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Zwischenspiele

Allah hatte ihm den Weg gewiesen. Und hatte er je Zweifel daran gehabt, dass sein Tun und Denken nicht dem entsprach, was Allah wollte, so waren sie nun fortgeblasen. Allah ist groß, Allah ist mächtig. Allah hat ihm die Augen geöffnet und ihn auserwählt zu tun, was zu tun ist. All die Ungläubigen dieser Erde müssen vernichtet werden, denn es ist Allahs Wille. Nur so kann er die Welt retten, nur so das Paradies erfahren. Die Zauderer und Schwätzer sollen auch weichen dem, der das Heil bringt. Er war auserkoren, die Welt zu retten in Allahs Namen und auf Allahs Geheiß hin. Er alleine.

Er würde alle um sich scharen, die an seiner Seite Allahs Willen erfüllen würden. Die Mutter aller Schlachten stand bevor, und jene, die nicht rechten Glaubens sind, sollen die ersten sein, die durch Allahs Schwert, das durch ihn geführt werden würde, niederbrechen.

Allah w`akbar. Und schon der erste, den er in seine Armee berufen wollte, erschlug ihn mit einem Schlagstock. Es war sein Leibwächter, der begriffen hatte, dass es nur eine neue, bessere und Allah-gefälligere Gesellschaft geben kann, wenn man die alte hinwegfegt.

Der Kardinal saß an seinem riesigen Schreibtisch. Er hatte Gottes Botschaft erhalten, den Auftrag, nun Gottes Werk zu vollenden. Hinweg all die Ungewissheiten, ob Gottes Wort richtig verstanden wurde. Nur Gott selber darf seinen Willen formulieren, nur Gott selber bestimmt den Lauf der Zeit, der Welt, des Kosmos.

Oh wie unendlich vermessen und anmaßend waren doch die Menschen, die glaubten, sie würden Gott gefallen. Der Glaube des Kardinals war der richtige Weg, das hatte ihm Gott gesagt. Er hatte verstanden.

Zehn Tage noch und Gott würde richten. Wenn der Kardinal richtig lag, dann aber nur jene, die nicht Gottes Wort und Gottes Regeln anerkannten. So hatte ihn der Kardinal verstanden. Ein Kreuzzug, die Welt zu retten. Der Kardinal stand auf und suchte seinen Schreiber. »Beantragt sofort eine Audienz beim Heiligen Vater«, befahl er ihm barsch. Der irre Blick des Schreibers war ihm gar nicht aufgefallen. Und auch nicht das Heulen der Triebwerke eines Passagierflugzeuges, das sich im Anflug auf den Vatikan befand.

Im Kontrollraum des Kraftwerks war es fast drei Minuten ganz still, wenn man das Summen der Computer und das Sprotzen der Kaffeemaschine ausblendete. Keiner der 14 Techniker und Wissenschaftler sprach. Ansonsten herrschte hier immer Stimmengewirr. Zahlen und abgelesene Werte, Fragen zum Schichtplan, Erzählungen aus dem Privatleben erfüllten hier 24 Stunden am Tag den Raum.

Vielleicht gab es hier bisweilen sekundenlange Schnittmengen des Schweigens...aber fast drei Minuten? Völlig ausgeschlossen und umso beklemmender für die Anwesenden.

Die meisten saßen vor ihren Geräten und starrten mit leerem Blick auf die Apparaturen ... das ständige Blinken und die bewegungslosen Bilder, die durch die Kameras auf die Bildschirme im Kontrollzentrum übertragen wurden, nicht wahrnehmend.

Erst als ein elektronisches Pfeifsignal auf den Anstieg eines bestimmten Wertes hinwies, kehrte Leben in die Frauen und Männer im Kernkraftwerk Kaiga in Indien zurück.

Shiva hatte zu ihnen gesprochen. Die Alten hatten recht. Sie hatten alle das Dharma mit Füßen getreten.

Sie waren ihrer Rolle als Teil des Ganzen nicht nachgekommen, sie hatten alle versagt und nun entzog ihnen Shiva jedes Kharma. Wer waren sie, dass sie die Natur, deren Teil sie waren, so knechteten? Und hier, in diesem Höllenwerk verrichteten sie ihr frevelhaftes Tun.

Sie versklavten die Natur, die ihnen die Götter gegeben hatten um sie als Teil des Ganzen in ihr Dasein einzuflechten. Shiva hatte recht getan, sie nun zu strafen. Was nutzt das ganze Wissen, was nutzen die harten Jahre des Studiums, des leichten Lebens? Die Alten haben es vorhergesehen, sie hatten ihnen stets vorgeworfen, den rechten Weg verlassen zu haben, um den Verlockungen der neuen Zeit zu erliegen. Moderne Menschen wollten sie sein und am Wohlstand teilhaben.

Sie wollten sein wie die anderen und zerstörten dabei das Gleichgewicht, das ihnen doch die Rishis und Gurus als so wichtig geschildert hatten.

Hatten nicht die Vorfahren nach den Regeln des Kosmos gelebt, sich als Teil des Ganzen gesehen und verantwortlich für das Gleichgewicht der Welt gefühlt? Doch es war noch nicht zu spät. Shiva selbst hatte ihnen, jedem von ihnen, den Weg gewiesen. Würden sie die alte Ordnung wiederherstellen, dann sei die Balance zwischen den Dingen wiederhergestellt und die Welt gerettet.

Wer so gut ausgebildet ist, ein Kernkraftwerk zu steuern, und wer weiß, wie man verhindert, dass es außer Kontrolle gerät, wer jede Funktion des Werkes steuern kann und weiß, wie die technischen Zusammenhänge sind, wer weiß, wie man verhindert, dass es zur absoluten Katastrophe kommt, der weiß auch, wie man sie herbeiführt. Das Gleichgewicht musste wiederhergestellt werden, Shiva hat es gesagt. Ohne miteinander zu sprechen machten sich die Techniker und Wissenschaftler an die Arbeit ... einvernehmlich und im Einklang mit der Welt.

Bis die Wachleute kamen und dem Leben der Menschen im Kontrollraum ein Ende setzten, denn sie waren die Teufel, die Shivas Gesetze brachen. Das Kraftwerk schaltete sich, kaum, dass der Letzte innerhalb seiner Mauern tot war, selbsttätig ab.

Der Schamane hatte die Botschaft der Göttin erhalten. Die Kleinsten unter den Kleinen hatte sie auserkoren, um den letzten Rest des alten, wahren Geistes der Papua, der hier im Baliem-Tal noch bestand, zu wahren und zu verbreiten, und ihn hatte sie zum Anführer erkoren.

Er würde seinen Stamm führen, bis nach Jakarta, wenn es sein musste, um nach zehn Nächten den Willen der Göttin zu erfüllen.

Er richtete sich auf und stieß den gellenden Schrei der Weissagung aus. Dann warf er sich auf seine Knie, hob die Arme zum Dach seiner Hütte und ließ die geballten Fäuste kreisen, so wie es ihn sein Vorgänger gelehrt hatte.

Der Tanz der Offenbarung, immer schneller bewegte er seinen Körper kreisend und es schien, als hätten seine Arme keine Gelenke, sondern bestünden aus Gummi.

Immer heißer wurde es in der Strohhütte, der Schweiß lief ihm in Bächen über das Gesicht und verwischte die weiß-gelbe Farbe seiner Standesbemalung. Sein gewaltiger Kopfschmuck erzeugte groteske Schatten auf der Wand hinter ihm.

In seiner beginnenden Ekstase nahm er den weißen Rauch, der aus den Wänden der Hütte quoll, nicht wahr.

Yusak Yuthage, der Schamane vom Stamm der Korowai, bemerkte die Flammen erst, als es zu spät war.

Banjak Hsumi betrachtete die Flammen, die aus der brennenden Strohhütte schlugen und prasselnd Funken aus glühenden Strohresten in den Himmel stießen. Er wusste, dass er den ersten Schritt getan hatte, Mgami, der Göttin, ihren Zorn zu nehmen. Er drehte sich um und legte seinen Meskapa, den langen Speer des Jägers, über die Schulter. Die sieben toten Körper und die letzten Schreie des Schamanen nahm er nicht mehr war, als er das Dorf verließ. Noch lange hatte er seine Aufgabe nicht erfüllt. Zehn Tage und Nächte blieben ihm.

Drei davon überlebte er, bevor er von jemandem getötet wurde, der in ihm einen der Dämonen erkannte, der Mgamis Wut entfacht hatte.

It's the End of the World as we know it, and I feel fine

R.E.M.

Adam I

Auf der Suche nach einer Antwort auf die Frage, warum alle meine Nachbarn plötzlich Hummeln im Arsch hatten, schaltete ich den Fernseher ein. Der Gedanke, dass die Leute da draußen auch die Sondersendung des Allmächtigen gehört hatten, war nicht weit genug weg, als dass ich ihn hätte ignorieren können.

Das wunderbare Zeitalter der digitalen Welt hatte mir ein technisches Monstrum mit 563.829.346 Fernsehkanälen beschert und ich war stolz, mit jedem auch noch so kleinen Fernsehsender am Ende der Welt angeben zu können, wenn ich mal Besuch bekam, was selten vorkam.

Was ich nun allerdings gewahr wurde, war so unspektakulär erschreckend, dass ich spätestens da begriffen hatte, dass meine Welt, wie sie vorher war, völlig aus den Fugen geriet. Hatte nicht der Mega-Zampano, der noch vor zwanzig Minuten sein Debüt in meinem Kopf gegeben hatte, eine ähnliche Formulierung gewählt ... die Welt aus den Fugen ...?

Ich weiß ja nicht, wie Sie Ihre Fernbedienung programmiert haben. Bei mir ist es so, dass erst die drei öffentlich-rechtlichen Programmen kommen, dann RTL, Pro7 und Sat1.

In der Reihenfolge, in der sie in Deutschland auf Sendung gegangen sind. Danach kamen die Sender, die später folgten. Manche waren ganz gut, aber in der Regel brachten sie Dauerwerbesendungen mit Spielfilmunterbrechungen, völlig idiotische Serien aus den USA oder Quizsendungen für Intelligenzgeminderte.

Wenn dann die sogenannten »News« kamen, wurden die regelmäßig von Ansagerinnen moderiert, die offenbar vor jeder Sendung ihr Gesicht exzessiv in ein Fass Botox tauchten. Bei der Wahl dieser Sender hielt ich mich daher eher zurück, da ich natürliche Schönheit dieser Form der Veredlung deutlich vorzog.

Aber egal, welchen Sender ich auch anwählte, ich bekam nur Schneegestöber zu sehen. Ich zappte hin und her, und nach kaum fünf Minuten ging der Fernseher einfach aus.

Und das Licht im Aquarium und das Licht der Dunstabzugshaube in der Küche und die Anzeige des Radioweckers, den ich aus nostalgischen Gründen als Dekoration auf einem Beistelltischchen betrieb.

Resignierend mutmaßte ich, dass nun auch kein Licht mehr im Kühlschrank sei, würde ich ihn öffnen.

Dass etwas wirklich Unglaubliches im Gange war, war nun offensichtlich. Aber dass ich nie wieder in meinem Leben meinen Kühlschrank öffnen würde, war mir zu diesem Zeitpunkt nicht zur Gänze bewusst.

Draußen stand mein Renault, und scheinbar war der einzige Weg, etwas über das zu erfahren, was vorging, es den anderen nachzumachen und nach rechts zu fahren. Ich kehrte nie wieder nach Hause zurück, was eigentlich mein Glück war, denn mein Kaff existierte nur noch zwei Stunden. Soviel ich weiß, verglühte es inklusive meines Aquariums und des hochbegabten Rooibos-Tees in einem flammenden Inferno. Wie so Vieles in den folgenden Stunden und Tagen.

Außerhalb des Hauses empfing mich die warme Milde des mitteleuropäischen Sommers; es könnte ein so schöner Tag sein, war es aber nicht. Die Eingangstüren der Häuser in der Straße standen fast ausnahmslos offen und einige Hunde und Katzen statteten sich offensichtlich gegenseitige Besuche ab. Jedenfalls waren die einzigen Bewegungen, die ich wahrnahm, das Huschen besagter Vierbeiner in den Vorgärten der schlichten Einfamilienhäuser.

Ich selbst bewohnte eine Apartmentwohnung im einzigen Mehrfamilienhaus der Straße, was mich in den Augen der Anrainer zum Sozialfall abgestempelt hatte.

Gewissenhaft verschloss ich die Haustür und ging die wenigen Schritte zu meinem Auto, das auf der nunmehr leeren Straße irgendwie verlassen wirkte.

Während ich den Wagen startete, fasste ich zusammen: Wir hatten Stromausfall, und das hatte wohl Auswirkungen auf das Fernsehen, jedenfalls wurde nichts mehr gesendet.

Moment ... erst war das Fernsehen futsch gewesen und dann der Strom. Egal, hängt wohl zusammen. Kaum, dass ich den Zündschlüssel gedreht hatte, knallte mir Deep Purple um die Ohren.

»Smoke on the water, a fire in the sky«.

So viel also zum Sender-Blackout. Alles nur wegen des Stromausfalls, schloss ich und legte den ersten Gang ein.

Etwas erleichtert fuhr ich los, mehr neugierig als besorgt, um herauszufinden, wohin alle meine lieben Nachbarn gefahren waren. Ich nahm also denselben Weg Richtung Kiel und hatte nach wenigen Minuten das Dorf verlassen und war nun unterwegs in Kronshagen, einem Vorort der Stadt. Ich passierte die Feuerwache mit ihren geschlossenen Toren, hinter deren Milchglasscheiben ich die roten Rettungsfahrzeuge schemenhaft erkennen konnte. Nur wenige Autos waren unterwegs, und alle fuhren in meine Richtung.

Smoooooooooooooooo ... das O aus der Kehle des Sängers zog sich zu einem endlosen Ton und penetrierte meine Ohren. Dabei lag ein seltsames Timbre auf dem O, als wären Deep Purple während der Aufnahme mit einem Van in hoher Geschwindigkeit über Bahnschwellen gefahren und hätten so diese spezielle Vibration erzeugt.

Ich schlug entnervt gegen das Radio und dieses warf wie zum Hohn eine CD aus.

Was folgte, war atmosphärisches Rauschen. So viel zum Thema Radio und Fernsehen und Stromausfall.

Der automatische Suchlauf ratterte alle Frequenzen rauf und runter und ich starrte entsetzt auf die gewaltige Rauchsäule, die ihren Ursprung im Zentrum Kiels zu haben schien.

Man muss wissen, dass das Herz der Stadt unmittelbar an der Kieler Förde liegt. Der spitze Meerbusen endet am Rande des Stadtkerns. Ich liebte diese Symbiose aus Innenstadt und maritimer Note. Die riesigen Ostseefähren, die von hier aus Richtung Skandinavien abdampften, erhoben sich majestätisch über die Gebäude der Stadt und den Hauptbahnhof.

Aber angesichts dieser Wand aus schwarzem, waberndem Rauch, war von diesem Charme nichts mehr wahrzunehmen.

Ich dachte gerade darüber nach, warum die Feuerwehrautos alle noch in Reih und Glied in ihrer Garage standen, als ein sehr lauter und scharfer Knall diesen Gedankengang unterbrach.

Ein etwa ein Zentimeter großes Loch war wie von Zauberhand in meiner Windschutzscheibe entstanden, und noch bevor ich begriff, was da geschehen war, folgten weitere Löcher, die unter lautem, peitschendem Getöse meine Scheiben perforierten. Verdammt, da schoss doch jemand auf mein Auto. Auf mich, auf meine Realität, auf mein Wertesystem, auf meine Seele, auf mich, mich, mich! Amoklauf oder so was, und ich mittendrin.

Ich bin Versicherungsagent und eine elende Couchpotatoe. Ich wohne in einem Kuhdorf in der Nähe von Kiel. Hier schießt man nicht. Im verdammten Fernsehen schießt man.

Nicht hier in meiner Welt. In Afghanistan oder Tschetschenien schießt man. Nicht in Dörfern in der Nähe von Kiel.

Und auch, wenn der Hauptbahnhof da zu brennen schien und vielleicht auch mehr, war das kein Grund, ich wiederhole: kein Grund, auf mich zu schießen.

Und auch nicht auf mein Auto und überhaupt auf niemanden, außer vielleicht auf denjenigen Idioten, der da versucht hat, Kiels Stadtzentrum abzufackeln.

Ich trat die Bremse bis zum Bodenblech durch und trotz ABS quietschten die Reifen. So eine Scheiße, war ich hier in Hollywood oder was? Ich hatte keinerlei Lust auf so etwas.

Rechts vor mir lag die Einmündung einer Straße und ich riss noch während der Vollbremsung das Lenkrad herum und trat anschließend das Gaspedal wieder voll durch ... theoretisch eine gute Idee ... praktisch jedoch hüpfte mein malträtierter Renault im Schneckentempo auf die Straßenmündung zu. Im fünften Gang anzufahren hatte sich nicht bewährt und ans Herunterschalten dachte ich in dieser unheilvollen Sekunde nicht, was mir noch mehr Löcher, diesmal in den Seitenscheiben, einbrachte. Carglass repariert, Carglass tauscht aus. Als hätte sich ein irrsinnig komisches Männchen in meinem Hirn eingenistet und würde nun den höchst geistreichen Werbeslogan der Autoscheibenmafia singen. Ob so etwas bei Chuck Norris auch im Kopf vorgeht, wenn er eines seiner großen Abenteuer erlebt? Endlich war ich mit meinem Wagen aus der Schusslinie gehüpft und knurrend und hustend beschleunigte das Auto.

Mein Puls raste und ich spürte die Mutter des Tinnitus in meinen Ohren.

Der Fahrtwind blies mir ins Gesicht und erzeugte in den Löchern der Scheiben schrille Pfeifgeräusche. Wo war die Polizei, wo die Feuerwehr, wo die verdammte Presse? Die Straße lag ruhig vor mir und dennoch hatte ich so eine Art Déjà-vu.

Bei vielen Häusern, die die Straße säumten, standen die Haustüren offen. Nur wenige Autos standen am Straßenrand, und kein Mensch war zu sehen.

Ich raste nun, mein Flensburger Punktekonto verdrängend, durch die Stadt und atmete erst auf, als ich ein Ortsausgangsschild passierte und die Gefahr, in meinem Wagen wie ein Patrone der Mafia erschossen zu werden, abnahm.

Als Weltuntergang wird ein natürlich auftretendes, übernatürliches oder künstlich herbeigeführtes Ereignis bezeichnet, das die Menschheit, den Planeten Erde oder das Universum insgesamt vernichtet oder zumindest die herrschenden Lebens- und Begleitumstände massiv und desaströs zum Negativen verändert.

Wikipedia

Evelyn I

Als sie die Botschaft ihres Herrn erhielt, war Evelyn Passmann gerade mit dem Auto unterwegs, um letzte Besorgungen zu machen. Schon heute Nachmittag sollte es mit der Fähre Richtung Kopenhagen gehen.

Das letzte Nest vor dem Fährterminal nannte sich Puttgarden und war völlig überfüllt mit dänischen und deutschen Touristen, die hier ihre Besorgungen machten. Die Dänen kauften Bier und Schnaps, , um so der hohen Alkoholsteuer in Skandinavien zu entgehen. Kontrollen waren eher selten und so bog sich manche Sack-Karre unter der Last der transportierten Alkoholika.

Die Deutschen kauften ebenfalls Bier und Schnaps und brachten diese Vorräte zu einem der vielen Campingplätze hier in der Gegend, wo diese während nicht enden wollender Grillmarathons, den ihnen zugedachten Zweck erfüllten.

Evelyn bog gerade auf den Parkplatz zum Supermarkt ein, als sie, wie die anderen sieben Milliarden Menschen auch, den Auftrag erhielt, besser gesagt, die Chance erhielt, die Welt zu retten, bevor sie der Allmächtige zerstören würde.

Als hätte jemand einen gigantischen Gong bedient, waren alle Menschen, Dänen und Deutsche, kleine und große, mitten in ihren Bewegungen erstarrt. Es waren Dutzende Menschen unterwegs um diese Uhrzeit, denn es war ein herrlicher Sommertag. Bis vor wenigen Sekunden herrschte das normale geschäftige Treiben eines Supermarktparkplatzes, Autos parkten ein oder aus, Einkaufswagen ratterten über den Asphalt, Kinder riefen, Mütter schimpften, alles kunterbunt und sommerlich.

Und auf einmal hielten alle im exakt selben Moment inne und lauschten gezwungenermaßen der Stimme in ihrem Kopf.

Als die Botschaft verklungen war, nahmen sie nicht etwa ihre Tätigkeiten wieder auf. Sie wandten sich voneinander ab, Väter blickten ihre Kinder und Frauen an, als hätten sie sie noch nie gesehen und keiner wollte mehr Bier und Schnaps oder Grillwürstchen kaufen.

Die Kassierer des Supermarktes wollten auch nicht mehr kassieren und der Marktleiter wollte den Markt nicht mehr leiten.

Niemand wollte noch irgendetwas tun, außer, die Welt zu retten. Denn jeder von ihnen war von Gott berufen worden, jeder von ihnen als Einziger der sieben Milliarden Seelen.

Kurz bevor Evelyn mit ihrem Wagen gegen eine große Werbetafel prallen würde, erwachte auch sie aus ihrer Starre und trat auf die Bremse. Außerhalb des Autos war mittlerweile das Chaos ausgebrochen. Menschen liefen durcheinander und die meisten eilten zu ihren Autos. Sie sah wie in Trance, wie ein Mann eine Frau grob an den Armen fasste und ihr den Wagenschlüssel entriss, sie dann so heftig schubste, dass sie hinfiel und auf ihrem buntberockten Hintern landete. Doch statt in Tränen auszubrechen, rappelte die Frau sich erstaunlich schnell auf, sprang den Mann von hinten an und schlug mit den Fäusten auf seinen Kopf ein. »Gib mir den Schlüssel, du Wichser«, konnte sie deutlich hören, schließlich waren die Fenster heruntergekurbelt. Überall spielten sich ähnliche Szenen ab, und trotz ihrer Benommenheit brachte sie die Konzentration auf, ihr Auto vom Parkplatz, der so plötzlich zu einem Tollhaus geworden war, zu steuern und aus dem Chaos herauszulenken. Auf den Gehwegen Puttgardens liefen, nein, rannten Menschen hin und her, jeder hatte scheinbar ein sehr konkretes Ziel und eilte dorthin. Und auch sie musste nun handeln.

Wer war schuld an all dem? Gott hatte ihr eine Chance gegeben, das Ende der Menschheit zu verhindern. Waren es nicht all jene, die ohne jede Moral und ohne jedes Mitgefühl Menschen wie sie ausnutzten, nur um Geld zu horten wie Stroh?

Die, die immer davon redeten, dass nur schöne Menschen ihre Daseinsberechtigung hatten, und die andere ablehnten, nur weil sie nicht den Schönheitsidealen entsprachen? Diese selbstgerechten Modezaren, diese Manager, die andere zu einer bestimmten Art von Prostitution zwangen? Sie schämte sich, selbst bei diesem Spiel mitgemacht zu haben. Die waren schuld, die, die jede Moral und jede Ethik über Bord geworfen hatten, um Gottes Gaben für sich alleine zusammenzuraffen. Sie wusste, wohin sie musste, um diejenigen dafür bezahlen zu lassen, die verantwortlich waren für Gottes Entschluss. Mit verengten Augen trat sie das Gaspedal durch, innerlich bebend vor Zorn auf die Schuldigen.

Plötzlich sprang ein beleibter Mann mit glänzender Halbglatze und hochrotem Kopf direkt vor ihr auf die Straße und sie konnte wieder nur in letzter Sekunde das Auto zum Halten bringen.

Der Mann schlug mit beiden Händen auf die Motorhaube und trat dann erstaunlich behände an ihre Tür, riss sie auf und fasste sie sehr grob an den Arm, um sie herauszuziehen.

»Raus da, ich muss das Auto haben«, brüllte der Mann ihr ins Ohr und nur der Gurt verhinderte, dass er sie aus dem Wagen zerren und auf die Straße werfen konnte.

Sie trat instinktiv das Gaspedal durch und mit quietschenden Reifen schoss das Auto vorwärts, den schwitzenden Mann mit sich reißend. Der brüllte wie am Spieß und ließ dennoch nicht ihren Arm los.

Der Schmerz in ihrem Arm war unerträglich, so sehr krallte der Mann sich fest. Die offene Fahrertür schlug gegen den Kopf des Mannes und endlich ließ er los.

Im Rückspiegel sah sie ihn über die Straße rollen. Die Verletzungen an seinen nackten Beinen und den halb abgerissenen Fuß sah sie nicht.

Das Blut schien in ihren Adern zu kochen, sie atmete schnell, und ihr ganzer Körper war mit einem Schweißfilm überzogen. Evelyn hatte das Gefühl, ihre Knochen seien aus Gummi, und sie zitterte am ganzen Körper. Das Rauschen des Blutes in ihrem Kopf übertönte jedes Geräusch, und sie raste heraus aus Puttgarden und bog nach rechts in Richtung Lübeck ab. Völlig außer sich nahm sie nicht wahr, dass von hinten ein schwarzer Mercedes heranraste und sie überholte. Der Fahrer des schweren Wagens lenkte diesen viel zu früh wieder auf ihre Spur und so knallte der Kofferraum seitlich mit großer Wucht gegen ihre Motorhaube. Sie fuhr nur einen kleinen VW Polo und die Wucht des Aufpralls reichte aus, um ihren Wagen von der Straße zu drücken.

Die Reifen verließen den Asphalt, der Wagen schoss mit hoher Geschwindigkeit über den Straßengraben und landete auf dem Acker rechts der Landstraße. Der Polo überschlug sich in Längsrichtung, rutschte noch wenige Meter auf dem Dach weiter und kam zum Stehen.

Sie hatte die ganze Zeit geschrien, unfähig, an dem Unfallverlauf irgendetwas zu ändern. In dem Moment, in dem sich der Wagen in den Acker bohrte, löste der Airbag aus und verhinderte so schwerere Verletzungen. Die Sekunden, bis das Auto zum Stillstand kam, waren unerträglich lang für sie, und mit einem Mal war Stille, von dem Ticken des Motors abgesehen. Kopfüber hing sie in ihrem Gurt und eine gnädige Ohnmacht hatte Evelyn Passmann, Fotomodell und Mannequin, für den Moment erlöst.

»Ich muss die Fähre kriegen«, war das Erste, was sie dachte, als sie langsam ihr Bewusstsein wiedererlangte. Danach strömten die Bilder des dicken Mannes, der sie aus dem Auto zerren wollte, und sein anschließender Purzelbaum auf der Straße, in den Kopf. Sie öffnete die Augen und bemerkte erstaunt, dass der Himmel erdfarben war und nach Gülle roch. Nach und nach kam die Erinnerung an den Unfall, an den schwarzen Wagen, der sie von der Straße gedrängt hatte, an den kurzen Flug über den Straßengraben und die harte Landung zurück. Endlich wurde Evelyn klar, dass sie kopfüber in ihrem Gurt hing und machte sich am Gurtverschluss zu schaffen. Mit einem »Klick« gab der Verschluss den Gurt frei und sie fiel unsanft auf den Kopf.

Da das Dach des Polo auf der Beifahrerseite stark eingedrückt war, war es sehr eng in dem Fahrzeug. Sie lag nun auf ihrem Nacken, die Knie am Lenkrad. Sie versuchte gar nicht erst, ihre Tür zu öffnen, sondern kroch nach einigen Verrenkungen durch das Fenster der Fahrertür.

Ihre Jeans war am rechten Knie zerrissen und etwas Blut hatte das Loch rot umrahmt.

Sie spürte Schmerzen an der Stirn, dort wo der Airbag sie getroffen hatte.

Evelyn hielt sich am Radkasten des Hinterrades fest, als ihr schlecht wurde und sie in einem hohen Bogen ihren Mageninhalt auf den Acker spie. Sterne tanzten vor ihren Augen, und bevor sie auch nur die Chance erhielt, ihre Gedanken zu ordnen, verlor sie erneut das Bewusstsein.

Nach weniger als fünf Minuten öffnete Evelyn wieder die Augen.

Sie lag neben ihrem Auto, das wie ein Käfer auf dem Rücken lag und seine Beine in den Himmel reckte, und blinzelte in die Sonne.

»Ich heiße Evelyn Passmann, bin 24 Jahre alt und Fotomodell«, murmelte sie. »Mama und Papa leben in Köln, und ich wohne in Düsseldorf.« Der Geruch von Gülle durchdrang die Realität wie eine olfaktorische Bombe.

»Es stinkt«, dachte sie.

»Ich muss doch die Fähre kriegen«, dachte sie und wandte den Kopf nach rechts, wo ihr zerstörter Wagen lag.

»Ich hatte einen Unfall«, konstatierte sie in geradezu karikaturhafter Naivität, die ihre Wurzeln in dem Schockzustand hatte, in dem sie sich befand.

Sie lag immer noch auf dem von Gülle durchtränkten Ackerboden, als sie begann, ihren Körper auf Verletzungen zu untersuchen. »Rechter Arm? Ok. Linker Arm ... naja, fast ok. Beine: Null Defekte, außer der Wunde am rechten Knie. Im Nacken tut es weh und das Gesicht fühlt sich an, als wäre da einiges verändert worden. Die Nase ist zugeschwollen ...«

Langsam versuchte sie, sich aufzurichten. Der Motor des zertrümmerten Polo tickte noch immer, und auf einmal bekam sie Angst, dass das Auto wie in diesen Hollywood-Filmen explodieren könnte. Hastig robbte sie einige Meter weg von ihrem Wagen.

Warum kam denn keiner, um ihr zu helfen?

Der dicke Mann. Was hatte der von ihr gewollt?

Sie bekam das nicht wirklich in den Kopf. Sie wollte einkaufen. Ja. Das wollte sie. Da war ein Supermarkt. Und der dicke Mann. Und ein dunkles Auto und dann Krach, Bumm, Peng.

»Ich muss die Polizei rufen!«. Der erste vernünftige Gedanke.

Ihr Handy lag allerdings im Wagen, und so fasste sie sich ein Herz und kroch zu dem Trümmerhaufen zurück. Sie blickte in das Innere

des Autos und sah ihr Mobiltelefon auf dem stoffbespannten Himmel des Polo liegen, der jetzt den Boden bildete. Es gelang ihr, ihren Arm so weit in das Auto zu schieben, dass sie ihr Handy greifen und an sich nehmen konnte. »Kein Netz«, lautete die Botschaft auf dem Display.

Evelyn Passmann nahm einen tiefen Atemzug und zog sich am Radkasten des Polo auf die Beine. Dann wandte sie sich Richtung Straße, und zwar genau in dem Augenblick, in dem ein Lastzug, von rechts aus Richtung des Fährterminals kommend, mit vollen neunzig Stundenkilometern einen entgegenkommenden Bus rammte. Ein infernalisches Krachen rollte heran. Das Führerhaus des Lastwagens faltete sich wie ein Akkordeon, der Bus wurde aus ihrem Blickfeld geworfen, während der Lastzug mit der zerstörten Zugmaschine von der Straße gerissen wurde und geradewegs auf sie zuschoss.

Fast die Hälfte der dreißig Meter von der Landstraße bis zu ihr legte das vierzig Tonnen schwere Geschoss im freien Flug zurück. Wie erstarrt stand Evelyn da, und bevor sie auch nur einen einzigen Muskel aktivieren konnte, rollte der Koloss dicht an ihr vorbei und kam unweit des winzig wirkenden Polos völlig zertrümmert zur Ruhe. Der Gestank von Diesel und verbranntem Gummi mischte sich mit dem der Gülle. Ein Dreckregen ging auf sie nieder, und wenn es bislang noch eine saubere Stelle an ihr gegeben hatte, war diese nun auch beseitigt.

Der ohnehin schwere Schock, ausgelöst durch ihren eigenen Unfall, verstärkte sich noch und das Bild dieses roten, fleischfarbenen, zappelnden Flecks an der total zerstörten Stelle, an der man das Fahrerhaus des Sattelschleppers vermuten konnte, brannte sich in ihr Gedächtnis.

Sie sackte auf die Knie, und der Schmerz, den sie verspürte, holte sie in die Realität zurück, bevor sie erneut die Besinnung verlor.

Der Sattelzug stand auf seinen Rädern, die sich trotz der Trockenheit bis zu den Achsen in den Acker gegraben hatten. Sie sah nur noch die Rückseite des Aufliegers, und das einzige Geräusch, das sie vernahm, war das Zischen der sich entleerenden Luftdruckbehälter des Bremssystems.

Sie stand wieder auf und taumelte barfuß auf die Straße zu – ihre Schuhe hatte sie schon im Polo verloren – noch größerem Schrecken entgegen.

Sie hatte die Straße erreicht und schaffte es, die kurze Böschung hinaufzuklettern. Der Asphalt war übersät von verbogenen Fahrzeugteilen. An der Stelle, an der der Zusammenprall von Bus und LKW erfolgte, war auf der Fläche von über einem Quadratmeter der Fahrbahnbelag aufgerissen und gab den Blick auf hellen Schotter frei. Ölige Lachen und tiefe Riefen auf dem Asphalt bildeten mit dem Trümmerfeld eine surreale optische Komposition, die von Evelyn wie ein Bild in einer Vernissage betrachtet wurde.

In ihrem Schockzustand nahm sie das Grauen dieses Ortes nicht mehr bewusst wahr.

Das völlig zerrissene Wrack des Busses lag 50 Meter weiter auf der gegenüberliegenden Seite der Straße.

Die Reifen zeigten in ihre Richtung und von dort kam keinerlei Lebenszeichen. Sie wäre eher gestorben, als zu dem zerstörten Linienbus zu laufen.

Wo blieben nur die Polizei und die Feuerwehr, die Krankenwagen, die Hubschrauber und die Schaulustigen? Sie hatte noch in ihrem Kopf, dass hier reger Verkehr geherrscht hatte und es immer wieder zu Staus kam, weil die Fähren, die kaum zwei Kilometer von hier Richtung Dänemark ausliefen, die Mengen an Fahrzeugen kaum zu transportieren vermochten. Jetzt herrschte hier gespenstische Ruhe. Das hatte sie kaum bewusst gemacht, als sie eine heftige Detonation aus Richtung des Fährhafens hörte. Erst gab es eine Art Grummeln, lauter werdend, und dann einen heftigen Schlag, wie bei einem mächtigen Gong. Sie riss den Kopf in die Richtung, aus der dieser Krach zu hören war und sah einen Glutball in den Himmel steigen, vom Aussehen her wie eine kleine Nuklearexplosion.

382,08 ₽
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Возрастное ограничение:
0+
Дата выхода на Литрес:
22 декабря 2023
Объем:
340 стр.
ISBN:
9783943795745
Издатель:
Правообладатель:
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Формат скачивания:
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