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Brigitta I

Das war jetzt ganz schlecht. Das war so nicht vorgesehen. Darauf hatte sie niemand jemals vorbereitet.

Ohne Strom und ohne Freunde und Helfer war das jetzt erst mal eine Katastrophe.

Brigitta Becker versuchte sich zu beruhigen, indem sie sich an ihren Küchentisch setzte und tief durchatmete, so wie Yvonne, ihre Freundin und Lehrerin, es ihr gesagt hatte.

»Du musst, wenn du an Grenzen kommst, von denen du denkst, sie nicht überwinden zu können, dich hinsetzen und zur Ruhe kommen. Es wird nichts geschehen.

Orientiere dich stets neu, finde Deine Position und du kannst in Ruhe über den Weg nachdenken, den du gehen willst oder musst.«

Sie tastete nach ihren Zigaretten, fand sie da, wo sie sie hingelegt hatte und griff selbstsicher nach dem Feuerzeug, das neben der Schachtel lag, Rechts neben der Schachtel.

Ihre Hand zitterte ein wenig.

Sie hielt sie mit der anderen Hand fest und zündete die Zigarette etwa in der Mitte an. Das passierte öfter, vor allem wenn sie nervös war.

»Scheiße«, rief sie, als die Glut das vordere Teil der Zigarette abtrennte und dieses ihr in den Ausschnitt fiel, an einer Seite glühend. Sie schlug gegen ihre Bluse, um die Glut zu löschen.

»Scheiße, Scheiße, Scheiße«, rief sie anschließend laut und haute dabei bei jedem »Scheiße« mit der Hand auf die Tischplatte.

Das alles war viel für sie. Zu viel vielleicht.

Neben all den kosmischen und weltlichen und großen und kleinen Problemen, neben all den Katastrophen in ihrem Leben und den Ungerechtigkeiten, die sie seit ihrer Geburt erleben und ertragen musste, nun noch so etwas. »Scheiße«, sagte sie erneut und ihre Gedanken rasten in einem irren geistigen Flipperspiel durcheinander, keine Chance für sie, das Chaos in ihrem Kopf zu ordnen. Heftig zog sie an der Zigarette, und als sie den verbrannten Filter schmeckte, tastete automatisch ihre linke Hand nach dem Aschenbecher, der stets in der Mitte des Tisches stand. Jetzt aber war er durch das Schlagen auf den Tisch ein wenig weggehüpft und stand nun an der rechten Tischkante.

Sie drückte die Zigarette auf der Tischplatte aus und rief erneut »Scheiße«, als sie es bemerkte.

In plötzlicher Wut stieß sie den Tisch mit allem, was sich auf ihm befand um. Das Krachen und Splittern dröhnte in ihrem Kopf.

»Yvonne«, schrie sie laut, »Yvonne, komm bitte her und hilf mir«, doch ihre Lehrerin war schon seit über dreißig Minuten tot. Sie konnte das nicht wissen, denn sie bekam kaum etwas von dem, was gerade in der Welt geschah, mit.

Der Strom war ausgefallen, und auch wenn der Akku des Laptop noch funktionierte, so brachte sie keine Internetverbindung zustande. Ihr Braille-Leser schwieg und sie ertastete nur: »Keine Verbindung zum Internet.« Der Fernseher und das Radio ließen sich nicht mehr einschalten und außerhalb ihrer Wohnung konnte sie seit über zwei Stunden sehr beunruhigende Geräusche hören. Schreie und anderes sehr Beunruhigendes.

Sie hörte die schnellen Schritte der Nachbarn, hörte Geräusche von davonrasenden Autos, aber sie bekam erst richtig Angst, als sich vereinzelt Schüsse in das Geräuschinferno mischten.

Sie stand auf, berücksichtigte den umgefallenen Tisch und ging in ihr Schlafzimmer. Natürlich hatte sie Gottes Botschaft erhalten, aber danach hatte sie nur ein wirklich starkes Gefühl: Gott verarscht sie.

Brigitta Becker, genannt »Becki«, war seit ihrer Geburt blind und hatte nicht die geringste Chance, die Menschheit zu retten. Und so, wie sich die Dinge entwickelten, hatte sie eine noch geringere Chance, die zehn Tage bis zum Exodus zu überleben.

Sie hatte aufgrund ihrer gesteigerten Wahrnehmung des haptisch-taktilen und des auditiven Sinnes durchaus wahrgenommen, dass nach der Vergewaltigung ihres Verstandes durch die Gottheit alles anders wurde. Die gesamte Präsenz der Realität hatte sich verändert. Die Grundstimmung, die innere Grundfarbe der Realität, hatte sich verändert. War von »warm« nach »Chaos« gewechselt. Farben konnte sie nicht visualisieren, stattdessen arbeitete ihr Verstand mit Metaphern aus dem Reich der Zahlen, Gefühle und Gerüche.

Instinktiv und von dem absoluten Lebenswillen beseelt, den sie stets bemühte, wenn sich Mauern und Grenzen auftaten, ging sie die wenigen Meter bis zu ihrer Diele und griff nach ihren Leder-Boots, die sie am liebsten dann trug, wenn ihr Ego mal wieder eine Exkursion ins Reich der Depressionen plante.

»Yvonne«, flüsterte sie und sie projizierte den Weg zu ihrer Lehrerin in ihr Bewusstsein. Yvonne hatte Karla abgelöst, die über viele Jahre hinweg ihre Lehrerin in Punktschrift und Blindenlehre war, wie sie es nannte.

Die Welt der Sehenden war auch ihre Welt geworden, auch wenn der Begriff »Sehen« für sie auch nach zweiunddreißig Jahren Blindheit ein abstrakter war. Ihr fehlte nichts, sie hatte nach ihrer Auffassung keine Defizite. Defizitär war nur die Welt.

Sie käme wunderbar zurecht, wäre nur die Gestaltung der Umwelt von Blinden vorgenommen worden und nicht von den Sehenden, die Leute wie sie in ihren Planungen nicht berücksichtigten.

Erst in den letzten Jahren hatte man auch an die »Nicht-Seher« gedacht und Rillen in die Straßen und Gehwege gefräst, um auch ihnen eine Orientierung zu geben.

Akustische Signale an Ampeln und Computer, die in Brailleschrift oder durch akustische Wiedergabe von Texten Informationen übermittelten, erleichterten das Leben. Alles Dinge, die von »Sehenden« erdacht und geschaffen wurden und somit höchst defizitär waren.

»Yvonne.« Yvonne hatte es drauf. Yvonne war zwar eine »Sehende«, aber wie niemand sonst verstand sie es, sich in sie hineinzuversetzen.

Yvonne verband sich die Augen, wenn sie zu Besuch kam und Yvonne hatte ihr versprochen, immer da zu sein, wenn es mal schlecht lief.

Yvonne wohnte gar nicht weit von hier und sie hatte ihre Lehrerin und Freundin schon oft besucht, einfach um zu plaudern und um den Tag nach Feierabend mit ihr zusammen zu genießen. Manchmal hatte Yvonne den Grill angemacht und ihr beschrieben, wie der Garten aussah. Yvonne konnte das. Sie führte sie in den Garten und ließ sie die Blumen und Kräuter fühlen. Sie besaß einige Hühner und Yvonne schickte sie alleine los, um nach Eiern zu »sehen«.

Und kichernd kroch sie manches Mal durch den Hühnerstall und tastete über Hühnerkacke und Stroh hinweg nach diesen warmen, harten und doch so zerbrechlichen, ovalen Dingern, die sie gekocht oder gebraten so sehr mochte. Yvonne hatte Zwillinge, zwei ganz süße Mädchen, die ihr manchmal etwas vorlasen und ihr Dinge beschrieben. »Kinder verstehen Blinde besser«, hatte Yvonne immer gesagt. »Weil sie das Blindsein akzeptieren und nicht interpretieren.« Becki liebte Yvonnes Kinder, sie sahen gut aus. Sie sahen warm aus.

Yvonne würde ihr helfen, sie hatte es versprochen.

Sie nahm ihre Lederjacke vom Haken und öffnete ihre Haustür. Draußen war es nach dem Getöse der letzten zwei Stunden unheimlich ruhig geworden.

»Scheiße«, sagte sie wieder. Zurück ins Wohnzimmer. Den umgestürzten Tisch einschätzend, begab sie sich auf ihre Knie und tastete nach der Zigarettenschachtel, die sie schnell fand. Das Feuerzeug allerdings blieb unauffindbar, und wieder fluchte sie laut vor sich hin.

Ihre Nase nahm nun einen Geruch war. Brand. Feuer. Gestank.

Darauf war sie geschult worden von Kindesbeinen an. Dieser bestimmte, unverwechselbare Geruch eines Brandes. Olfaktorisch war die Analyse klar, mit Ohren und Nase konnte sie den Herd des Feuers in seiner Richtung und Ausdehnung bestimmen. Das Haus brannte.

Becki wollte gerade aufstehen, als ihr kleiner Finger gegen das Feuerzeug stieß.

Sie nahm es an sich, steckte es in die Brusttasche der Lederjacke und ging erneut in Richtung Haustür.

Direkt neben der Tür stand ihr Blindenstock, ihre lebensnotwendige Verlängerung des Tastsinnes. Den ergriff sie, verließ die Wohnung und zog die Haustür zu. Der Stock ließ sich so zusammenfalten, dass er zur Not in einen Rucksack passte.

Ein Geruchsinferno drang in ihre Nase, sämtliche taktilen Rezeptoren übermittelten die Information »Hitze, Brand, Feuer« in ihr Hirn und sie eilte die zwei Stockwerke die Treppe hinunter, um aus dem Haus zu kommen.

Ganz klar und ohne jede Gefühlsregung nahm sie zur Kenntnis, dass keine Menschen riefen und keine Sirenen heulten und alles vollkommen anders war, als es hätte sein müssen in so einer Situation.

Auch die Geräuschkulisse auf der Straße war anders. Überall knackte und knisterte es, aus der Ferne war ein Dröhnen zu vernehmen – nur für sie. Das Flugzeug, das sich näherte, um in acht Minuten in den Dom zu stürzen, war für »Sehende« noch nicht zu hören. Hier gab es sonst keine Flugzeuggeräusche.

Sie nahm das alles in Sekundenbruchteilen wahr. Es veränderte das innere Bild, das sie von ihrer Umgebung hatte, und das war eindeutig und schrecklich zugleich.

Andere sahen. Becki fühlte und hörte. Intensiver und unendlich feiner als Augen Wahrnehmungen an das Gehirn weitergeben konnten.

Was Brigitta Becker wahrnahm, war die totale Veränderung der Sphäre, ihrer inneren Landkarte.

In Verbindung mit dem, was in ihrem Kopf stattgefunden hatte, war ihr schneller als den meisten der sieben Milliarden Menschen auf dem Erdball klar, dass alles was war, nun zu Ende ist. Sie musste zu Yvonne.

In ihrem Kopf existierte eine sehr exakte Landkarte über ihre Umgebung. Details, die die »Sehenden« gar nicht mehr wahrnahmen, weil sie ohne Bedeutung sind, sind für Blinde Leuchttürme.

Ein Busch, eine Unebenheit im Gehweg, ein Geruch, ein Gullydeckel. Tausende Fragmente fügen sich zu einem inneren Bild zusammen und »Nicht-Sehende« erschaffen daraus eine eigene Geographie.

Brigitta stolperte allerdings schon nach wenigen Metern und fiel unsanft. Sich bei Stürzen abzurollen, den Sturz zu mildern und sanfter als »Sehende« zu landen, hatte sie von Geburt an gelernt. Trotzdem war der Sturz hart. Sie war zu schnell gelaufen, hatte den Blindenstock eigentlich gar nicht benutzt und so war das Hindernis auf dem Gehweg zur Stolperfalle geworden.

Als sie herauszufinden versuchte, was sie da zu Fall gebracht hatte, hielt sie plötzlich die Hand eines Menschen in der Hand. Da lag jemand auf der Straße. Sie tastete ganz schnell an dem Arm entlang, ihre Finger glitten federleicht in Richtung des Gesichtes des Menschen, der da auf dem Gehsteig lag und sie tastete über dessen Kinn in eine große, feuchte und noch warme Öffnung an der Stelle, wo die Augen des Menschen hätten sein müssen. Sie begriff, dass sie ihre Hände eine fürchterliche Verletzung berührten und dass der Mensch vor ihr, ein Mann, tot war.

Ein kehliger Laut entrann ihrem Mund und sie stolperte von der Leiche weg. »Aaaaahhhhhhhh, IIiiiiiihhhhh« schrie sie aus voller Kehle und »Hiiiilfe« und »Scheiße«, sowieso ihr Lieblingswort.

Am Randstein fand sie ihre Orientierung wieder und sie lief, so schnell es ihre Sinne zuließen, weiter die Straße entlang Richtung Yvonnes Haus.

Ihren Blindenstock hatte sie in ihrer Panik bei der Leiche des Mannes zurückgelassen.

Sie hörte, dass sich ein Auto näherte, sehr schnell näherte, und so schnell an ihr vorbeifuhr, dass sie keine Zeit hatte, darüber nachzudenken, ob sie versuchen sollte, den Wagen anzuhalten. Bald verlor sich das Geräusch des Motors in der Ferne.

Brigitta wusste, dass sie jetzt in Höhe von Yvonnes Haus sein musste. Da war die niedrige Buchsbaumhecke, anschließend ein Eisenstab, der in einer Einfahrt stand (in Wirklichkeit eine Laterne), und danach begann Yvonnes Reich. Yvonne musste zu Hause sein, sie tastete den Wagen, der in der Einfahrt stand. Es roch seltsam. Ein neuer Geruch, den Brigitta nicht kannte, drang aus dem Wagen. Doch, sie kannte ihn doch. Aber erst seit wenigen Minuten.

Yvonne und sie waren öfter mit diesem Auto gefahren, Becki hatte das Auto sofort an der Form identifiziert. Es war ein Cabriolet und Becki hatte unendliche Freude daran gehabt, mit Yvonne darin zu fahren. Das Verdeck war nun allerdings geschlossen.

Sie tastete an der Fahrerseite entlang und fand den Türgriff. Als sie daran zog, öffnete sich die Tür und der neue, seltsame und irgendwie abstoßende Geruch verstärkte sich.

Es roch wie der tote Mann auf dem Gehweg.

Brigitta weinte, ihre funktionslosen Augen ließen Ströme von Tränen fließen. Sie brauchte ihre Hände nicht, um zu wissen, was in dem Auto war. Sie nahm es auf eine höhere Art und Weise wahr.

Nicht, um sich Gewissheit zu verschaffen, sondern um Abschied zu nehmen, griff sie nach dem Kopf der toten Yvonne, die hinter dem Lenkrad saß. Sie streichelte die erkaltenden Wangen und fuhr mit den Händen die Konturen des Gesichts nach. An der schrecklichen Kopfwunde verharrten ihre Finger und tiefste Trauer durchströmte sie. Aber da war noch mehr in dem Wagen.

Sarah und Emelie, die Zwillinge, saßen auf der Rückbank, und auch in ihnen war kein Leben mehr.

Die selbe Axt, die ihre Mutter getötet hatte, war auch auf ihre Köpfe geschlagen worden. Die kleinen Händchen berührten sich in der Mitte der Rücksitzbank. So ertastete Brigitta sie.

Dann brach sie zusammen und krümmte sich in unendlichem Schmerz, ihr Schluchzen und Weinen erfüllte die tote Straße. Nach einigen Minuten hörte sie Schritte, nicht weit weg, direkt auf sie zukommen.

Die Pommes behalte ich, aber den Burger gebe ich zurück. Und wenn noch einmal Mayonnaise auf dem Burger sein soll, komm ich zu dir nach Hause, hack dir die Beine ab, leg Feuer und sehe zu, wie du mit deinen blutigen Stümpfen aus dem Haus kriechst.

Bruce Willis in The last Boyscout

Fred I

Sie hatten ihn schon wieder eingeteilt, den Flur zu fegen. Er hasste das Fegen des Flures, weil so seltsame Geräusche aus den Zimmern kamen. Zimmer. Sie nannten die Zellen hier Zimmer, obwohl sie nichts anderes waren als Gefängniszellen. Die Türen waren hier nicht aus dem grauen Stahl, wie in den Haftanstalten. Und der Flur sah auch anders aus, war aber nichts anderes als ein Gefängnisflur. Der Boden bestand hier nicht aus grau gestrichenem Beton, sondern aus einem hellen Laminat.

Die Türen hatten auch Holzstruktur, aber jeder wusste, dass sie aus demselben Material waren, wie in jedem Knast der Welt. Kalter Stahl. Daran änderten auch die aufgeklebten Holzpaneele nichts.

Es gab auf seinem Flur sogar Bilder an der Wand. Glaslose Rahmen, die fest angeschraubt waren und Landschaftsbilder zeigten. Irgendwelche Baumgruppen im Frühnebel, eine Weide mit Pferden darauf, und eines zeigte ein windschiefes Bauernhaus mit Reetdach. Die Wände waren pastell-gelb gestrichen und sollten wohl warm wirken. An der Decke des Korridors waren Neonlampen angebracht, die ihr kaltes Licht in den Raum spien und deren Design genauso unaufregend war, wie alles hier.

Hinten, am Ende des Flurs befand sich ein Raum, der Fenster zum Gang hin hatte und in dem sich die Gefängniswärter aufhielten und ihm zuschauten, wenn er hier fegte. »Pfleger« nannten die sich hier. Der Besen, den er hielt war aus einem Stück gefertigt. Auch waren die Borsten des Besens nicht wie bei einem echten Besen. Sie waren aus blauem Kunststoff, und sie waren leicht und völlig unnütz zu irgendwas, außer natürlich zum Fegen.

Warum musste er wieder fegen? »Arschlöcher, Penner, Drecksäcke«, flüsterte er zu sich selbst. Besser, DIE hörten ihn nicht. Besonders der dicke Pfleger mit der Halbglatze und dem ewigen Drei-Tage-Bart konnte es gar nicht leiden, wenn man ihn beleidigte. Der verachtete alle hier. Mit seinen Pfleger-Kollegen verstand der sich prächtig und manchmal sah er ihn lachend und scherzend im Glaskasten sitzen. Oder er holte ihn aus seiner Zimmer-Zelle, wenn der große Psycho ihn wieder einbestellt hatte. Dr. Döring. Das war so ein halbseidener Affenarsch ohne jedes Charisma. Der schleppte in seinem Hirn nur Scheiße mit sich herum und versuchte, ihn zu heilen. Der. Ihn heilen. Wenn Dr. Döring wüsste, was er mit ihm schon alles getan hat in seinen Gedanken, der würde sich definitiv in die Hose scheißen. Kacka machen. Großes Kacka machen.

Er musste schmunzeln, und ein leises Kichern entrann seiner Kehle.

In seinen Gedanken floss braune Soße aus den Hosenbeinen des Psychos. Aus seinen albernen Jeans, die ihm so gut standen wie Mahatma Ghandi ein Stahlhelm. Dr. Döring war eher der Typ Karohose und Papageienhemd, rannte hier aber immer in Jeans und weißem Rollkragenpullover herum, völlig egal, wie das Wetter draußen war. Draußen. Draußen.

Da musste er wieder hin, ohne diesen verdammten blauen Besen und ohne an Dr. Döring und das feiste Schwein von Pfleger zu denken.

Wütend konnte er werden, wenn er an diesen blauen Besen dachte. Das ist reinste Schikane und unmenschlich.

Es gibt keine blauen Besen, nirgendwo auf der Welt gibt es blaue Besen, und sie wollten ihn damit nur noch böser machen, als er ohnehin schon war nach diesen ganzen Scheiß-Sitzungen.

»Na, Herr Linder? Klappt es?« Er zuckte zusammen, als er von hinten angesprochen wurde. Er erkannte die Stimme sofort. Das war diese schwule Ratte von Stationsleiter. Ein Mickermännchen mit viel zu großem Kopf und Händen wie die eines Kindes.

»Alois Furtner, Fachpfleger für forensische Psychiatrie und Stationsleitung« stand auf dem Namensschild, das viel zu groß war für das schmalbrüstige Männchen. »Was soll an dem scheiß Fegen nicht klappen, du kinderfickende schwule Drecksau?« dachte Fred Linder, sagte aber stattdessen: »Sicher!«

»Na denn machen Sie mal weiter, ich will Sie nicht stören, und denken Sie bitte daran, ihr Werkzeug wieder sauber abzugeben. Dahinten habe ich noch Dreck gesehen, waren Sie da schon?«

»Sicher nicht« sagte er, hatte aber ein sehr klares Bild davon im Kopf, wie er der blonden Kanalratte den blauen Besen bis zum Anschlag in seinen Hintern steckte und ihn dabei anschrie, ob das nun sauber genug sei.

»Sie gefallen mir heute gar nicht, soll ich einen Termin bei Dr. Döring machen?« fragte Alois Furtner. Dann waren wieder die Farben da und der Gesang. Und diese schrillen Töne, die immer lauter wurden und ihm Zahnschmerzen machten. Und diese Wut, diese unglaubliche Wut. Raserei, blinde Raserei in seinem Hirn.

Er drehte sich zu dem Stationsleiter um, der augenblicklich den Zustand seines Schützlings richtig einschätzte und ihn mit einer erstaunlich lauten, klaren und autoritären Stimme ansprach:

»Kommen Sie runter, Fred, alles wird gut. K-O-M-M-E-N S-I-E R-U-N-T-E-R!«

Die letzten drei Worte waren in einem so sonderbaren und eindringlichen Tonfall gesprochen, dass sich die giftgrüne Hasswolke in Fred Linders Schädel wieder verzog.

»Kriegen Sie das hin, das hier fertig zu machen, oder wollen Sie lieber wieder in ihr Zimmer zurück?« fragte Alois Furtner.

Dabei schwang ein leichter, bayrischer Dialekt in seiner Stimme mit. Der Tonfall hatte sich etwas verändert, war wieder fast normal. Aber eben nur fast. Fred Linder kannte das, er kannte das seit vier Jahren, seit sie ihn hier in das Irrenhaus gebracht hatten. Er wollte hier nicht hin, er wollte in den Knast, aber die ließen ihn nicht. Bei dem, was er getan hatte, hätte er locker zwanzig Jahre einsitzen können und sich etablieren und ein gutes Leben haben können. Aber er war schuldunfähig. Und deswegen Irrenhaus, oder wie sie es hier nannten »Fachklinik für forensische Psychiatrie«.

Der Fatzke von Anwalt, dieser gelackte Affe, den sie ihm als Verteidiger zugewiesen hatten, erklärte ihm nach der Verhandlung, dass er, sobald er geheilt sei, wieder nach Hause dürfte. Weil er ja gar nicht rechtskräftig verurteilt worden war.

Damals hatte er noch auf dem Weg zurück in seine Zelle in der Untersuchungshaftanstalt, Bilder im Kopf, von Blut. Viel Blut. Anwaltsblut. Sobald er geheilt war.

»Alles klar, Chef, geht schon, ich mach das fertig«, sagte Fred Linder und begann wieder zu fegen. Dann sprach auf einmal Gott mit ihm.

Hinter ihm war Alois Furtner stocksteif stehengeblieben und seine Augen waren für eine Minute ebenso leer, wie die vom Anwalt, von Dr. Döring und von dem halbglatzigen Pfleger im Glaskasten und seiner Kollegen und den anderen Pflegern und Ärzten und den dreihundertzweiundvierzig Insassen der Klinik und dem Rest aller Menschen auf der Welt.

»Zehn Tage und Nächte gebe ich Dir, dir alleine, um die Welt zu retten. Nutze sie oder vergehe zusammen mit allen anderen Deiner Art.«

Fred vernahm die Worte, und sie lösten in ihm dasselbe aus, was Befehle und zwingende Aufforderungen stets in ihm auslösten: Zorn. Niemand befahl ihm irgendwas. Niemand kritisierte ihn und niemand quatschte ihn ungefragt an. Fred Linder bestand aus Zorn. Sein Körper bestand zu neunzig Prozent aus Wasser, aber sein Geist, seine Seele, sein Gemüt, eben Fred Linder, bestand zu fast einhundert Prozent aus Zorn.

Zwar stand in seiner Patientendokumentation, sein primäres Leiden sei die schizophrene Psychose, aber das traf es nur wenig. Es gab sicher nicht viele Menschen, die wie er waren. Das menschliche Gehirn und auch die menschliche Seele sind viel zu variabel, um mit profanen Diagnosemöglichkeiten erfasst und bestimmt zu werden.

Man kann etwas eingrenzen und versuchen, mit Psychopharmaka die Faktoren, die den Betroffenen zu einem Sonderfall in der Gesellschaft machen, einzudämmen, aber WISSEN um die wirklichen Zusammenhänge und Gründe würde es selbst dann nicht geben, wenn die Welt über die zehn Tage hinaus bestünde.

Fred Linder wandte sich, außer sich vor Zorn, erfüllt vom Drang, diese unglaubliche komplexe Energie in ihm auszuspeien, zu dem immer noch verwirrt dreinschauenden Stationsleiter um. Ohne auch nur ein Wort zu sagen, griff Linder mit beiden Händen nach dessen Hals und drückte mit zuvor nie verwendeter Kraft zu.

Das war kein Erwürgen, er zerquetschte in Sekunden den Kehlkopf, drückte den Hals des Stationsleiters mit aller Kraft zusammen, und Alois Furtner starb so schnell, dass ihm gar nicht gewahr wurde, was da geschah. Es stand nur fest, dass er seinen Auftrag, die Welt zu retten, als einer der ersten auf dem Globus vermasselt hatte.

Linder warf den leblosen Körper an die Wand, an der dieser herabrutschte und grotesk verbogen liegenblieb. Der Tote starrte mit übergroßen Augen, die aus dem Schädel zu quellen schienen, zu Linder empor. Der trat mit voller Wucht dagegen. Furtners Kopf knickte in einem schrecklichen Winkel ab und nun starrte das eine Auge, das in dem Schädel verblieben war, auf den Fußboden aus holzstrukturiertem Laminat. Aus der Höhle des anderen Auges tropfte Schleim und Blut und breitete sich träge um den Kopf herum aus. Wortlos schritt Linder in Richtung Glaskasten. Den blauen Besen hatte er einfach fallengelassen.

Neben der Tür zum Glaskasten war ein Schild mit der Aufschrift »Dienstzimmer Pflegepersonal« angebracht. Die Tür stand offen, Linder registrierte das unbewusst, denn diese Tür war eigentlich immer geschlossen. Der eben vollbrachte Mord hatte seinen Zorn gemildert, und das Rauschen und helle Klingen in seinem Kopf war leiser geworden, aber ihm taten die Backenzähne schrecklich weh. Er bewegte sich schnell, geschmeidig und ohne Hektik. »Wo seid ihr?« sagte er laut und war überrascht, wie unaufgeregt seine Stimme klang.

Plötzlich erschien der Pfleger mit der Halbglatze in der Tür und sah ihn kurz an. Dann wandte sich um, nahm etwas vom Tisch und ging an ihm vorbei, als würden sie sich vor einem Aufzug in irgendeinem Einkaufszentrum getroffen haben. Der Pfleger nahm ihn zwar zur Kenntnis, aber er interessierte sich offensichtlich nicht im Geringsten für ihn. Was nicht erstaunlich war, musste er doch die Welt retten. Dass ihm genau dieses Verhalten in dieser Situation das Leben rettete, war dem Mann mit der Halbglatze gar nicht bewusst.

Dreißig Minuten später wurde er von einem Sattelschlepper überrollt, dessen Fahrer keine Zeit hatte, auf ihn zu achten, denn die Rettung der Welt lag alleine in seiner Hand.

Fred Linder folgte dem Pfleger, der mit seinem Magnetschlüssel alle Korridortüren öffnete. Bevor diese wieder ins Schloss fallen konnten, hatte Fred Linder sie bereits passiert.

Selbst innerhalb der Forensischen Klinik waren die einzelnen Bereiche durch meterhohe Zäune mit Stacheldrahtkrone voneinander getrennt und bildeten einzelne Inseln innerhalb eines undurchdringlichen Sicherheitsgürtels. Nur durch Sicherheitsschleusen konnte man, wenn man die Magnetkarte besaß, die einzelnen Bereiche verlassen. Spätestens jedoch am Haupteingang war Schluss, denn hier saßen in einem Sicherheitsbereich aus schussfestem Panzerglas die eigentlichen Torwächter.

Diese konnten per Knopfdruck die einzelnen Türen der Sicherheitsschleuse öffnen und so dem Personal, den Zulieferern und Handwerkern, die zum Betrieb der Klinik notwendig waren, den Zutritt gewähren. Das geschah nach streng regulierten Kontrollen und mancher Handwerker, der zu Reparaturen innerhalb der Umzäunung beauftragt war, wurde nervös, weil sein Pritschen-LKW durchsucht und sogar mit Spiegeln von unten überprüft wurde.

Nach menschlichem Ermessen konnte niemand die Klinik verlassen oder betreten, der dazu nicht befugt war.

Vier Meter hohe, glatte Plexiglas-Wände, machten ein Hinaufklettern unmöglich. Zudem war deren oberes Drittel nach innen gewölbtund ließen jeden Fluchtversuch selbst dann zur Farce werden, wenn man aus dem separat abgezäunten Bereich der einzelnen Kliniksektoren entkommen war, was alleine schon wegen der Sicherheitssysteme im Gebäudeinneren eine fast unmögliche Aufgabe war.

Ausbruchsicher.

Aber nur solange die Schleusentore nach draußen nicht offen standen, und die Notstromaggregate nach dem eingetretenen Stromausfall nicht angesprungen waren, weil sie lichterloh brannten. Das lag daran, dass der Techniker, der für die Wartung der Dieselaggregate zuständig war, die Partikelfilter zur Reinigung entnommen hatte und nach der göttlichen Eingebung keine Zeit mehr fand, das treibstoffführende System zu schließen.

Franz Krutinsky, Hausmeister der Einrichtung, hatte sowieso einen schlechten Tag erwischt. Sein Kater, der ihm nach reichlichem Alkoholgenuss am Vorabend zusetzte, wollte nicht weichen. Er arbeitete seit Jahren hier und hatte seine eigenen Regeln. Sicherheitsregeln waren das nicht, und daher lagen die dieseldurchtränkten Lappen auf dem Elektroherd. Gottes Ansage hat ihn förmlich umgeworfen, und Halt suchend, hatte er zwei der Drehregler auf die Stufe »Neun« gedreht. Auf dieser Stufe glühten die Platten des altmodischen Elektroherdes am Ende hellrot.. Ohne sich darum zu kümmern, hatte er den Keller verlassen, um die Menschheit vor dem Untergang zu bewahren.

Die Weltrettung ging eben allerorten vor.

Fred Linder trat in die Freiheit. Ihm war schwindelig, denn noch vor dreißig Minuten war sein Leben ein anderes gewesen. Er hörte das Prasseln und Krachen des brennenden Verwaltungsgebäudes, nahm die schwarze Rauchsäule wahr, die sich über dem Flachbau gebildet hatte und stand auf der Straße, die an der Klinik vorbeiführte. Sein Zorn hatte sich gelegt, und er sah dem Pfleger nach, der wie ferngesteuert die Straße überquerte, ohne auf den gelben Sattelzug zu achten. »Meinetwegen«, sagte er zu sich und steckte die Hände in die Taschen seiner schwarzen Jeanshose. Er wandte sich in die entgegengesetzte Richtung. Nur weg hier!

Den dumpfen Laut hinter sich nahm er nur unbewusst wahr. Der gelbe Lastzug fuhr mit hoher Geschwindigkeit vorbei und die Farbe der Spritzer auf dessen Stoßstange war identisch mit der auf Fred Linders Schuhen.

Er lief, die Hände tief in den Taschen seiner Jeanshose vergraben, in Richtung der Ortschaft, die nach etwa zwei Kilometern begann. Man hatte die forensische Klinik nicht absichtlich soweit außerhalb des Dorfes gebaut, vielmehr wurde hier schon seit Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts psychiatrische Medizin betrieben und um die Klinik herum waren kleine Wohnsiedlungen entstanden. Jedoch nicht unmittelbar in der Nähe der damaligen »Irrenanstalt«, schließlich mussten die Familienangehörigen der Bediensteten vor dem Kontakt mit den Schutzbefohlenen bewahrt werden.

Hier wohnten die Pfleger und Ärzte mit ihren Familien. Erst viel später baute man die ehemalige »Irrenanstalt« zu einer der modernsten und sichersten, forensischen Kliniken in Niedersachsen um. Anlass für den Umbau zu einem Hochsicherheits-Krankenhaus war ein Mord an einer siebenjährigen Schülerin, begangen durch einen Freigänger. Man hatte den Täter drei Tage später im zwanzig Kilometer entfernten Ratzeburg gestellt. Die Welle der Entrüstung ebbte erst ab, als eine Wiederholung eines solchen Verbrechens durch einen der Patienten ausgeschlossen war.

Linder interessierte sich nicht sonderlich für die Historie der Klinik.

Freiheit. Wie auch immer, er war frei, und dieses Gefühl wurde ihm mit jedem Meter, den er sich von der Klinik entfernte, bewusster. Die Zeit hinter den Mauern der Forensik, oder dem »Glaskasten«, wie die Insassen die Klinik nannten, war eine Zeit der totalen Unfreiheit gewesen, und Freiheit war für Fred Linder ein Grundbedürfnis, größer und tiefer als jedes andere Bedürfnis, das er hatte.

Zu keiner Sekunde hatte er daran gedacht, aus den Mauern des »Glaskastens« entkommen zu können. Nur weil alle, die ihn begutachtet hatten, ihn als gefährlich und gewalttätig einstuften, war er nicht dumm. Er war keineswegs dumm.

Niemand hatte sich je die Mühe gemacht, ihn einem Intelligenztest zu unterziehen. Nicht, dass Linder jemals das nötige Verständnis aufgebracht hätte, um einem solchen Test die Chance zu geben, ein belastbares Ergebnis zu erbringen. Er war schlicht zu intelligent, um einem solchen Test zuzustimmen.

Fred Linder ging schnell, aber nicht hektisch oder eilig in Richtung der nahegelegenen Ortschaft Weninghofen.

Neben der Straße führte ein Gehweg, der gleichzeitig auch Fahrradweg war, in die kleine Gemeinde. Außer dem Lastwagen, der dem Pfleger zum Verhängnis geworden war, war kein Auto zu sehen oder zu hören.

382,08 ₽
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Дата выхода на Литрес:
22 декабря 2023
Объем:
340 стр.
ISBN:
9783943795745
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