Читать книгу: «Die Kuh gräbt nicht nach Gold», страница 3

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Und selbstverständlich wusste das alles auch Paul Eichert. Manchmal war es zwischen ihm und Milka eine Art Spiel. Zu sehen, zu hören, wie der andere argumentierte, antwortete.

Milkas Vertrauen in ihren Käfer war am Wachsen. Dass es sich jetzt um die Jungfernfahrt handelte, das hatte sie Paul vorsichtshalber verschwiegen. Mit einem beherzten Tritt aufs Gaspedal nahm sie Anlauf, um den Anstieg zur nächsten Ortschaft zu nehmen. Als sie sich Künzelsau näherten, unternahm Paul den erneuten Versuch eines Abbruchs ihres Vorhabens mit bürokratischem Hinweis auf die Zuständigkeit der lokalen Kripo und einer kritischen Anmerkung zum Tankinhalt des Käfers. Milka blockte das durchsichtige Argument ab. In Bieringen nahm sie die Brücke über die Jagst, dann links den Weg Zum Lauschbusch, fuhr langsam über den holprigen Waldweg, passierte die Fundstelle und hielt am Wegrand, als sie links die schmale Lichtung zum Ufer erreichte.

Das Gras zeigte deutliche Spuren der gestrigen Trampelei. »Wo würdest du als Angler deine Flasche kühl halten? Im Schatten eines Baumes oder im Wasser?« Milka ging vor bis zum Ufer, suchte alles ab. Nichts. Sie drehte sich nach Paul um. Der stand ganz links, neben einer buschigen, ausladenden Purpurweide und zog offensichtlich an einer Schnur – so dünn, dass Milka sie auf die Entfernung nicht erkennen konnte. Paul zog weiter, langsam jetzt. Einen Augenblick später hielt er am Ende der Angelschnur eine Bierflasche hoch. So triumphierend, als hätte er gerade mit der bloßen Hand eine kapitale Forelle aus einem Gebirgsbach gefischt. »Du hattest recht. Eine Bügelflasche.«

Milka beäugte den Fund. »Da ist was drin.«

»Bier vielleicht?«, sagte Paul in leicht süffisantem Ton.

»Sieht eher nach Papier aus. Steckt ganz oben.«

»Stimmt. Das Ding bringen wir Karle auf dem Rückweg.«

»Der ist bestimmt nicht im Büro. Nicht heute. Und ich will wissen, ob da was draufsteht.«

Es bedurfte Milkas hartnäckiger Überzeugungskraft und mehrerer Papiertaschentücher aus dem Handschuhfach des Käfers sowie einer Pinzette aus dem Erste-Hilfe-Kasten, bevor es Milka gelang, den Zettel weitgehend unbeschädigt aus der Flasche zu ziehen. Paul kommentierte den Vorgang vorrangig unter dem Aspekt, Fingerabdrücke nicht zu verwischen. Milka wollte wissen, was auf dem Zettel stand. Unter Pauls gewissenhafter Aufsicht rollte sie das lädierte Papier behutsam auf, es nur mit Pinzette und Taschentuch berührend. Die Schrift war krakelig und an verschiedenen Stellen kaum zu entziffern.


»Hm, merkwürdig«, kommentierte Milka sibyllinisch.

»Wieso? Ist doch eine recht klare Aussage«, sagte Paul. Er zückte sein Smartphone und fotografierte den Zettel und die Fundstelle der Flasche. »So, das packen wir alles ein und geben es auf dem Rückweg bei Karle ab.«

»So klar nun auch wieder nicht. Warum nennt er nicht Ross und Reiter? Sagt, wer ihm an die Gurgel will. Und warum.«

»Du meinst, so wie in den Krimis, wenn der Angeschossene mit letzter Kraft die Anfangsbuchstaben des Täters in den Sand schreibt. Vielleicht kam er nicht mehr dazu. Dachte, er hätte mehr Zeit.«

»Das könnte sein. Paul, da ist noch was.«

»Wo?«

»Nicht wo, etwas, das mir eingefallen ist. Bei dem umgekippten Klappsessel des Anglers lag doch ein dünnes Sitzkissen. Da war was aufgedruckt. Oder aufgestickt. Konnte ich auf die Entfernung nicht erkennen.«

»Ich erinnere mich. Das war aufgedruckt. Auf einer Seite. Und ziemlich lädiert, durchgescheuert vom Sitzen. Ein Oldtimer war da abgebildet. Frag mich nicht, welcher Typ.«

Milka schwieg, dachte nach.

»Was fängst du jetzt mit der Information an?«

Milka zögerte. »Angler und Oldtimer. Klar, kein Widerspruch. Passt aber irgendwie nicht zwingend zueinander.«

»Du denkst wahrscheinlich an Langenburg? Liegt bei deiner bevorstehenden Rallye auch nahe. Komm, wir fahren jetzt.«

Paul Eichert lieferte den Fund bei der Kripo in Künzelsau ab. Sein Kollege Karle hatte anscheinend dienstfrei. Einer seiner Kollegen notierte sich Pauls Handynummer.

Kurz vor Vellberg wies Milka auf die rechts liegende Stöckenburg hin. »Da gab es mal eine keltische Siedlung mit einer Fliehburg. Heute steht da die evangelische Sankt Martins-Kirche, sozusagen die Mutterkirche der ganzen Region.«

»Hast du bestimmt von deinem Miraculix, Professor …« Pauls Handy klingelte in Milkas Worte »Lothar braut nix« hinein. Kommissar Karle ließ sich die Umstände des Funds erklären, versprach für später eine Überraschung, wollte aber partout nicht verraten, was er damit meinte.

Milka saß mit Paul zusammen, beide über das Programm und die Formulare zur Langenburg Historic gebeugt. »Am Freitag Anreise, Dokumente und technische Abnahme. Und die wiederholt sich jeden Tag. Ab 18 Uhr starten dann die ersten Fahrzeuge zum Oldathlon. Am Samstag sind wir nach der Fahrerbesprechung um 9 Uhr dran. Zum ›Landtag‹?« Paul setzte ein Fragezeichen hinter Landtag.

»Damit ist nicht der Landtag in Stuttgarts Schlossgarten gemeint, Paul.«

»Dachte ich mir schon. Und am Sonntag ist dann Bergtag.«

»Genau. Zwei Trainingsläufe und dann die zwei möglichst zeitgleich zu fahrenden Wertungsläufe. Den Start erklär ich dir später.«

Die Tür zum Kaminzimmer öffnete sich rücksichtsvoll langsam, Laura steckte vorsichtig ihren Kopf durch den Spalt. »Morgen nicht vergessen, bestimmt nicht?« Milka schüttelte den Kopf. »Bestimmt nicht.«

Ihr Bruder Christoph tauchte hinter seiner Tochter auf: »Da draußen steht Sebastian mit seinem Hund, beäugt gerade deinen Käfer.« Das Peterle, der schwarze Hofkater, zwängte sich zwischen Christophs Beinen durch und sprang auf Milkas Schoß. Allen Bemühungen zum Trotz hatte sie seinerzeit die Namensgebung durch Laura und Jonas nicht mehr abbiegen können.

Sebastian Wild, ehemaliger Kreisjägermeister und Pauls Onkel und, nicht zu vergessen, Lieferant einer leider nur geringen Menge an exzellenter Wildsalami für den Hofladen, war durch den Flur zu hören. Genauer, sein Deutsch-Kurzhaar machte sich bemerkbar.

Milka begrüßte ihn im Flur, wies auf das Kaminzimmer. Sebastian Wild kannte den Weg. Der Deutsch-Kurzhaar folgte Milka in die Küche, wartete artig auf seinen dicken Wurstzipfel, folgte Milka auf dem Fuß und machte in respektvoller Distanz zu Peterle Platz. Man kannte sich und die jeweiligen Reviergrenzen.

Milka stellte einen Lauffener Katzenbeißer auf den Tisch und schenkte dem ehemaligen Kreisjägermeister ein sehr gutes Viertele ein. Sebastians Augen begannen zu glänzen. Den kritischen Blick seines Neffen bemerkend, fragte er: »Bist du im Dienst?«

Paul ging nicht darauf ein. »Du siehst etwas erschöpft aus, Sebastian. Etwas derangiert. Und das Pflaster an der Hand?«

»Wir waren auf Fuchsjagd. Und mein Deutsch-Kurzhaar ist hinterher, wollte in den Bau – dafür ist er aber nicht geschaffen.«

»Momentan ist doch keine Jagdsaison.«

»Das ist wohl richtig. Aber meine Nichte, die Inge, in Gaildorf, kennst du doch …«

»Das ist schon ewige Zeiten her.«

»Na ja, und vor ewigen Zeiten hatte ich mal so viele Fuchsfelle zusammen, dass sie sich vom Kürschner einen Mantel …«

»Sebastian, was hat das mit heute zu tun?«

»Mach ja schon.« Sebastian Wild nahm einen großen Schluck des Rotweins. »Vor einigen Tagen rief sie mich an. Also, wie soll ich sagen, sie hat etwas zugenommen. Oder etwas mehr. Jedenfalls passt der Mantel nicht mehr so recht. Sie fragte an, ob ich einige Füchse erlegen könnte, sodass der Kürschner …«

Paul platzte laut heraus, Milka unterdrückte ihren Lachreiz, so gut es eben ging. Es ging ausgesprochen schlecht.

»Also bist du jetzt im Sommer auf Fuchsjagd. Falsche Zeit, oder?«

»Nicht die beste. Aber an den Waldrändern mit den Übergängen zu Feldern und mit Geduld hat man eine Chance.« Sebastian Wild nahm einen kräftigen Schluck Katzenbeißer, das Glas war schon beinahe leer. »Nur, das Schwierige daran ist, du musst Füchse aus der gleichen Region schießen. Je nach Standort haben die andere Fellfarben und dann, na ja, dann passt es erst wieder nicht.«

Das Gelächter fiel diesmal verhaltener aus, übertönte jedoch das Klopfen an der Tür.

Michael Deiniger kam herein, zwar ein eher seltener Gast im Mayr’schen Hofgut, aber Milkas technischer Ratgeber für die Komplettrestaurierung ihres Käfers. »Guten Abend. Geht lustig zu bei euch.« Nur die Mundwinkel seines hageren Gesichts bewegten sich zu einem angedeuteten Lächeln, als Paul die Story vom Fuchsfellmantel in Kurzfassung wiederholte.

»Dein Käfer steht draußen, Milka. Hattest du heute deine Jungfernfahrt?«

Milka behauptete später steif und fest, Pauls Gesicht habe in diesem Moment eine kränkliche Blässe angenommen. Was Paul vehement bestritt.

»Sehr gut bestanden. Paul kann das bezeugen. Und du bist bei der Rallye auch dabei? Mit deinem 75er Morgan Plus8 Cabrio?«

Diese Fachsimpelei sagte Sebastian Wild nun gar nichts. Er schenkte sich nach und füllte ein Henkelglas für Deiniger. Sein fragender Blick an Paul fand nur ein Kopfschütteln. »Du warst wohl zu lang in Hamburg. Ihr Nordlichter habt eben vom guten Württemberger keine Ahnung.«

»Du bist es, der keine Ahnung hat, Sebastian. Im Norden, genauer gesagt in Bremen, lagert mehr Württemberger Wein als bei euch.«

»Du tüddelst doch«, meinte Sebastian, der das Wort bei Paul aufgeschnappt hatte, es aber »tüddelscht« aussprach. Der reine Horror für Paul.

»Von wegen. Das geht zurück auf einen Ratsbeschluss der Hansestadt aus dem Jahr 1405. Heute ist der Ratskeller mit seinen 5.000 Quadratmetern die weltweit größte Lagerstätte für deutschen Wein und gehört zum Weltkulturerbe. Alle Großen waren hier. Bismarck, Kaiser Wilhelm I und II, Richard Wagner, Strauss, Gogol. Selbst die Queen war einmal da und hat Wein verkostet. Richtiggehend legendär waren die Besäufnisse von Friedrich Engels.«

»Der Revoluzzer? Der …« Pauls Smartphone meldete sich und verhinderte Sebastians Ansatz zu einer heftigen Replik. Auch Milka und Deiniger, die Köpfe zu einem Flüstern zusammengesteckt, horchten auf.

Pauls eingestreuten Worten war so gut wie nichts zu entnehmen. Zumindest Milka wartete gespannt. »Kommissar Karle«, erklärte Paul, öffnete seine Foto-App und starrte gebannt auf das sich öffnende Bild. Eine digitale Rekonstruktion des Aussehens des Toten. Die linke Gesichtshälfte, weitgehend vom Schlag verschont geblieben, hatte anscheinend geholfen.

Milka nahm das Handy in die Hand. »So knapp unter 60, würde ich schätzen.« Paul nickte nur, gab eine kurze Erklärung zu der Aufnahme und der Person.

Michael Deiniger beugte sich interessiert zu Milka, drehte ihre Hand mit dem Smartphone ein wenig, hob seine Augenbrauen zu einem erstaunten Blick, sah Milka an. »Und der soll tot sein? Ich kenne ihn. Das ist Alfred Wagner aus Langenburg. Der technische Haus- und Hofmeister von Claus Peter Thaler, dem Fabrikanten.«

»Den kenn ich auch«, hustete Sebastian Wild, der sich bei der Nennung des Namens an seinem Katzenbeißer verschluckt hatte.

»Alfred Wagner?«, erkundigte sich Deiniger, schlug ihm mit der flachen Hand zweimal zwischen die Schulterblätter.

»Nein«, hustete Wild erneut. »Nicht den Wagner, aber den Thaler. Von der Jagd her.«

Kapitel 3 – Montag

Die Nacht war kurz geworden. Michael Deiniger war gegangen, schließlich auch Sebastian Wild. Und endlich auch Paul – als Milka bereits die Augen zufielen.

Milka beeilte sich mit dem Frühstück, verdrängte die gestrige ausufernde Diskussion mit ihren abrupten Richtungswechseln, den hakenschlagenden Spekulationen zu Motiven und irrwitzigen Mutmaßungen zu potenziellen Tätern. Die gipfelten in der weinseligen Vermutung, militante Fischschützer könnten die grausige Tat in einer Art kollektiven Wahn begangen haben. Besser sollten sie die zweite Flasche Katzenbeißer nicht entkorken, meinte auch Paul schon gestern. Der hielt sich zurück, nahm nur zwei winzige Schlucke aus Milkas Glas. Aus seiner Zeit in Offenburg – nach Hamburg – brachte er eine Vorliebe für Badische Grauburgunder mit. Wenn es denn ein Wein sein sollte.

Milka schnappte sich einen frischen Kaffee, entzog sich wortlos, was an sich nicht ihre Art war, den gemurmelten Fragen ihres Vaters und verschwand in ihrem Büro. Rechnungen, Überweisungen, Statistiken. Vorschriften. Das Quartalsergebnis wollte vorbereitet sein. Und sie musste von den Holls und vom Hof Feldmann, ihrem anderen Kooperationspartner, die Daten anfordern. Dann standen das Gespräch mit ihrem Tierwirt an und eine Unterhaltung mit Beate Balzer im Hofladen, der um die Mittagszeit wenig frequentiert war. Beate hatte ein kleines Vesper vorbereitet. Es dauerte, bis sie die Organisation des geplanten Bio-Lieferservices von allen Seiten beleuchtet hatten, bis Beate zur zentralen Frage kam – wer denn bitte die Organisation übernehmen und steuern sollte. Die Frage allein machte deutlich, dass sie selbst nicht in Frage kam. Was Milka verstand. Ihr kam eine Idee. Nein, verraten wollte sie nichts. Jetzt nicht.

Bettina und Laura, sichtlich ungeduldig, warteten vor Milkas Skoda, bereit zur Abfahrt nach Obersontheim. Über einen Aushang am Schwarzen Brett des Reitstalls hatte Laura passende Stiefel gefunden, für den Anfang musste ein Fahrradhelm genügen. Ihre blauen Jeans waren eng genug. Enger ging nicht. Während der Fahrt berichtete Laura aufgeregt von ihrer ersten Stunde. Ihre anfängliche Enttäuschung, nicht sofort aufs Pferd zu dürfen, war schnell verflogen. »Britta hat mir erst mal alles über Pferde erzählt. Aber das Meiste hatte ich schon gelesen. Ich geh da doch nicht so unbedarft hin. Ist aber dann doch ganz anders, wenn man neben dem Pferd steht.«

Milka warf einen verständnisvoll lächelnden Blick zu Bettina auf dem Beifahrersitz. »Hast du dein Pferd schon gesehen?«

»Na klar. Ein brauner englischer Vollblutwallach, elfjährig und ein Meter 60 groß. Also das Stockmaß. Den hab ich aber nicht allein. Und er hat eine schöne kleine Blesse am Kopf. Aber heute darf ich endlich aufs Pferd. An der Longe.« Die Vorfreude schwang in Lauras Stimme und Tonfall mit.

Milka wandte sich an ihre Schwägerin. »Kennst du diese Paludis näher? Denen gehört wohl der Reitstall.«

»Ich war ein einziges Mal in deren Haus. Eine imposante Villa, so im italienischen Stil. Beinahe ein Anwesen.«

»In Schwäbisch Hall?«

»Ja, am Rand von Steinbach mit Blick auf die Großcomburg. Ich hab mal Laura begleitet, als eine Mitschülerin von ihr eine Vorführung hatte.«

»Was für eine Vorführung?«

»Die geben sich so als Mäzene. Kunstmäzene.« Bettinas Tonfall nahm eine merkwürdige Klangfärbung an. Bewunderung schwang mit. Und irgendwie auch Staunen, aber auch ein klein wenig Neid. »Die veranstalten zwei- oder dreimal im Jahr Konzerte für handverlesene Gäste. Und dann gibt es einen Förderpreis für Musikschüler, die viermal im Jahr ihr Können unter Beweis stellen dürfen.«

Milka bremste ab, bog in den Weg zum Reitstall ein, hielt auf dem großzügig dimensionierten Parkplatz, der von einer kleinen Baumreihe beschattet wurde. »Paludi. Klingt italienisch.«

Bettina zuckte mit den Schultern. Laura riss die Tür auf und stürmte zum Stall, zu den Pferden.

Ein Bild wie gemalt – als Milka und Bettina am eingezäunten Longierplatz ankamen. Laura, gerade und aufrecht auf dem von Britta an der Trense gehaltenen Wallach sitzend, hatte ein fast überirdisches Strahlen auf ihr Gesicht gezaubert und bemühte sich, auf Brittas Erklärungen zu Sitz, Haltung und mitgehender Bewegung zu achten. Milka holte ihr stumm geschaltetes Handy hervor, es zeigte zwei Anrufe, die sie ignorierte. Vier Fotos gelangen, bevor die Reitlehrerin das Pferd an der Nylonlonge führend bewegte, Laura ab und an erste Anweisungen zu Sitz und Gleichgewicht zurief. Milka ignorierte einen weiteren Anruf und schaltete um auf Video.

»Könnten wir auf dem Hofgut nicht auch ein Pferd halten?« Bettinas Frage sollte eher beiläufig klingen, hörte sich aber beinahe wie eine Forderung an. Milka nahm es positiv auf. »Das Reitabzeichen 10 sollte Laura vorher haben. Wenigstens. Und dann lass uns wieder drüber reden, ja?« Eingedenk ihrer bislang unausgesprochenen Idee, Bettina in den Hofladen einzubinden, verstärkte sie ihre Antwort. »Wir könnten uns mal überlegen, wie und wo wir ein Pferd unterbringen. Einen Stall braucht es schließlich. Und eine Weide.« Und eigentlich zumindest ein weiteres Hottehü für eine Sozialgemeinschaft, überlegte Milka für sich. Das könnten auch Pensionspferde sein. »Sprich doch mit Christoph darüber.«

Kriminalhauptkommissar Eichert sah nach seinem Tagewerk leicht verschwitzt aus, als er am frühen Abend auf dem Mayr’schen Hof nach Milka suchte. Schließlich traf er sie in der Maschinenhalle. Verschwitzt. Mehr als leicht.

20 Minuten waren eine gute Zeit, fand Milka, als sie in schmal geschnittenen Jeans und einem dezent roséfarbenen Polohemd im Kaminzimmer eintraf. Sie riecht nach Orangenblüten, fand Paul, als er einen Kuss und den gekühlten Ingwer-Limetten-Drink entgegennahm. Er ließ sich in einen schweren Sessel fallen, der in der Ecke neben der Bank des Kachelofens stand und spätabendlicher Stammplatz von Milkas Vater war. Der Ofen befand sich im sommerlichen Tiefschlaf. Holzfrei, auch im schwarzen Schlund hinter der Kamintür. »Du warst in Langenburg? Bei Thaler?«

Paul nickte, nahm einen tiefen Schluck. »In seiner Firma. Thaler Packaging Systems. Kommissar Karle und ich.«

»Er für den Fundort, du für den Toten, für seinen Wohnort, ja?«

»Wagner war unter der Privatadresse von Thaler gemeldet. Eine kleine Einliegerwohnung mit zwei Zimmern. Der Thaler ist schon eine Type.« Paul griff nach seinem Glas.

»Da kann ich mir jetzt alles und nichts darunter vorstellen. Jedenfalls kein Normalo, oder?«

»Bestimmt nicht. Seine Sekretärin holte uns am Empfang ab, Wartezeit gefühlte zehn Minuten, trotz Anmeldung. 52 Jahre, hatte ich zuvor gegoogelt, groß, schlank, eine hohe Stirn, graue Haare, eine Art Mecki-Frisur. Ein klein wenig der Cary Grant-Typ, nur nicht ganz so britisch. Macht den Eindruck eines grundsoliden Unternehmers. Gab sich sehr jovial. Zugleich vermittelte sein Auftreten aber das Gefühl, als gewähre er uns eine Audienz. Formulierte Karle eine Frage, nur um nachzuhaken, mit etwas anderen Worten, wurde er unvermittelt biestig. ›Konnten Sie sich meine Antwort nicht merken, Herr Karle?‹, so etwa.«

»Und mit so einem Typen geht Sebastian auf die Jagd.«

»Nur selten, wie er gestern erzählt hat. Der Thaler hat eine Jagd gepachtet. Und ab und an will er eben Gesellschaft. Aber nun zu Wagner. Der war früher in seiner Firma, in der Produktion. Hatte dann einen Unfall – die unwichtigen Details lass ich mal weg. Zuständig war er für die Technik in Thalers Villa, für den Bürotrakt der Firma und, nicht zu vergessen, für Thalers drei Oldtimer.«

»Also auch für seinen Austin-Healey 3000 Mk III«, sagte Milka und schenkte Limonade nach. »Mit dem will er bei der Langenburg Historic antreten. Ist jedenfalls angemeldet, wie Deiniger sagte. Hat Thaler seinen Haus- und Hofmeister nicht vermisst? Oder jemand anders? Frau, Freunde, Haushälterin? Nun lass dir nicht alle Würmer …«

»Immer langsam. Simultandenken – berichten und gleichzeitig überlegen, die Aussagen durchdenken – das geht nicht so schnell«, meinte Paul lapidar.

»Quatsch. Es gibt Multi-Tasking, das kann meine Mutter prima beim Kochen, aber nicht Multi-Thinking«, widersprach Milka. »Zwei Gedanken auf einmal denken. Wer kann denn so was?«

»Ich«, meinte Paul mit einem Schmunzeln, das auf Milka nur zu einem Teil ironisch wirkte. »Das vertiefen wir ein andermal«, sagte Milka. »Jedenfalls hatte Wagner, nach Deinigers Worten Junggeselle, Urlaub. Eine Woche zum Angeln. Und wurde nicht vermisst? Klingt irgendwie höchst merkwürdig, meinst du nicht?«

Paul runzelte seine Stirn, machte eine Handbewegung, die nach »ja, und« aussah, und schob sein Glas zur Seite.

Milka diagnostizierte bei ihrem mundfaulen Paul eine gewisse Artikulationsmüdigkeit, wollte aber den wichtigsten Ermittlungsaspekt nicht auslassen. »Und zu einem möglichen Motiv sagte Thaler nichts? Wer Wagner möglicherweise warum an die Gurgel wollte? Feinde, Drohungen, Anfeindungen?«

»Milka!«

»Ich höre.«

Paul stand auf, ging zum Fenster und blickte auf den Hof. Milkas Bruder fuhr mit einem Trecker vor. »Er wusste nichts. Falsch. Er sagte, er wisse von nichts. Kein Motiv weit und breit.«

»Und dann?«

»Sind wir zu seiner Villa gefahren, um mit seiner Frau zu sprechen. Ein echter zweigeschossiger Luxusbau am Stadtrand von Langenburg. Mit Auffahrt und kurzer zweiläufiger Treppe zum Eingang. Alles penibel gepflegt und irgendwie darauf aus, Status zu zeigen.«

»Und wie ist seine Frau?«

»Weg. War nicht da. Wir haben mit der Haushälterin gesprochen. Eine Stefanie Koch, 55 Jahre, eher klein, dunkle nach hinten gekämmte und zusammengebundene Haare – vielleicht kam sie vom Staubsaugen – schmallippig, kein Lächeln. Nicht einmal bei der Begrüßung. Danach schon gar nicht.« Paul drehte sich um, setzte sich neben Milka auf die Bank. »Sie war bestürzt. Und das war bestimmt nicht gespielt. Zumindest erhielten wir einige brauchbare Informationen zu Wagner, nach dem ersten Schock.«

»Zu seiner Person, oder auch …« Milka hielt inne, als sie ein vom Hof kommendes knirschendes Geräusch hörte.

»Zu seiner Person. Nach seinem Unfall wurde er wohl zunehmend verschlossen. Extrem pflichtbewusst. Kümmerte sich um alle seine Aufgaben mit einer, wie sie sich ausdrückte, pingeligen Verbissenheit. Sie kamen gut miteinander aus, sagte sie. Solange sie ihm nicht zu nahe kam. Nicht, dass sie etwas mit ihm anfangen wollte. Glaube ich nicht. Er ließ nur nichts an sich ran. Sie durfte sich nicht um ihn kümmern. Wobei – so zurückhaltend, wie sie sich uns gegenüber gab, dürfte ihr das nicht schwergefallen sein.«

»Und das war’s dann schon?«

Paul stand wieder auf, als ein leises Geräusch vom Flur aus zu hören war. »Ja. Sie wusste um seinen Urlaub. Wusste, dass er gern angelte. Und wusste auch: keine Fragen zum wie-geht-es, oder was-haben-Sie-heute-gemacht. Das passte ihm nicht.«

»Und sie wusste nichts über Probleme, Anfeindungen …« Milka brach ab, als sie Pauls Gesichtsausdruck sah. »Jaja, weiß schon. Keine Freunde, die ihn besuchten?« Das Geräusch im Flur wurde lauter. Ihr Bruder Christoph öffnete die Tür, nickte Paul mit einem angedeuteten Lächeln zu. »Milka, kommst du mal? Jetzt!«

Milka folgte mit einem Achselzucken. Hielt im Flur abrupt inne. Ein derangierter Professor Lothar Ebert stand unsicher und zitternd an die Flurwand gelehnt, gestützt von Milkas Mutter Karin, die ein leeres Wasserglas in der Hand hielt. Milka packte den Professor fest am Arm und leitete ihn fürsorglich ins Kaminzimmer. Paul half, bis Lothar Ebert aufatmend sicher im Lehnstuhl saß.

Für Milka war der emeritierte Kunstgeschichtsprofessor aus Kirchberg an der Jagst ein guter Freund. Zweimal hatte er Paul und ihr mit seinem Wissen und seinen analytischen Fähigkeiten geholfen. Im Moment sah es so aus, als bedürfe er selbst der Hilfe. Dringend. Das längliche Gesicht tief gebräunt, bildeten seine langen weiß-grauen Haare, an den Ohren vorbei nach hinten gekämmt, einen harten Kontrast. Buschige, erstaunlich dunkle Augenbrauen und ein kurz gestutzter grauer Schnurrbart verliehen ihm ein distinguiertes Aussehen. Nur jetzt nicht. Die helle Cordhose verrutscht, das weiße Hemd nass unter den Achseln und die Haare zerzaust. So ziemlich alles schien durcheinander zu sein. Auch der Kopf. Allmählich wich das Zittern. Er blickte hoch, hielt kurz Milkas Blick fest. »Ich habe angerufen. Ein paar Mal.«

Milka unterdrückte einen Fluch. Ihr Smartphone und die Anrufversuche hatte sie total vergessen, als Christoph und ihr Vater sie nach ihrer Rückkehr in Beschlag genommen hatten. Das Handy lag oben in ihrem Zimmer. Sie eilte in die Küche, kam mit einem gut eingeschenkten Obstler zurück und drückte Herrn Ebert das Glas in die Hand. »Hier Lothar, zur Stärkung.«

Der Professor richtete sich auf, strich mit dem Zeigefinger über seine Schnurrbarthaare. »Hab seit heute Morgen nichts mehr gegessen. Und dann bin ich die ganze Strecke von Herbertingen hierher gefahren.« Seine Hand zitterte ein wenig.

Milka nahm ihm das Glas wieder weg. »Mit dem Schnaps warten Sie dann ein wenig, Lothar. Ich bringe Ihnen lieber einen Apfelsaft.«

Nach dem zweiten Glas erholte sich der Professor sichtlich.

»Was machen Sie denn dort, in Herbertingen?«, fragte Paul Eichert, wohl wissend, dass er mit solchen Fragen manchmal – er setzte das Manchmal gedanklich in Klammern – recht ausschweifende und in doppeltem Wortsinn erschöpfende Ausführungen erwarten durfte.

»Die Kelten«, sagte Herr Ebert und führte sein Glas zum Mund.

»Sie sind Kunsthistoriker und, wie wir wissen, Hobbygenealoge. Aber auch Kelten? Asterix und Obelix?«

Milka runzelte missbilligend ihre Stirn. Paul sollte das jetzt nicht ins Lächerliche ziehen.

»Als ich zehn war, hat mir ein Freund den ersten Band des Comics in die Hand gedrückt.«

Paul rechnete blitzschnell. »Die französische Ausgabe, 1961. Die deutsche kam erst sieben Jahre später.«

Lothar Ebert zeigte versuchsweise ein erstes Lächeln. »Sie kennen sich aber sehr gut aus. Haben Sie den ersten Band?«

Paul grinste. »Ich wollte, ich hätte.«

»Ich auch. Jedenfalls hat das damals mein Interesse geweckt. An den Kelten, meine ich. Und später: Auch in Comics steckt Kunst. Comics sind quasi ein Versuch, mit Zeichenkunst Geschichten in Bildern zu erzählen. Allerdings haben sie nie einen richtigen Platz gefunden. Für die Literatur nicht komplex genug, für die bildende Kunst nicht genial genug, hat mal jemand gesagt. Etwas anders sieht das in Amerika aus. Ich erinnere nur an Andy Warhol oder Roy Lichtenstein und ihre …«

Der Professor wurde unterbrochen. Karin Mayr stieß die Tür mit dem Fuß auf und brachte ein großes schwäbisches Vesper herein. Auf einer überdimensionierten Holzplatte fanden sich, liebevoll angerichtet, verschiedene Wurstsorten. Schinkenwurst lag neben Schwartenmagen, Presskopf an Schwarzwälder Räucherschinken, grobe Leberwurstscheiben neben geräuchertem Schinken vom Hällischen Landschwein. Und Tellersülze. Auch die Käseauswahl konnte sich sehen lassen: Romadur – ein Rotschmierkäse aus Kuhmilch, Emmentaler und Luckeleskäs. Dazwischen kleine Gewürzgurken. »Ein schwäbisches Vesper!« Karin Mayr sprach es »Veschbr« aus.

Paul, mit hungrigem Blick auf das überbordende kulinarische Angebot, stieß ein vernehmliches »Hm« aus. »So, nu wüllt wi mol Foffteihn moken.«

Nicht nur Milka schaute erstaunt drein. »Foffteihn? 15, du Hamburger?«

»Richtig, nach Veerteihn kommt Foffteihn. Bedeutet im Norddeutschen so viel wie Brotzeit im Bayrischen. Und die Fünfzehn, die kommt aus der 15-Minuten-Pause für die Brotzeit der Arbeiter. Früher. Wenn ich das Angebot richtig sehe, schaffen wir das nicht in einer Viertelstunde.«

Milkas Mutter brachte frisches Holzofenbrot, Butter, Griebenschmalz und, sozusagen als kleinen vitaminhaltigen Ausgleich, »äbbas G’sonds««: Tomatenschnitze, Paprikastreifen, Zucchinischeiben und Radieschen. »Lassed’s euch schmecka!«

Milka holte Nachschub an naturtrübem Apfelsaft aus der Küche für alle. Als sie zurückkam, kreiste Lothar Eberts Gabel über dem Vesperbrett, um eine erste Auswahl zu treffen. »Vellberg«, sagte der Professor gerade, »da wurde vor Jahren mein Interesse an den Kelten wirklich geweckt. Die Stöckenburg, direkt gegenüber vom Städtchen Vellberg auf einem Bergvorsprung gelegen, ist der älteste besiedelte Bereich der ganzen Region. Schon vor Christi Geburt und in der Merowingerzeit haben sich dort die Kelten herumgetrieben. Und sie haben eine Fliehburg errichtet.«

Milka nutzte den günstigen Zeitpunkt, da Herrn Eberts Gabel erneut in eine Umlaufbahn eintrat, die seine volle Konzentration verlangte. »Das war dann eine Art Schutzburg, Lothar?«

Herrn Eberts Gabel verharrte unmittelbar über den Leberwurstscheiben, sein Blick rutschte ab, glitt zu seinem nebenstehenden Obstler, entschied aber bedauernd, dafür sei es zu früh. »Das darf man sich nicht als klassische Burg mit Gebäuden vorstellen. Eine Art ringförmige Befestigung, in der die Leute Schutz bei Angriffen suchten. Eine richtige Burg an dieser Stelle entstand erst im neunten Jahrhundert, sie schützte dabei eine Kirche.« Der Professor griff nach dem Obstler und nahm einen ersten kleinen Schluck. Sein Gesicht belebte sich zusehends. Paul fragte sich, auf was wohl sein eigenartiger Zustand bei der Ankunft zurückzuführen gewesen war. Nur ein Schwächeanfall? Es war merkwürdig. Der Gefahr eines längeren Vortrags ins Auge sehend und bei anhaltendem Appetit, wagte er eine Frage. »Wann und wo traten denn die Kelten überhaupt auf?«

Herr Ebert kaute und schluckte. »Also, sozusagen erstmals, jedenfalls als eigenständige Kultur – da müssen wir unseren Blick auf ihren Kernraum werfen. So etwa 1800 bis 1600 vor Christus entstehen die ersten keltischen Siedlungen in Südwestdeutschland. Ein reiselustiges Völkchen, das sich – wir sind gerade 900 vor Christus – auf Goidelisch unterhält. Eine Sprache, aus der das Gälisch hervorgeht. Und ein Volk, das sich ausbreitet. Nach Frankreich, nach Spanien, nach England. Sogar Marseille gründen sie. Und so um 800 vor Christus treffen wir auf Kelten am Oberrhein und an der Oberdonau. Da beginnt die Hallstattzeit. Hat aber nun nichts mit Schwäbisch Hall zu tun, sondern mit einem Ort in Oberösterreich.« Der Professor gestattete sich ein winziges Schmunzeln, holte genüsslich den letzten Tropfen des Obstlers aus dem Glas und leckte sich über die Lippen. Er bemerkte Bettina Mayr, die seit zwei Minuten an der Tür stand, eigentlich, um abzudecken, dann aber gebannt lauschte. »Und so ab 450 vor Christus beginnt die Latènezeit, eine Epoche der vorrömischen Eisenzeit.« Bettina schmunzelte.

Herr Ebert blickte hoch. »Bei Teutates und Belenus, Sie sind aber gut informiert, Frau Mayr.« Man kannte sich, allerdings nur von kurzen Begrüßungen zwischen Tür und Angel. »Woher wissen Sie denn das?«

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25 мая 2021
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9783839267301
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