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Dieser Tatbestand zeigt sich zunächst einmal in den Lebensläufen. Der erste »Leipziger« Lebenslauf, wir haben ihn schon kennengelernt als einen, der noch die deutliche Handschrift der Mutter trug, spricht ausdrücklich davon, daß der Vater als »Mitglied des ›Volkssturms‹ gefangengenommen« wurde. Das erscheint aber als offensichtliche Irreführung. Hätten die Sowjets Erich Johnson gefangengenommen, er wäre in einem Kriegsgefangenenlager oder, das geschah Anfang 1945 noch häufiger, als Partisan vor einem Erschießungspeloton gelandet. Doch solches Schicksal blieb Erich Johnson erspart. Johnsons zweiter »Leipziger« Lebenslauf schrieb denn auch ganz nüchtern: »Mein Vater wurde bei seiner Rückkehr nach Anklam im Juni 1945 interniert.« Alle Zeugenaussagen sprechen für die zweite Version; sie kann als gesichert angenommen werden.

Erich Johnson kehrte mit seiner Frau nach Anklam zurück und wurde in »Mine Hüsung« von den Sowjets verhaftet. Danach wurde der Mann erst nach Neubrandenburg, dann nach Kowel in die Ukraine verbracht, wo er verstarb. Eine weitere, signifikante Änderung in des Sohnes Leipziger Lebensläufen weist in diese Richtung: Spricht noch der erste Lebenslauf bezüglich des Todes des Vaters von den »Aussagen eines entlassenen Kriegsgefangenen«, so korrigiert das der zweite, verfaßt vom nun mündigen Sohn, der jetzt formuliert: »nach Aussagen Zurückgekehrter«. In der Tat war jener Paul Hermann Friedrich Rammin, der dann am 27. Januar 1948 vor dem Standesamt Anklam den Tod des Erich Johnson auf seinen Eid nahm, keineswegs ein Kriegsgefangener. Ihn hatten die Sowjets vielmehr ebenfalls in Anklam interniert. Auch er gab einen »Politischen« ab, aus welchen Gründen auch immer. Im Juni war Rammin nach Rußland verbracht worden, zusammen mit Uwe Johnsons Vater. Per Postkarte würde er sich später, ein Davongekommener, bei Erna Johnson melden.

Nicht zufällig scheinen die zentralen Änderungen in Johnsons selbstverfaßten Lebensläufen stets bezogen auf das ungeklärte Schicksal des Vaters. Offensichtlich ist auch, daß die Mutter in dieser Hinsicht etwas verbergen wollte. Sie wird Rücksicht auf die Behörden der DDR genommen haben. Ein kriegsgefangener Mann erschien weniger belastend als ein »Politischer«. Doch möglicherweise bestand darin gar nicht der einzige Grund. Eine Aussage nämlich lautet:

Sie [die Familie Johnson] sind ja, bevor die Rote Armee in Anklam einrückte, ’rausgegangen aus der Stadt. Und da soll in ihrer Wohnung eine SA-Uniform gelegen haben – offen auf dem Tisch. Und es wurde gesagt, das ist ihr zuzutrauen, daß sie das aus »Gnatz« gemacht hat

– also aus Trotz, um ihre Ungebrochenheit den nun siegreichen sowjetischen Truppen gegenüber darzutun. »Nun erst recht.« Das würde selbstverständlich die Inhaftierung Erich Johnsons als »Politischer« statt als Volkssturmmann erklären. Und seine Frau hätte ihn zum Ort der Verhaftung begleitet, diese durch den Besuch in Anklam geradezu herbeigeführt? Die geschilderten Umstände ließen das Verschwinden des Vaters zu einem Geheimnis geraten, in dem »Verrat«, Versehen und Unglück gleichberechtigt – und eigentlich ununterscheidbar – nebeneinander zu stehen kamen.

»Aber«, so relativiert die zitierte Zeugenaussage ihren eigenen ersten Part, »es gab noch eine zweite Lesart. Daß das aus Wut die Hauswirtin gemacht hatte, mit der sie stets auf Kriegsfuß stand. Und das war allerdings auch eine sehr rabiate und zänkische Frau, mit der aneinanderzugeraten war nicht so übermässig schön.« Also hätten wir es mit »zwei on-dits, die einander aufheben«, zu tun. Kaum verwunderlich auch, daß »kein Mensch, jeder hat mit sich zu tun, [...] den Sachverhalt« überprüft hat. Auch in dieser Annahme hat Anneliese Klug, Uwe Johnsons Anklamer »Kindermädchen«, gewiß recht. Selbst Uwe Johnsons Schwester Elke hat sich zunächst geweigert, zur Biographie ihres Bruders beizutragen. Später, in Kenntnis der Druckfahnen dieses Buchs, hat sie die folgende Version niedergeschrieben:

Nach der Verhaftung verschwand unsere Mutter für lange Zeit, wochen-, vielleicht monatelang, so schien es mir. Wissen Sie, wo sie war? Sie reiste den Gefangenentransporten hinterher, um zu sehen, was aus ihrem Mann wird. Reisen in dieser Zeit war kein Absteigen in einem Hotel, mit ordentlichem Frühstück; reisen kann man das auch nicht gut nennen; Vergewaltigungen waren an der Tagesordnung. Sie schlief in Parks und auf dem offenen Feld, zu essen hatte sie wenig, gelegentlich hat sich einer erbarmt, ihr was zu essen gegeben und manchmal ein Bett. Sie gab erst auf, als der Transport bei Frankfurt/Oder über die Grenze ging. Einmal hat sie mir einen schäbigen, schwarzen Mantel gezeigt, ihn gegen das Licht gehalten und gemeint: Ja, der hat viel aushalten müssen, diese Nächte auf dem Feld, auf der bloßen Erde. Hätten Sie so gehandelt?

Demnach wäre Erna Johnson gut vier Monate unterwegs gewesen. Die nachstehend zitierte Ramminsche Zeugenaussage legt nahe, daß die Gefangenen damals mit der Eisenbahn verlegt wurden. Auch entsannen alte Recknitzer sich wohl des kurzen Aufenthalts von Erich Johnson in ihrem Dorf, nicht aber einer längeren Abwesenheit seiner Frau Erna, die dann ihre Tochter ein Vierteljahr allein gelassen haben müßte. Elke Johnsons Version dem Leser zugänglich zu machen gebietet die Chronistenpflicht; eine Klärung indes bietet sie nicht. Eher ein Indiz dafür, daß im Hause Johnson in der Tat viel Trivialliteratur gelesen wurde.

Wie auch immer – die schwärzeste Auslegung aller zitierten Versionen ginge darauf, daß hier jemand die Gunst der Stunde genutzt und einen als inadäquat empfundenen Partner beiseite geschafft hätte. Unterstellt, die erstzitierte Version traf zu, muß Erna Johnson gewußt haben, was auf dem Tisch ihres Anklamer Hauses lag. Daß sie andererseits, sollte sie dies denn überhaupt gewünscht haben, über die notwendige kriminelle Energie und Kaltblütigkeit zu solcher Vorgehensweise verfügt hätte, scheint, nach allem, was wir über sie wissen, doch eher ausgeschlossen. Und dennoch liegt im geheimnisvollen Verschwinden ihres Mannes diese Möglichkeit beschlossen. Sie muß hier erwähnt werden, weil Uwe Johnsons Leben weithin im Zeichen der einen großen Angst verlaufen wird: daß nämlich der, dem man seine Seele ausliefert, einen verraten könnte an die politische Macht – mit potentiell tödlicher Konsequenz.

Naheliegend, daß solche Ahnung, wonach die Politik selbst die Liebe zu vergiften vermochte, seit dem Ende von Hitlers Krieg zu Uwe Johnsons emotionaler Grundausstattung gehörte. Im vierten Band der Jahrestage wird das traumatische Bohren in immer demselben Fragenkomplex manifest, ist die psychische Wirksamkeit der fatalsten aller geschilderten Versionen nachzuvollziehen:

Warum aber nahmen die Sowjets seinen Vater mit, weder Wehrmacht noch Partei, so daß er im Februar 1947 »zuletzt gesehen wurde, als er tot auf seinem Lager lag«? (Eine Zeugen-Aussage; die Mutter hoffte auf eine Rente. Die Rente wurde ihr, siehe gesellschaftliche Vergangenheit des Ehemannes, 1947 vorläufig, 1949 endgültig abgesprochen. Anspruch auf Erziehungsbeihilfe für den Schüler Lockenvitz: Bewilligt.) Im Fragebogen, in Gegenwartskunde sagte Lockenvitz: Mein Vater hatte einen Mietstreit mit dem Besitzer unseres Hauses; er wurde fälschlich denunziert. Als er uns vertrauen mochte, mit der Bitte um Stillschweigen: In unsere Villa kam dann die sowjetische Kommandantur. (Jahrestage, S. 1722)

Also die zweiterwähnte Version, das zweite »on-dit«. Freilich berichtet der Schüler Lockenvitz sie in offizieller Umgebung, in einem »Fragebogen« und in der »Gegenwartskunde«. Und er exkulpiert auch seinen Vater, indem er dessen Parteimitgliedschaft schlicht bestreitet.

Die Frage jedenfalls nach dem Verschwinden des Vaters und seinem tödlichen Verbleib steht im Zentrum von Johnsons später auch literarisch betriebenem Nachdenken – eigenartigerweise mit wachsendem zeitlichem Abstand immer ausschließlicher. Ein lebensgeschichtliches Vexierrätsel offenbar, dessen Anziehungskraft wuchs, anstatt abzunehmen. Das zweitausendseitige Jahrestage-Epos wird sich ganz entscheidend auch aus dieser Quelle speisen. Verrat im 20. Jahrhundert lautet der Titel des Buches, das Johnson die Bekanntschaft mit Margret Boveri suchen ließ. Mit dem Debüt-Roman Mutmassungen wird Heinrich Cresspahl die Bühne betreten – der gleiche Cresspahl, der später im selben ehemaligen KZ Neubrandenburg inhaftiert werden wird wie vor ihm, in der Realität des Jahres 1945, aller Wahrscheinlichkeit nach auch Erich Johnson. Gewiß: Uwe Johnson hat Cresspahls Schicksal sich erschrieben, als das einer gewünschten, erfundenen Vaterfigur und gemäß den Gesetzen des damals Wahrscheinlichen. Doch entscheidende Anstöße hatte bereits der Knabe durch Onkel Mildings realen »Fünfeichen«-Aufenthalt erhalten. Zwar hat Johnson keine Inhaftiertenliste des Internierungslagers Fünfeichen besessen. Daß sein Vater zunächst dahin verbracht worden war, hielt er indes für eine Tatsache.

Über das Lager selbst hatte er nicht nur aus dem Mund seines Onkels Erfahrungsberichte erster Hand vernehmen können. Er konnte darüber auch bei Hermann Just nachlesen:

Im KZ Neubrandenburg hatte sich in den Jahren 1945 bis 1947 genau der gleiche traurige Vorgang abgespielt wie im KZ Ketschendorf und anderwärts in den KZ’s: Hungernde Menschen, die dahinsiechten, in immer größerer Zahl an Dystrophie erkrankten und schließlich an Unterernährung eingingen. [...] Man mußte schon vor Schwäche umfallen oder nicht mehr zum Appell antreten können, um eine Überweisung in eine der Lazarettbaracken zu erhalten. [...] Die sowjetischen Ärzte erteilten den deutschen Ärzten genaue Anweisungen, welche Kranken und welche Krankheitsstadien in das Lazarett aufgenommen werden durften. [...] Jede einzelne Lazaretteinweisung bedurfte der persönlichen Genehmigung des sowjetischen Arztes. (Just, Die sowjetischen Konzentrationslager 1945–1950, S. 119)

Mithin müssen die Überlebenschancen für Erich Johnson bereits auf deutschem Boden minimal gewesen sein. Sie verbesserten sich nicht mit seiner Verschickung in die Sowjetunion. Johnsons Onkel Wilhelm Milding, den Schmied, holten die Sowjets laut der Erinnerungen alter Recknitzer mit einem Panjewagen ab. Diesem mußte der vormalige NS-Funktionär, angebunden, im Trab folgen. Es ging erst zum Verhör. Dann ab in die Gefangenschaft.

Bei Uwe Johnson wird aus der geschilderten historischen Realität die folgende Passage im dritten Band der Jahrestage:

Hier liegt Fünfeichen, das Sanatorium! Bräunlich und geradlinig liegt es mit seinen Baracken und seiner Hauptwache inmitten der weiten Ödfläche, die mit matschigen Lattenrosten, Stacheldrahtgängen und gedrungenen Wachtürmen ergiebig ausgestattet ist, über seinen Pappdächern ragen tannengrün, massig und weich zerklüftet die Berge am Lindental und dem Tollense-See himmelan, und weithin sichtbare Tafeln am Zaun unterrichten den Freund der Landschaft in russischer und deutscher und englischer Schrift: Verbotene Zone. Eintritt verboten. Es wird geschossen! Nach wie vor leitete die Rote Armee die Anstalt. Angetan mit ordensgeschmücktem Blouson, das weit über die bauschigen Breeches fällt, den Kopf unterm erdfarbenen Krätzchen erhoben, das Schnellfeuergewehr in Vorhalte, treibt der Armist den Häftling über die Lagerstraße voran, von Wissenschaft gehärtet und mit belustigter Verwunderung hält er auf kurz angebundene und verschlossene Art die Patienten in seinem Bann, – alle diese Individuen, die, zu schwach, sich selbst Gesetze zu geben und sie zu halten, ihm ausgeliefert sind mit Leib und Bewußtsein, um sich von seiner Strenge stützen lassen zu dürfen. [...]

Dies aber war Fünfeichen, vier Kilometer vom Stargarder Tor; noch 1944 hatte er in dieser Gegend für die Briten nicht nur den Fliegerhorst Trollenhagen ansehen sollen, auch wie die Deutschen in Fünfeichen ihre Kriegsgefangenen hielten. Wenn er seinen Augen trauen wollte, war er im alten Südlager von Fünfeichen, in der Baracke 9 oder 105, neben dem Stacheldraht des Gemüsegartens, nach Burg Stargard hin, und im Norden war der eingezäunte Komplex der Werkstätten und Kammern wie auf seiner Zeichnung von damals. (Jahrestage, S. 1287 f.)

Diese Passage übrigens ist eine direkte Thomas Mann-Anleihe, dessen Tristan-Erzählung mit dem Satz beginnt: »Hier ist ›Einfried‹ das Sanatorium!«, um im zweiten Abschnitt fortzufahren: »Nach wie vor leitet Doktor Leander die Anstalt.« Johnson selbst wird in seiner Rede zur Verleihung des Thomas-Mann-Preises im Jahr 1979 von dem »verwandelten Zitat« aus einem »Anfang« bei Thomas Mann sprechen. Wer vergleicht, was oben zitiert wurde, begreift, warum.

Erich Johnson wird das Lager Fünfeichen im Frühsommer 1945 kennengelernt haben. Danach, im September des Jahres, muß er noch in ein Lager nach Frankfurt an der Oder deportiert worden sein. Dies war seine letzte Station auf deutschem Boden. Von hier aus wahrscheinlich wurde er in ein Internierungs- und Arbeitslager in den Nordwesten der Ukraine verbracht, nach Kowel, einer Stadt mit ca. 30 000 Einwohnern, die zur Hauptsache in den dortigen Gerbereien und Tabakfabriken arbeiteten. Von Erich Johnsons Ende wissen wir nur, was der Mithäftling Paul Rammin nach seiner Rückkunft zu Protokoll gegeben hat:

Nach der Besetzung der Stadt Anklam musste ich noch bis zum 25. Mai 1945 bei den Russen arbeiten. An diesem Tage wurde ich im Amtsgerichtsgebäude festgesetzt. Ende Juni 1945 kam ich von hier nach Rußland. Am 1. September 1945 kam ich mit einem großen Transport [mit, und] lernte ich im Lager von Frankfurt an der Oder den Milchkontrolleur Erich Ernst Wilhelm Johnson kennen. Dieser war geboren am 26. Juli 1900. Während des Krieges war er bei der Molkerei in Anklam beschäftigt. Er wurde ebenso wie ich nach der Besetzung der Stadt Anklam verhaftet. Auf dem Weitertransport nach Kowel war ich mit Johnson ständig in demselben Waggon. Während der Reise wurde er krank. Er litt an Wassersucht. Er sah verschiedentlich im Gesicht infolge der Krankheit entstellt aus. In Kowel arbeitete Johnson noch einige Zeit. Als sein Zustand sich stark verschlechterte, blieb er kurze Zeit in der Unterkunft. Hier starb er dann in den ersten Monaten des Jahres 1946. Den Tag vermag ich nicht mehr anzugeben. Es wird im Monat März gewesen sein. Eines Morgens, als wir zur Arbeit austraten, sah ich mich nach Johnson um. Da bemerkte ich, daß er tot auf seinem Lager lag. Bei der Beerdigung war ich nicht zugegen. Johnson befand sich in Kowel, Bataillon 444.

Unter Hinweis auf 156 des Reichsstrafgesetzbuches versichere ich an Eides Statt, daß ich die oben genannten Angaben nach besten Gewissen und Gewissen gemacht habe.

Vorgelesen, genehmigt und unterschrieben.

Siegel

gez. Paul Rammin

Geschlossen.

Der Standesbeamte

gez. Gulker

Der Sohn hatte die Zeugenaussage in seinen Papieren. Noch der Student muß angenommen haben, daß sein Vater im Jahr 1947 verstorben war. Später, womöglich erst nach dem Tod seiner Mutter 1963, hat er das zutreffende Datum in Erfahrung gebracht. Aus Erna Johnsons Nachlaß kann er die Aussage Paul Rammins übernommen haben.

DRITTES KAPITEL
JUGEND UND SCHULBESUCH IN
RECKNITZ UND GÜSTROW.
DER ABITURIENT

_____________

NEUANFANG IN RECKNITZ AN DER REGNITZ

Die Familie des Internierten setzte nach dessen Verhaftung ihr Leben bei den Verwandten in der Recknitzer Schmiede fort. Dieser Krieg war für sie zu Ende. Der »Führer« hatte sich am 30. April erschossen. Am 2. Mai ergab sich seine Hauptstadt den sowjetischen Siegern. Das Dorf Recknitz trennen ziemlich genau zehn Kilometer von Güstrow. Auf einer Anhöhe gelegen, wird es von einer sehr schönen, heute wieder renovierten Kirche beherrscht. Nur wenige Kilometer entfernt findet sich das größere Weitendorf, ein Name, der in der Babendererde wiederkehren wird. Etwa einen halben Kilometer weiter liegen Schloß und Gut Rossewitz, von Recknitz aus gesehen hinter einem Gemeindewald. Hier erblickte der Knabe die bereits zitierten Bilder massenhaften Typhustodes. Uwe Johnson hat sich darüber hinaus (in den Begleitumständen) an diese Zeit und an diese Gegend ausführlich erinnert:

Das Dorf war bedrängt von zivilen Flüchtlingen aus der östlichen Richtung, widerliche, unbequeme Mahnung waren sie an die so geläufig im Gebete bezeugte Tugend der Nächstenliebe, eine Gefahr für den Wohnraum, selbst für die Gute Stube, für die eigenen Vorräte an Mitteln zum Leben (was im Mecklenburgischen, als »läven«, ein Wort ist auch für das Essen). An den Sonntagen dieses Frühsommers ist die Kirche dicht besetzt, hier wollen die einheimischen Bauern den Flüchtlingen ihre Frömmigkeit etwas weniger kostspielig beweisen, so wie diese ihnen vorzuführen gedenken, dass sie immerhin in der Innigkeit des Glaubens gleichgestellte Personen sind. Was aber hat der Pastor, der Ergebung predigt in Gottes unerforschliche Fügung, was für Ratschläge hat dieser verkleidete Mann noch im Januar gegeben? Eine ungehörige Frage, für Kinder. [...] Hört man die Erwachsenen, so ist Manches erhalten von des Wahnsinnigen Verdienst. Die Initialen seines Grusses waren auf jeweils den achten Buchstaben des Alphabets gefallen; Freunde in der Gesinnung verständigten einander nunmehr mit dem Ruf: »Achtundachtzig!« (Begleitumstände, S. 28)

Hieran wird eine Differenz zwischen den Erwachsenen und dem Kind deutlich. Sie muß sich noch dadurch verschärft haben, daß die Verwandten die Niederlage noch immer nicht wahrhaben wollten. Dabei hatten, wie sich Joachim Meier, ein Schulfreund Johnsons aus der Recknitzer Zeit, erinnert, die französischen Zwangsarbeiter des Dorfes beim Einmarsch der Russen die Trikolore gehißt und so eine Schutzzone für die Deutschen geschaffen. Bei dem von Johnson erwähnten Pfarrer, dem »verkleideten Mann«, handelte es sich um den Pastor Kruse. Die Dorfjugend nannte diesen Mann wegen seines deutsch-zackigen Auftretens »Knicks«. Er pflegte nämlich unverdrossen mit dem Zusammenschlagen der Hacken und dem Einknicken des Oberkörpers zu grüßen. Dieser Deutschnationale, ein vormaliges NSDAP-Mitglied, hatte zuvor als Studienrat für Griechisch und Latein amtiert. Er wurde dann mit dem Kriegsende aus dem Schuldienst entfernt. Erhielt, eine Referenz vor seiner klassischen Bildung, die Recknitzer Pfarrstelle zugeschanzt. Mit ihm pflegte Erna Johnson vertraulicheren Umgang. Ihr Sohn mißbilligte dies scharf. Wenn schon noch nicht an eine neue, so glaubte doch Uwe Johnson bereits im Frühsommer 1945 an das Ende der alten Zeit. Er stellte dem Pastor Kruse Fragen nach dem Anteil Gottes an der jüngst eingetretenen Katastrophe. Erna Johnson verwies ihm das streng. Andererseits bot das ungebrochen ehrgeizige soziale Streben der Mutter entschiedene Vorteile für den Sohn, sorgte zumindest dafür, daß Uwes Englisch auch unter den beschränkten Ausbildungsverhältnissen von Recknitz gefördert wurde. Dies muß ihr hoch anrechnen, wer um den nachgerade identitätsbildenden Wert des Englischen für den späteren Autor weiß. Den Sprachunterricht erteilte eine Studienrätin aus dem Ostpreußischen, Frau Luthe aus Tilsit. Eine fein gebildete und nun schon ältere Dame, die Uwe Johnson auch häufig außerhalb der Unterrichtsstunden aufsuchte. Bei Frau Charlotte Luthe – geboren am 7. Dezember 1899, gestorben am 14. Juni 1980 – lernte ein Knabe in Recknitz fürs Leben. So eindrücklich, daß er später mit dieser Dame einen Briefwechsel unterhalten wird, der über die Befindlichkeit des in Rostock frisch Verliebten mehr als jede andere Äußerung Johnsons aussagt. Frau Luthe muß eine begnadete Pädagogin gewesen sein.

Im Dorf erinnert man den Knaben als einen viel lesenden Sonderling, der, in der Frühjahrssonne auf Sandhügeln sitzend, seiner Lektüre nachzugehen pflegte. Es galt ja auch, lesend vieles nachzuholen nach dem »Heimschulen«-Aufenthalt. Lesestoff wiederum fand sich ausreichend in Recknitz. Denn Onkel Milding hatte in seine Schmiede den Buchbestand der Schule übernommen, Mira Jaeger entsinnt sich auch an diesen Vorgang. Demzufolge geschah das, nachdem deren Lehrer Otto Bussicke – auch Johnsons Begleitumstände erinnern das grausige Geschehen – einen spektakulären Selbstmord verübt hatte: Er hatte sich und seine Familie, die Enkelkinder mit eingeschlossen, beim Einzug der sowjetischen Sieger entleibt: ein Goebbels in Mecklenburg. Der Lehrer Otto Bussicke vollzog die Tat vor dem Spiegel sitzend – die Einschußlöcher der Kugeln, das an die Wand verspritzte Menschenhirn, Details, die auch in den Begleitumständen Erwähnung finden. Der Tote, dessen Bibliothek auf diese Weise in die Recknitzer Schmiede kam, war nicht nur überzeugter Nationalsozialist, vielmehr auch Mitglied der »Deutschen Buchgemeinschaft« gewesen.

Uwe Johnson erhielt Unterricht beim Nachfolger Bussickes. Der Schüler schrieb eine ordentliche, leserliche Handschrift und pflegte seine Hausaufgaben nicht nur mit penibler Sorgfalt, sondern zudem sehr schnell zu erledigen. Über die häuslichen Verhältnisse sprach der potentielle Primus nicht. Pflegte auch niemals Mitschüler nach Hause mitzunehmen. Ging in Holzpantoffeln mit kurz geschnittenem Bürstenhaarschnitt durchs Dorf. Entzog sich aller Feldarbeit so konsequent wie nur immer möglich. Ein Intellektueller, ein Kopfarbeiter wuchs hier heran, kein Handarbeiter – wie immer dieser Intellektuelle in seiner späteren Literatur dann auch die kunstvolle Handarbeit eines Heinrich Cresspahl intensiv und mit höchstem Respekt darstellen wird.

Vom Juni 1945 bis zum Juli 1946 besuchte der Knabe die Schule Recknitz im Kreis Güstrow. Durch diese Schule zuallererst erhielt die neue Zeit Zugang zu seinem Kopf, wenngleich man zu Hause in der Recknitzer Schmiede inzwischen den »Führer« von der Wand genommen hatte. In der Schule freilich und den anderen öffentlichen Gebäuden war bereits ebenso überlebensgroß das Bildnis eines anderen aufgehängt. Und die Handschrift dieses anderen bestimmte auch, was es zu lernen galt. Auftrat der Marschall Jossif Wissarionowitsch Stalin, Sieger im »Grossen Vaterländischen Krieg«, auch »Vater aller Völker« geheißen. Die eine politische Ikone löste die andere ab. Ohne Übergangsperiode, in hartem Schnitt. Nicht mehr der aus Braunau sah, »vertrauensvoll und gerissen«, in die Gute Stube hinein, sondern der gütig anzuschauende ehemalige Priesterseminarist aus Georgien, der schnauzbärtige Mann aus dem Gouvernement Tiflis, dessen Biographie die Besatzungsmacht überall auszuteilen begann.

Nun kam er unter ein neues Regime, das mit dem alten den Anspruch auf Allmacht gemeinsam hatte – die Vorzeichen, Fahnen und Bilder waren verschieden, der Anspruch und seine Konsequenzen die gleichen; das hatte dieser kluge, scharf beobachtende Junge schnell heraus. (Wolff in: »Wo ich her bin ...«, S. 157)

Das Kriegsende bedeutete für die Kinder gewiß nicht die »Befreiung«, aber doch immerhin ein »Ende des Bombens«, einen Neuanfang und das »Jahr der letzten Spiele«. Die Normalisierung des Lebens begann und mit ihr eine Systematisierung der Arbeit des Überlebens, mit bald schon wieder geregeltem Schulunterricht und schüchtern keimenden neuen Plänen. Die schlossen erste Anflüge von »Liebe« mit ein.

Nicht nur die Kinder, auch die Erwachsenen begannen wieder nach vorn zu leben. Erna Johnson fürchtete die Russen nicht übermäßig. Ihr Selbstvertrauen und ihre Entschlußkraft schienen ungebrochen. Auch ihr Anspruch auf Glück und die stete Hoffnung auf sozialen Aufstieg hatten die Götterdämmerung des »Dritten Reichs« und seines Frauenverbands offenbar wenig beschadet überstanden. Der Knabe spielte derweil noch Plumsack auf einer »rauschhaft grünen Wiese«, Wettspringen vom Dach der Recknitzer Kirchenscheune hinein in Fässer voll Heu, und im Winter ging es mit dem Schlitten die Hänge hinab. Mit dem Peekschlitten, den Onkel Milding kunstreich gefertigt hatte, befuhr man die überschwemmten, gefrorenen Wiesen im Recknitzer Au-Graben, einer Sumpflandschaft, die vom »Zehlendorfer Damm« durchquert wurde, unweit vom »Weitendorfer Tann« gelegen. Diese Landschaft wird – zum Teil – die Landschaft der Babendererde sein. Weiterhin ist die Erinnerung Uwe Johnsons an den Recknitzer Winter von 1945/46 eingegangen in Gesines Heimaterinnerung, die sich, den Blick auf die vom gefrorenen Wasser eingeschlossenen Halme geheftet, im Abschlußband der Jahrestage ein Leben im mecklenburgischen Winter imaginiert. Eine Reminiszenz an Kinderzeiten von nahezu Proustscher Eindringlichkeit. So etwas prägte die Kinder Mecklenburgs für ihr Leben, »und wenn eines einhält für einen Augenblick, sieht es deutlich wie niemals wieder die einzelnen Halme, die in dem gefrorenen Wasser eingeschlossen sind«. (Begleitumstände, S. 31) – Eines der ganz seltenen Erinnerungsbilder im Werk Uwe Johnsons übrigens, in denen sich ein winterliches Mecklenburg reproduziert. Ansonsten pflegte seine Erinnerung dem frühen Sommer den Vortritt zu lassen. Besonders gern dem Mai, wo dieser am heißesten ist.

Auch eine maienhafte Schülerliebe hat sich wohl in Recknitz ereignet. Im Schuljahr 1945/46 trafen sich zwei junge Menschen im Sog des verlorenen Kriegs. Beider Bekanntschaft wird auf der Güstrower Schule begonnen haben, an die Uwe Johnson gewechselt war. Der Schüler begann dort seine Laufbahn als ein – zunächst noch in Recknitz wohnhafter – »Fahrschüler«. Den Erwachsenen galten die zwei, die in Güstrow aufeinandertrafen, in Recknitz über die Felder gingen, als sozial nicht ebenbürtig. Der Knabe hatte immerhin noch bei Verwandten unterzukommen vermocht. Das Mädchen dagegen hatte alles verloren. Also verliebte sich der junge Uwe, jedenfalls nach der bestimmten Ansicht der Mutter Erna, »nach unten«. »Denn«, so schreiben die Begleitumstände, »das Mädchen steht im Ansehen einer Familie, die hat im Schlesischen alles verloren, das Haus ist zerschossen, die Möbel sind verbrannt.« (ebd.) Solch Mädchen gab keinen Umgang ab für den Sohn einer ehemaligen Honoratiorenfrau. So wurde 1946 im Bereich der Kinderliebe eine soziale Ordnung wiederhergestellt, die nur noch im Kopf der unbelehrten Erwachsenen existierte. »Entlang dieser Linie [von Besitz und Nicht-Besitz] ist zu trennen.« (ebd., S. 31 f.) Als die Trennung der beiden Kinder bereits durchgesetzt war, schrieben sie einander noch »Botschaften, verschlüsselt in den Buchstaben des kyrillischen Alphabets (so sicher sind sie, sie hätten etwas zu verbergen)«, (ebd., S. 32) Endlich erschien »die alte Ordnung von neuem eingerichtet; ein jedes Kind weiss nun seinen Platz«. Man hatte den beiden »den Kopf gewaschen«. Nicht einmal der Name dieser frühesten Liebe Uwe Johnsons ist auf uns gekommen; doch spielt sie ihre Rolle im Dritten Buch.

GÜSTROW – STADT ERNST BARLACHS.

DIE WOHNUNG AM ULRICHPLATZ.

EINE MUTTER UND IHRE KINDER IN DER NACHKRIEGSZEIT

Im Spätsommer des Jahres 1946, irgendwann zwischen August und September, zogen die Johnsons nach Güstrow. In den ersten drei Jahren mußte die Familie häufig umziehen, ehe sich ein Domizil für längeres Bleiben fand. Man wohnte zuerst in Güstrows Kinderheim. Dann in der Prahmstraße 30, danach in der Rostocker Chaussee Nr. 20, weiterhin am Spaldingsplatz (das wird 1948 gewesen sein), bevor man schließlich die Wohnung fand, die Uwe Johnsons Zuhause bis ins Jahr 1956 war. Das Haus lag am Ulrichplatz, benannt nach dem Herzog Ulrich, erschien aber an der Feldstraße durchnumeriert. Daher findet sich als Angabe »Feldstr. 19« neben »Ulrichplatz 19«. Wohnraum war knapp im Güstrow des Nachkriegs. So wird Erna Johnson sehr zufrieden gewesen sein, im Winter 1949 mit ihren beiden Kindern die Wohnung im Haus an der Feldstraße beziehen zu können. Die Wohnung war eine Dienstwohnung. Deshalb wurde sie auch, als Mutter und Schwester 1956 »in den Westen eingegangen« waren, umgehend geräumt. Der Sohn versteigerte die verbliebenen Möbel und hat das Ganze nahezu maßstabsgetreu in die Mutmassungen eingehen lassen (Flucht der Frau Abs). Die Wohnung lag nicht allzuweit entfernt vom Bahnhof Güstrow, dem Arbeitsplatz der Mutter. Steht man heute in der Güstrower Feldstraße vor dem unverändert erhaltenen Haus, hat man im obersten Geschoß zur Linken die Wohnung der Johnsons während sieben entscheidender Güstrower Jahre vor sich. Zwei Zimmer mit Wohnküche. Die Verhältnisse waren begrenzt. Selbst die Fenster dieser Wohnung fielen kleiner aus als die ihres Pendants auf der rechten Seite. Das Haus besitzt einen kleinen Vorgarten, mit Büschen darin und von einer Hecke umgeben, in der wohl schon zu Uwe Johnsons Zeiten ein ganz und gar umwachsener Briefkasten stand. Eine enge Holztreppe führt in die Wohnung des obersten Geschosses. Wer über diese »enge knackende Treppe« (Babendererde) die Wohnung verließ, gelangte hinaus auf die Feldstraße und auf den Ulrichplatz, der ein Dreieck bildet. Gegenüber befindet sich eine öffentliche Telefonzelle.

Hier war der Schüler, der als Jürgen Petersen in der Babendererde auftritt, noch einmal zu Hause wie später wohl nirgends mehr. Johnsons Schulfreund Heinz Lehmbäcker, er war einige Male bei Johnsons zu Besuch, erinnert die peinliche Ordnung in dieser Wohnung. Die Räume machten notgedrungen einen eher ärmlichen, dabei stets korrekten Eindruck. Die kleinbürgerliche Enge und spießige Signatur dieses Zuhauses hat der Heranwachsende irritierend gespürt. In der Babendererde reflektiert Jürgen Petersen: »Petersens gute Stube: dachte er mit längst abgenutztem Hohn. Vor seinen Augen stand noch das grüne Sofa, das war Plüsch in unangenehmen Formen.« (S. 45 f.) Für Erna Johnson muß sich der Wechsel aus dem Anklamer Einfamilienhaus in die Reichsbahnwohnung als ein erheblicher sozialer Abstieg ausgenommen haben. Ihre Unzufriedenheit wuchs mit der Herausbildung der neuen »sozialistischen Ordnung«, um so mehr als umgekehrt ihr Sohn diese neue Ordnung schon bald zu unterstützen begann. Beide Kinder gingen in nicht allzu weit entfernte Schulen. Die Schwester Elke in die nur wenige Straßen, ca. zehn Minuten Fußweg entfernte heutige Wossidlo-Schule. Uwe zunächst in die gleiche Anstalt, von September 1946 bis Juli 1948 dann in die Zentralschule in Güstrow, jene Hafenschule an der Hafenstraße, am Rostock-Bützow-Güstrow-Kanal, südlich des Stadtgrabens gelegen. Die Wossidlo-Schule und Hafenschule wurden als Komplex 1930 erbaut. – In den Jahrestagen wird daraus, mit poetologischer Folgerichtigkeit, Gesines »Brückenschule« in Gneez.

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9783863935047
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