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„Jedaure, werde ich den Sonnenberg jemals wiedersehen?“

„Deine jungen Füße werden dich noch weit tragen!“

„Kann das Glück mit uns sein, auch wenn wir in die Fremde ziehen?“

„Mit einem großen Gedanken im Herzen wirst du jede Grenze überschreiten. Orientieren kannst du dich an den Sternen. Erreichen wirst du sie nicht, und das ist gut so. Das Glück ist immer umsonst. Erkennen musst du selbst, wo es liegt.“

Die Schritte des Jungen wurden rascher und verklangen. Die Mondin überschüttete nun die Siedlung mit ihrem Licht. Im Gebüsch sang der Nachtvogel. Jors Fackel erhellte den Platz vor dem Haus, auf dem der gepackte Handwagen stand. Letzte Handgriffe. Im Haus selbst flackerte das Herdfeuer. Knisternd rollte sich die Birkenrinde unter den sorgsam geschichteten Scheiten zusammen. Im Kessel kochten eine Handvoll Linsen und ein Stück Speck – die Mahlzeit, mit der sich die Familie am kommenden Morgen vor dem Aufbruch stärken würde.

Als dann das Feuer nur noch glimmte und Nalumbin sein Lager aufgesucht hatte, ließen ihn Jedaures Worte lange nicht zur Ruhe kommen. Aber auch die Vorfreude auf das Sonnenfest verwehrte ihm den Tiefschlaf. Bläulicher Morgenschimmer lag über der noch stillen Lomersiedlung, als er sich heimlich aus dem Haus stahl. Unter Jors Schnarchlauten war es seinen geschickten Händen gelungen, den Riegel fast geräuschlos wegzuschieben und die Tür zu öffnen. Auf bloßen Füßen huschte er zum Dorfplatz.

Sanft zupften die Windschwestern an den Blättern der alten Stammeslinde und verbreiteten ihren Duft. Nalumbins Augen suchten nach dem kleinen Holzschrein, der sich in der Krone des mächtigen Baumes verbarg. Von seinem Vater wusste er, dass dieser Schrein ein Kleinod hütete – einen Bernstein von unvergleichlicher Farbe –, den die Lomer ‚Träne des Meeres‘ nannten.

Die ersten Vogelrufe mischten sich in das Windgeflüster. Das Laubwerk der Linde, in dem sich das Geheimnis barg, zitterte und raschelte. Der Sand unter Nalumbins Füßen knirschte, als er den Stamm umrundete. Er hörte Tritte, die sich näherten. Bildete er sich dies ein? Waren es seine eigenen Schritte? Er blieb stehen und lauschte. Eine Stimme, die er kannte, rief: „Junge! Was tust du hier?“ Es war die Stimme von Jor. Nalumbin fühlte sich ertappt.

„Ich konnte nicht schlafen, Vater!“

„Du hast doch etwas im Sinn, sonst würdest du um diese Zeit nicht nach draußen schleichen! Was ist es, das dich beschäftigt?“

„Ich war in Jedaures Hütte. Hast du schon einmal das Kästchen mit dem Schmetterling und dem Kleeblatt gesehen? Der Deckel stand offen, und ich schaute hinein. Ein Stein liegt darin, der so ganz anders aussieht, als unsere Steine – mit seltsamen Zeichen darauf – zwei vogelartigen Wesen. Weißt du, was sie bedeuten?“

„Jedaure hütet so manche Besonderheit, deren Geschichte und mythische Bedeutung nur er kennt! Wenn dir das Kästchen mit dem Schmetterling aufgefallen ist, dann hast du sicher auch die anderen rätselhaften Dinge in seiner Sammlung bemerkt?“

„Ich habe Jedaure nach dem Kästchen gefragt. ‚In ihm liegt die Erinnerung an meine Heimat‘, hat er geantwortet. Hast du eine Ahnung, woher Jedaure stammt und wie alt er ist?“

„Das weiß niemand so genau!“

Jor zog den Sohn auf die tiefschattige Bank unter dem Baum. Zurückversetzt in die Tage seiner Kindheit erzählte er:

„Solange ich denken kann, hat die Erscheinung Jedaures einen tiefen Eindruck auf mich gemacht. Als ich alt genug war, fragte ich meinen Vater, so wie du mich jetzt fragst, nach dem Geheimnis um Jedaure, der damals schon alterslos zu sein schien. Wir saßen genau hier, am selben Ort, als ich seinen Geschichten aus längst vergangener Zeit zuhörte.“

Jor legte seinem Sohn den wärmenden Mantel um.

Dann fuhr er fort: „Von meinen Vater weiß ich, dass Jedaure in jungen Jahren in einem Land weit im Westen gelebt hat, mit Ufern, an denen sich steiler Fels mit der weißen Gischt des Meeres vereint. Und doch bleibt die genaue Herkunft Jedaures ein Rätsel. Es war dein Urgroßvater – sein Name war ‚Bardo‘ –, dem Jedaure vor vielen Sonnenumläufen einst ein dunkles Geheimnis anvertraut haben soll ...

Es hieß, dass eines Abends ein besonders vertrauter Schüler seinem Lehrmeister aufgelauert habe. Es soll an der Küste des Meeres an jenem Ort gewesen sein, an dem der weise Mann oftmals den nächtlichen Sternenhimmel und den Lauf der Mondin betrachtete, umringt von hohen Steinen. Der Schüler war der Schönheit eines kostbaren Bernsteins verfallen, der die Spitze eines Eichenstabes zierte – das Eigentum des Meisters! Der Schüler versuchte, diesem den Stab zu rauben. Ein heftiger Kampf entbrannte, wobei es dem Schüler gelang, dem Meister den Stab zu entreißen.“

Nalumbin lauschte in atemloser Spannung. Jor spürte seine Erregung und nahm seine Hand.

„Stell dir vor! Kaum aber war der Stab in der Hand des flüchtendes Diebes, sprach der Meister einen Fluch über ihn aus. Augenblicklich sandten die Meeresgötter ihre Fluten nach ihm. Die tosenden Wellen rissen den Frevler mit sich, und die tiefen, nachtschwarzen Wasser sollen ihn für immer verschlungen haben! Die Meeresgötter aber gaben den Stab mit der Bernsteinspitze wieder frei. Am Morgen darauf fand der weise Mann den Stab unversehrt inmitten des Steinkreises liegend! Warum es ihn dann von den Küsten des Meeres fortzog, darauf gibt es bis heute keine Antwort. Von meinem Vater weiß ich nur, dass die Füße des weisen Mannes ihn weit nach Osten trugen. So weit, bis sie schließlich die südlichen Waldberge erreichten.“

„Was ist aus ihm geworden?“, platzte es aus Nalumbin heraus.

„Das wirst du gleich erfahren, mein Sohn! Im Beleintal dann, in unserem Tal, in unserer Siedlung, suchte der fremde Wanderer Schutz vor Unwetter unter einer Linde, dem Baum, unter dem wir jetzt sitzen.

Und nun höre und staune: Als er seinen Stab gegen den Stamm dieses Baumes lehnte – so hat es dein Urgroßvater Bardo meinem Vater berichtet – soll sich etwas Unfassbares zugetragen haben: Unser alter Lindenbaum verneigte sich zum Erstaunen und auch zum Entsetzen der Lomer unter lautem Krachen und Ächzen vor dem Fremden mit dem prachtvollen Stab.

Die Äste des Baumes neigten sich so tief, als wollten sie nach etwas Bestimmtem greifen. Mit einem Donnerschlag, der die Luft zerriss, fuhr ein Blitz herab! Stimmen sollen im Blätterdach gewispert und geraunt haben! Als der Baum sich wieder aufrichtete, fand sich die abgebrochene Spitze des Stabes mit dem Bernstein unter einem herabgestürzten Ast am Fuß des Stammes. Aus dem Ast wurde später die Bank gezimmert, auf der wir jetzt sitzen! Der Baum hatte den Stein an sich genommen. In einem kunstvoll geschaffenen Eichenschrein wurde er hoch oben in der Linde verborgen und blieb bis heute das Allerheiligste für uns Lomer.“

„Und was geschah dann mit dem fremden Wanderer?“, rief Nalumbin aus, während sein Kopf Schutz suchend an die Schulter des Vaters sank. Die Linde schien ihm plötzlich unheimlich.

„Der fremde Wanderer hat sich bei uns Lomern niedergelassen. Da niemand wusste, wie er wirklich hieß, gab man ihm den Namen ‚Jedaure‘, was so viel bedeutet wie: ‚Der, zu dem die Bäume flüstern‘!“

Dieser Name ließ Nalumbin nicht nur verblüfft aufhorchen. Er sprang auf, wandte sich um, und seine Hände tasteten nach der Rinde des Baumes, als könnten sie dem Geschehen von damals nachspüren. Das soeben Gehörte schien ihm unglaublich.

„Dann sind der fremde Wanderer und Jedaure ein und derselbe?“

Jor spürte Nalumbins Erregung. Besänftigend zog er ihn wieder an seine Seite unter den Mantel.

„Ja! So wird es erzählt! Doch das alles war vor meiner Zeit. Ich weiß nur, dass Jedaure viel älter ist als die ältesten Bewohner des Beleintals! Und dein Urgroßvater Bardo starb schon vor langer Zeit!“

„War dein Großvater auch Sippenführer der Lomer, wie jetzt du und zuvor dein Vater?“,fragte Nalumbin.

„Ja, das war er. Der Stand des Vorstehers wurde schon vor Generationen auf den Sohn übertragen, sofern dieser seine Sache im Sinne seiner Sippe gut machte. Wenn nicht, wurde er davongejagt und geächtet. Wehe ihm, wenn er sich an Hab und Gut anderer vergriff, um seinen eigenen Besitz zu mehren!“

Bei dem Gedanken, dass er, Nalumbin, auch einmal dieses Erbe von Jor anzutreten hatte, wurde ihm fast schwindlig.

Mit stockender Stimme fragte er: „Muss auch ich eines Tages dein Nachfolger werden?“

„Es wird noch lange dauern, mein Junge. Ich habe vor, alt zu werden! Schließlich muss ich für die Sicherheit unserer Leute auf dem Zug über das Weiße Gebirge sorgen! Was danach geschieht, das wissen allein die Götter! Du hast also viel Zeit, dich auf deine künftige Aufgabe vorzubereiten!“

Der Warnschrei eines Eichelhähers rief Nalumbin und seinen Vater in die Wirklichkeit zurück. Diese Wirklichkeit war aufregend! Aufregend ob der Ungewissheit der Zukunft jenseits der Weißen Berge. Aufregend auch angesichts des hohen Festes auf dem Berg, an dem er, Nalumbin, zum ersten Mal den heiligen Stein sehen durfte.

Vater und Sohn traten aus dem Nachtschatten des Baumes und blickten hinauf in sein mächtiges Astwerk, in dem sich die ‚Träne des Meeres‘ verbarg. Die ersten Sonnenstrahlen vergoldeten die sommergrünen Blätter ...

Das Sonnenfest

Im Licht des jungen Tages bewegte sich der festlich geschmückte Zug der Lomer und der Talischen den Sonnenberg hinauf, langsam, schweigend. Nur die Stimmen der Vögel, das Rattern der Räder und das Gemecker der mitgeführten Ziegen waren zu hören. An manchen Stellen war der Pfad so schmal, dass die Karren und Schleifen in den Kurven mehrmals vor- und zurückgesetzt werden mussten, um weiter zu kommen. Häufig galt es auch den Weg von Steinen und Geröll freizuräumen. Über allem wogte der Buchenwald. Wie eine Schlange wand sich der Pfad dem Gipfel entgegen.

Höher und höher kletterte er, wurde steiler und steiler, bis nach einer Wegbiegung eine mächtige Felsplatte erreicht war. Dort hielt der Zug. Frei konnte der Blick über das Tal zum nebelverschleierten Horizont schweifen. Die steigende Sonne tauchte einen aufgerichteten Stein in gleißendes Licht. Es schien, als würde dieser Stein zwischen Himmel und Erde schweben, seiner gewaltigen Größe trotzend.

Jetzt wurden Mehl, Salz und Brotstücke zur Besänftigung der Windschwestern und Wolkengeister verstreut. Die sichere Ankunft auf dem Gipfel hing von ihrer Gunst ab. Mit tönernen Schellen rief man die Luftfeen an und bat um ihren Schutz. Für den Donnergott wurden die Ziegen gemolken und die Milch in steinerne Schalen gegossen; runde Vertiefungen, die in den felsigen Boden gehauen waren. Dem Berggeist gehörten Kuchen und Feldfrüchte. Eine Spalte im Fels verschlang sie. Die Bitte, den Berg betreten zu dürfen, war damit erfüllt.

Zum Zeichen der Verbindung mit den fruchttragenden Kräften der Erde berührten die Frauen den taunassen Grund mit Händen und Stirn. Unter den schräg einfallenden Sonnenstrahlen blinkten Tropfen an Halm und Blatt und vertrieben das Nachtdunkel aus den Bäumen.

Die letzte Wegstrecke stand bevor. Es bildeten sich Abstände zwischen den Gruppen. Als eine der ersten erreichten Nalumbin und sein Vater mit dem voll beladenen Karren den Gipfel. Als das Auge des Jungen zum ersten Mal die ungeheure Weite ringsum erfasste, durchlief ihn ein Schauer.

Noch stand die Sonne östlich vom Zenit. Kalt und scharf blies der Wind. Fester zog er den ledernen Umhang um die Schultern, den ihm seine Mutter eigens für den großen Tag des Erwachsenseins genäht hatte. Jetzt endlich stand er selbst auf dem heiligen Berg, dem Altar der Götter, dem Ort des Lichts und der Sonne näher als jemals zuvor.

Im Nordosten begrenzte das Massiv des Donnerberges den Blick. So nannten die Siedler des Beleintals den mächtigsten unter ihren Waldbergen, denn oftmals umtobten erzürnte Wettergeister seinen Gipfel, launisch, unberechenbar und von zerstörerischer Kraft. Im Sommer, wenn Regen fiel, verdichtete er sich zu Wänden aus Wasser; und im Winter, wenn es schneite, schlugen dem Wanderer Böe um Böe wie eisige Peitschenhiebe entgegen, erbarmungslos.

Das Gebrüll des Donners aber war die Sprache des Berges und wurde landauf und landab gehört, krachend und grollend bis hinab ins Beleintal. Darauf folgende Blitze fuhren wie glühend geschmiedete Schwerter herab und setzten den Himmel über dem Berg in Brand. Der Nachhall des Donners aber blieb noch lange in den Bäumen hängen, tief unten in den Tälern.

Am südlichen Horizont erhob sich die Kette des Weißen Gebirges, ohne Anfang, ohne Ende. Sie schien wie in ewiger Ferne und doch zum Greifen nah. Scharf zeichneten sich ihre Umrisse im wolkenlos blauen Himmel ab. Nun wanderte der Blick nach Westen und erfasste die Ebene, die sich tief und weit ausbreitete. Wie ein silbernes Band zog der Hauptstrom des Rhenair dahin. Seine Nebenarme verbanden sich zu einem funkelnden Netzwerk. Auch jenseits des Großen Stromes erhoben sich im Westen Berge.

Die Einheimischen erzählten sich, dass Westberge und Waldberge einst ein einziges Gebirge gewesen seien. Missgestaltete Dunkelwesen hätten darin gehaust. Als sie Zauberwaffen schmiedeten, mit denen sie den Waldgöttern ihre Macht zu entreißen versuchten, gerieten diese in großen Zorn. Sie schlugen das Gebirge entzwei und schoben die Hälften weit auseinander, bis ein breites Tal entstand.

Regen- und Flussgötter, Verbündete der Waldgötter, entsandten daraufhin ihre Fluten zu Tal und verschlangen die Abtrünnigen. In den Tiefen des Rhenairs sollten ihre Seelen für immer gefangen sein. In mondlosen Nächten höre man ihr Wehklagen, so hieß es.

Die Vorbereitungen für das nächtliche Fest dauerten bis zum frühen Abend. Der heftige Wind hatte sich gelegt. Die Wettergeister und Wolkenfeen waren den Feiernden wohlgesonnen. Noch einmal wurden die Ziegen gemolken. Auf einem mächtigen Steinblock, in dem viele kleine und große, zum Teil durch Rinnen verbundene Schalen eingehauen waren, ordneten die Frauen Blumengirlanden zu einem Rad. In die Schalen füllten sie Milch und Honig, Samen, Kräuter, Nüsse, Beeren, Blätter und Baumrinde. Auch Wasser, das sich mit dem Nacht- und Morgentau vermischen sollte – das Kostbarste, das es zu gewinnen galt. In ihm wirkten die Kräfte des Himmels und der Erde.

Nalumbin sah, wie Aithe, seine Mutter, und andere Frauen kleine, nackte Frauenfiguren aus Ton und Holz niederlegten. Auch sie sollten die zeugende Kraft der Sonne in sich aufnehmen und den Frauen Glück und gesunde Kinder bringen. Zwischen Flachs und Schafwolle warteten tönerne Spinnwirtel und Webgewichte auf das Erscheinen der Sonne; ihre Wärme würde die Schutzwirkung der anzufertigenden Kleidung verstärken und gegen Krankheiten schützen.

Allmählich breitete sich die Nacht auf dem Berg aus. Ein funkelnder Sternenhimmel zog auf, und das Licht der fast runden Mondin überschüttete den Berg mit seinem Glanz. Die Menschen ruhten. Nur Jedaure legte sich nicht nieder. Er wachte am Zeitenstein, seit die Mondin im Osten über dem Horizont aufgestiegen war. Als dann das Gestirn der Nacht vor die Rinne trat, die vor langer Zeit in den Steinblock gekerbt worden war, gab er das Zeichen zum Beginn des Festes. Mit drei Hornstößen weckte er die Ruhenden, und augenblicklich war alles auf den Beinen.

Bald erfüllten das Prasseln des Feuers und Sprechgesänge die Luft. Im rhythmischen Takt bewegten sich Hände und Füße der Feiernden, die das hell lodernde Feuer umkreisten. Trommeln, Flöten, Schwirrhölzer und Hörner erklangen. Schallbleche und Klapperringe mischten sich darunter. Die Ersten begannen mit dem Sprung durch das Feuer, dessen Lohe als heilkräftig galt. Nalumbin zögerte, als er an der Reihe war. Sein Herz schlug heftig. Noch im Sprung wunderte er sich, dass ihm das Feuer nichts anhaben konnte, und als er wieder sicher auf den Füßen landete, leuchteten seine Augen vor Stolz.

Jetzt verließen Jendur und Jedaure den Festplatz. Jendur trug den Opferkrug. Ein Scheppern und Klirren nun im Fels, und Jendurs Werk von Tagen war auch schon in Stücke zersprungen und konnte von keiner Menschenhand mehr gebraucht werden. Es gehörte allein den Göttern.

Als es an der Zeit war die Botschaft des gesungenen Wortes zu hören, ließ man sich am Feuer nieder. Zwei Sänger, Großvater und Enkelsohn, setzten sich einander gegenüber. Ihre Handflächen legten sie aneinander, verschränkten ihre Finger und wiegten ihre Oberkörper hin und her, vor und zurück. Die Gesänge der Ahnen erklangen. Der alte Sänger sang vor, der junge Sänger wiederholte die Worte. Es klang wie ein Echo. Sie sangen von einem Land, das sich der Sonne entgegenhob, getragen von vier goldenen Pfeilern. Ein Land, in dem es weder Krieg noch Klage gab.

Die Gesänge verklangen. Das Festmahl begann. Wie schon in den letzten Jahren fiel es nicht üppig aus. Die Jagd aber war erfolgreich verlaufen und so gab es Fleisch. Linsen- und Hirsegerichte dagegen waren knapp. Wildgemüse, Quark und kleine Kuchen, gesüßt mit dem Sirup von Veilchen und Holunder, rundeten die Mahlzeit ab. Gärgetränke aus Äpfeln, Hagebutten, Löwenzahn und Brombeeren, vermischt mit Honig und Quellwasser, sorgten trotz der Zukunftssorgen für Heiterkeit.

Bald schon stieg der neue Morgen rötlich dämmernd aus dem Osten herauf und weckte den Berg. Hoch aufgerichtet stand Jedaure am Opfertisch. Im noch nächtlichen Schatten hob er die Arme, bereit den Segen der Sonne zu empfangen. Tiefe Stille herrschte unter den Versammelten, als sich dann die ersten Strahlen im Opferwasser spiegelten. Die Sonnenkräfte, die nun diesem Wasser zuflossen, gab Jedaure weiter an die in langer Reihe vorbeiziehenden Menschen. Jedem Einzelnen benetzte er die Stirn.

„Die Kraft des Lichtes soll uns begleiten auf unserem Zug über Berg und Tal, durch Eis und Schnee, bei Sturm und Regen!“, sprach Jedaure mit fester Stimme und wandte sich an die beiden Stammesführer.

Da überreichte ihm Pjat auch schon eine kleine Schale aus blankem Gold, kaum größer als eine Faust. Jedaure stellte sie auf den Tisch. Reihen von kunstvoll getriebenen, kleinen und großen Perlbuckeln und ein Ringmuster umliefen sie. Woher die Schale stammte, dies war bis zum heutigen Tag ein Geheimnis geblieben. Für die Talischen, die fast allesamt Bauern waren, bedeutete sie eine Kostbarkeit von unschätzbarem Wert.

Der Überlieferung nach wusste man, dass die Vorfahren der Talischen das kleine Prunkstück beim Fischen in der Reuse gefunden hatten, zu Zeiten, in denen größte Not herrschte. Wissend, dass alles Gold den Göttern gehörte, gaben sie die Schale dem Fluss wieder zurück. Als sich dann anderntags die Schale erneut in der Reuse zwischen dem spärlichen Fischfang befand, begannen sie sich zu wundern, wie dies angesichts des rasch fließenden Wassers möglich war.

Sie fragten sich, ob es ein Zeichen der Götter sei, ihre Not zu lindern? Ein zweites Mal warfen sie das kostbare Gold zurück ins Wasser. Und siehe da! Das Kleinod befand sich ein drittes Mal in der Reuse. Hiermit war es gewiss: Es war die Dreiheit, auf der alles fußte. Damit sahen sie die Schale als ein Geschenk der Götter an. Die Götter selbst hatten sich ihrer angenommen! Und so verehrten die Talischen fortan dieses Geschenk und hüteten es streng.

Lomer und Talische umstellten nun den Steinernen Tisch. Nalumbin, der mit seinem Vater in Jedaures Nähe stand, sah zum ersten Mal die Schale. Noch nie zuvor hatte er Gold gesehen. Es war für ihn, als wäre die Sonne selbst mit ihrem Glanz herabgestiegen. Jetzt aber wartete auch der Schatz der Lomer darauf, ans Licht zu kommen.

Jedaures Hand hob den Deckel des Schreins, griff hinein, und da war sie – die ‚Träne des Meeres‘, eine in Bronze gefasste Scheibe aus Bernstein, durchsichtig wie Glas und von strahlender Schönheit!

Jedaure hielt den Stein gegen das Sonnenlicht. Für alle sichtbar erglühte er in feurigem Rot. Purpurfarbene, fast schwarze Linien durchkreuzten sein Inneres: Es war das versteckte und machtvolle Bild des Radkreuzes. Die bronzene Fassung, die den Stein umschloss, endete in einem Schaft, der sich zu einem Spiralmuster verjüngte. Dies ließ erahnen, dass der Bernstein Jedaures Stab einst als Spitze gedient haben musste.

Jedaures Kettengehänge am Gürtel klirrte und durchbrach die Stille. Sein Blick schweifte weit in die Ferne. Am Himmel segelte ein Falke. Nalumbin und alle anderen sahen, wie Jedaure den Stein der Lomer in die Schale der Talischen legte. Zum Zeichen der Zusammengehörigkeit beider Stämme goss er Wasser über die Stammesheiligtümer. Es war Wasser vom Morgentau, belebtes Wasser, in dem die Sonnenfunken wirkten.

In manchen Gesichtern schimmerte es tränenfeucht. Dann aber wich die Anspannung. Lomer und Talische schüttelten sich die Hände und beglückwünschten sich zum Sonnenfest. Noch einmal erklangen die Hörner, die Flöten, die Trommeln und die heiteren Gesänge. Jor verwahrte die beiden Kleinodien im Schrein. Jedaures Hand malte unsichtbare Schutzzeichen darüber. Damit war das Bündnis besiegelt. Bis zum Aufbruch der beiden Sippen sollte der Schrein hoch oben in der Lomerlinde verwahrt werden.

Mit einem letzten, ausgelassenen Tanz um den Altar verabschiedeten sich die beiden Sippen vom Berggipfel, der bald schon seine Umrisse in herabdrängenden Wolken verhüllte. Müde, aber glücklich über die Gnade, die ihnen die Sonne durch ihr Scheinen auf die Opfergaben erwiesen hatte, kehrten sie in die Siedlung am Fuß des Berges zurück, wo die Daheimgebliebenen sie erwarteten, Alte, die nicht mehr gut zu Fuß waren, und Kinder, darunter Nalumbins kleine Schwester Suri, die ihm mit strahlend blauen Augen entgegenrannte. Es war ein vertrautes Gefühl, die kleine Hand zu spüren, die nach der Hand des großen Bruders griff.

Nalumbin blickte in ein rosiges Gesicht. Grübchen in den Wangen verrieten eine Frohnatur. In Suris blonden Löckchen steckten Blumen und erinnerten an Schmetterlinge. Unter dem ausgefransten Rocksaum lugten zwei Füßchen so dunkel hervor, als hätten sie bald eine Wäsche nötig.

Vor aller Augen kletterte Jor nun mit dem Schrein in die Linde. Hoch oben befand sich eine Plattform, auf der er den kleinen Kasten wieder befestigte. Andächtig blickten Lomer und Talische in den Baum empor. Unzählige Sonnen und Monde schon hatte der mächtige Baum gesehen. Lange aber dauerte es nicht, und die Andacht wich erneut dem Frohsinn.

Die Lomerfrauen verteilten Mohnkuchen und Brot. Die talischen Männer füllten Becher um Becher mit ihrem letzten Honigwein. Gemeinsam lagerten sie alle unter dem Baum und verweilten dort bei Gesang und Gesprächen bis weit in den Abend.

Längst schon schwebte die Mondin am Himmel, als endlich Ruhe in den Häusern einkehrte. Noch immer berauscht von den Erlebnissen auf dem Sonnenberg, blieb Nalumbin auf seinem Lager noch lange ohne Schlaf. Wie im Traum zogen die Bilder der Nacht und des entschwundenen Tages vorüber.

Lebhaft stand der Augenblick vor ihm, als die ersten Sonnenstrahlen das Wasser auf dem Altar aufleuchten ließen. Wie ein Himmelsauge hatte ihn darin die Sonne angeblickt. Heiß und kalt war es ihm über den Rücken gekrochen. Am Tag, unter der Kraft des Lichtes, hatte er großen Mut, hatte sich als Mann gefühlt, ja unbändige Reiselust empfunden auf das große Abenteuer der Weißen Berge.

Neugier, Drang nach Wissen und Zukunft hatten die Oberhand gewonnen, jetzt aber, im Dunkeln, drohte das ängstliche Kind in ihn zurückzukehren, das Furcht hatte vor den bösen Geistern der Nacht. Nalumbin rollte sich zusammen, kroch tiefer unter sein Fell. Die bösen Geister – gab es sie, und was hatten sie vor ...

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