Vermutlich leidet sie unter den Spätfolgen von erlernter Hilflosigkeit durch überbehütete Erziehung. Das Unvermögen solcher Frauen, private Angelegenheiten privat regeln zu können, führte zu einer scheinheilig als »notwendige Debatte« bezeichneten politischen Durchsetzung von neuen Verhaltensvorschriften am Arbeitsplatz – als wäre der bisher für Frauen unzumutbar gewesen.

In manchen Firmen in den USA gehört es zu den neuen compliance-Regeln, dass man es melden soll, wenn sich bei Mitarbeitern eine Liebesbeziehung anbahnt. Dabei war der Arbeitsplatz früher eine ideale Begegnungsstätte gewesen, da konnten sich Freundschaften und Ehen anbahnen. Warum – so könnte man naiv fragen, wenn man das Wesen der MeToo-Kampagne nicht verstanden hat, – warum also sollte die Entstehung von Liebe unterbunden werden, es ist doch überhaupt nicht gesagt, dass jede Beziehung zu Missbrauch führt? Doch. Genau das soll damit gesagt sein. Hier wird sprichwörtlich das Kind mit dem Bade ausgeschüttet – eine Redewendung, die mich als Kind stark beeindruckt hat, vermutlich weil es Babyfotos von mir gibt, die mich in einer Zinkwanne zeigen. Ein Kind mit dem Bade auszuschütten schien mir ein dermaßen dummer und zugleich leicht vermeidbarer Fehler zu sein, dass ich nie verstehen konnte, wieso man so etwas tun konnte.

Genau das wird aber getan. Verschiedene Firmen haben aufgrund der MeToo-Welle einen neuen code of conduct entwickelt. So gibt es Firmen, die vorschreiben, dass man sich nicht mehr zur Begrüßung umarmen und eine Frau nur ein einziges Mal nach einem Date fragen darf, eine zweite Frage gilt bereits als Übergriff. Die Firma Netflix verbietet es schon, sich nach der Telefonnummer zu erkundigen. Komplimente müssen – das galt allerdings schon vor MeToo – sachbezogen sein. Ein Mann muss, wenn er von seiner Chefin angesprochen wird, nach fünf Sekunden den Blick senken wie ein ertappter Sünder. Man fühlt sich dabei an Provokationen, wie sie einer Schlägerei vorausgehen, erinnert – »Was guckst du, Alter?!« – oder an Zustände in schlagenden Verbindungen, als man zum Duell herausgefordert wurde, wenn man jemanden zu lange angeguckt, wenn man ihn fixiert hatte. Nur dass es keine Duelle mehr gibt, keine Möglichkeit, sich zu wehren, sich zu erklären oder womöglich zu entschuldigen, die Strafe folgt auf dem Fuße. Wer einer Frau hinterherpfeift, muss in England mit Bußgeld rechnen.

Auch in Deutschland werden immer noch Fälle hochgespielt: Ein Mann beim WDR hatte vor einigen Jahren im Fahrstuhl zu einer jungen Schriftstellerin »Schatzi« gesagt und sie dabei gleichzeitig an der Hüfte berührt. Es wird ermittelt.

Ein harmloser Witz kann einem Mann den Job kosten. Man muss vorsichtig sein. Komiker treten in den USA nicht mehr an Universitäten auf. Es ist viel zu gefährlich geworden. Humoristen wie John Cleese von Monty Python oder Harald Schmidt, den wir aus seinen Late-Night-Shows in Erinnerungen haben, blicken wehmütig auf eine Zeit zurück, in der sie noch scherzen durften.

In Schweden gibt es erste, als wegweisend geltende Verurteilungen für den neu geschaffenen Straftatbestand der oaktsam våldtäkt, der »unachtsamen Vergewaltigung«. Sexuelle Handlungen werden demnach auch dann als Vergewaltigung gewertet, wenn sich der Partner nicht körperlich wehrt oder nicht »Nein« sagt. Beide müssen »ausdrücklich« und »klar erkennbar« mit dem Geschlechtsverkehr einverstanden sein und ihr Einverständnis auf jeder Stufe der Nähe neu bestätigen. In einem konkreten Fall war eine Frau zusammen mit einem befreundeten Mann ins Bett gegangen. Er dachte, sie wolle mehr und berührte sie an einer intimen Stelle. Als er den Eindruck gewann, sie würde doch nicht wollen, brach er seine Bemühung umgehend ab: Das gilt bereits als Vergewaltigung, selbst wenn keine Gewalt angewendet und kein Geschlechtsakt vollzogen wurde, und wird mit zwei Jahren und drei Monaten Haft bestraft. Es ist keine Überraschung. Es war wiederholt von Feministen gefordert, die gesetzliche Regelung war langfristig angekündigt worden; es kam mit Ansage. Ein Mann muss beweisen, dass die Frau einverstanden war – und kann das gar nicht, denn selbst eine Unterschrift oder ein Videobeweis wie beim Fußball würde vor Gericht nicht anerkannt. Vor Jahren hätte man so ein Gesetz nicht für möglich gehalten. MeToo hat es möglich gemacht.

So sieht die Welle aus, die heute aus dem Norden kommt: Es ist keine Sex-Welle, es ist eine Sexismus-Welle.

Als in den siebziger Jahren die Sexwelle anrauschte, nutze kaum jemand den Ausdruck »Sexisten«, es hätte einem auch niemand erklären können, was man sich – bitte schön – darunter vorstellen soll. Es gab gelegentlich »Machos«, »Makker« und »Schowis« (Chauvinisten), aber keine Sexisten – es gab auch kein Gender. Die Begriffe gehörten zu einer Währung, die noch nicht eingeführt war. So wie man sich damals für einen Euro nichts hätte kaufen können, so hätte einen niemand verstanden, wenn man in den siebziger Jahren die Termini gebraucht hätte.

Mit dem Fall Brüderle hatte Deutschland seinen Sexismus-Skandal. Der FDP-Politiker hatte an einer Bar einer Journalistin von einem Boulevard-Blatt, das in den siebziger Jahren Themen wie »Frauen sprechen über ihre Brüste« auf der Titelseite gebracht hatte, irgendetwas gesagt, das als »Herrenwitz« galt. Womöglich hatte seine Ehefrau ihm anschließend eine Szene gemacht und geschimpft: Wenn ihr wenigstens Sex gehabt hättet, dann ginge das niemanden etwas an, aber ihr musstet ja unbedingt Sexismus haben, darüber reden jetzt alle. Der »-ismus« macht den Unterschied. Waren die Schulmädchen-Report-Filme Provinzpossen in Sachen Sex gewesen, so war die Affäre Brüderle die Provinzposse in Sachen Sexismus.

Die Verhältnisse sind auf den Kopf gestellt: Die Sexwelle hatte versucht, die Begegnung der Geschlechter zu beflügeln, der Sexismus bewirkt das Gegenteil: jede Begegnung wird im Keim erstickt. Als die Sexwelle angerauscht kam, wurde Sex als etwas gesehen, das im Verhältnis zur Liebe steht. Wer dagegen auf der Sexismus-Welle surft, sieht Sex als etwas, das ausschließlich im Verhältnis zur Macht steht. »Everything in the world is about sex — except sex. Sex is about power”, hatte Oscar Wilde geschrieben, ohne dass er wissen konnte, wie gut das als Kommentar zur aktuellen Situation passen sollte: Alles dreht sich um Sex, beim Sex wiederum geht es um Macht. Monica Lewinsky hatte zunächst ausgesagt, dass ihre Affäre mit Bill Clinton nicht nur einvernehmlich, sondern von ihr sogar ausdrücklich gewünscht war. Nach der MeToo-Welle hat sie sich besonnen und sieht nun doch einen Missbrauch, weil ein Machtgefälle vorlag (was bei einem Präsidenten kaum zu vermeiden ist), allerdings verrät sie ein einseitiges Verständnis von Macht, denn die Verhältnisse wurden vertauscht, sie war es, die ihn der Hand gehabt hatte.

Mit der Sexwelle und der bevorstehenden sexuellen Revolution sollten Hindernisse weggespült werden, um für die, die es ausprobieren wollten, neue Freiheiten zu ermöglichen; die Sexismus-Welle dagegen bringt neue Verbote und neue Strafen in bisher nicht gekannter Unverhältnismäßigkeit für Männer, bei denen es sich lohnt, sie zu schädigen.

Nun offenbart sich das Unglück, das entsteht, wenn das Private politisch wird: das Private wird nicht nur beschädigt, es wird gründlich zerstört und die Rückwirkungen auf das Politische sind nicht mehr zu überblicken. Konnten denn – so muss man sich fragen – die beiden Schweden, die kurzfristig unter einer Decke gesteckt hatten, ihre Probleme nicht unter sich ausmachen? Da spielten doch sicher noch andere Faktoren eine Rolle, von denen wir nichts wissen können: neue Bekanntschaften, alte Rechnungen … Doch das gilt alles nicht, es geht nur um das eine, nur um das neue Machtmittel, das der Kampf gegen Sexismus für die Frau bereitgestellt hat. Die haben es ihr möglich gemacht, ihren ehemaligen Bettgefährten ins Gefängnis zu stecken und gleichzeitig Millionen Männer, die davon wissen sollen, abzuschrecken. Ihr sollte man keinen Vorwurf machen, wohl aber einer Politik, die Leuten, die so unselbständig sind, dass man sie als lebensuntüchtig ansehen muss, wie Kindersoldaten behandelt und ihnen gefährliche Waffen in die Hand drückt.

Durch das schwere Geschoss der Politik ist eine Unverhältnismäßigkeit in die Beziehungen gekommen, die es den beiden Nordlichtern schwer – vielleicht sogar unmöglich macht –, sich jemals wieder zu vertragen. Sie hätte ihm leicht verzeihen können, die Bedingungen ihrer Freundschaft hätte man leicht nachregulieren können, er hätte sich wahrscheinlich in Zukunft zurückgehalten. Wie aber kann er ihr verzeihen, was sie ihm angetan hat, ohne dabei zugleich das ganze Rechtssystem in Frage zu stellen?

Mit den Verhältnissen, die nach MeToo entstanden sind, ist jede Annäherung der Geschlechter für Männer zur Falle geworden. Schon der Versuch ist strafbar. Männer sind handlungsunfähig geworden. Die Situation erinnert an einen Krimi, in dem der Kommissar zu einem Mann, der gerade verhaftet wurde, sagt: Hände hoch! Keine falsche Bewegung. Alles, was Sie sagen, kann gegen Sie verwendet werden.

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