Читать книгу: «Göttergold», страница 8

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Für den Aufenthalt über Nacht forderte Thaine von den Händlern zusätzliche Abgaben von Waren für Herberge und Schutz, was seinen Reichtum ständig mehrte. Nalumbin hatte Mühe, dem holpernden Karren zu folgen, denn jetzt meldete sich der Schmerz im Fuß. Seine Aufregung aber wuchs mit jedem Schritt, mit dem er sich dem ersehnten Ziel näherte.

Als dann das Gespann vor den Toren Thaines anhielt und Haber und Ruro um Einlass baten, gingen Nalumbin die Augen über. Nie zuvor hatte er eine Siedlung wie diese gesehen. Im Schutz von mächtigen Wall- und Grabenanlagen drängten sich die Holzhäuser. Dazwischen verliefen Gassen, in denen unzählige Menschen geschäftig hin und her eilten.

Die Luft war erfüllt von den Rufen der Händler, dem Rattern von schweren Wagenrädern und dem Gebrüll der Zugtiere. Bronzegießer, Feilenhauer, Goldschmiede, Wagner und Stellmacher, Drechsler, Zimmerleute und Töpfer boten ihre Waren feil, und auch aufs Spinnen und Weben verstand man sich hervorragend. Feinst gewobene Stoffe wurden gehandelt und traten zusammen mit Bronzegefäßen und Töpferwaren von hier aus die Reise an über die alten Wege, die alle weit in nördliches und nordöstliches Land zu den großen Meeren führten und auch über das Weiße Gebirge in den sonnigen Süden.

Der Ruf von der soliden Güte der Waren aus Thaine hatte sich weit verbreitet. Aber auch so manches kostbare Erzeugnis aus den Südländern wurde hier von weit gereisten Händlern zum Tausch geboten: bronzene Bogenfibeln und Gewandschließen nach neuester Mode, Schmuck, kostbares Öl, Honig und Gärgetränke in versiegelten bauchigen enghalsigen Henkelgefäßen aus Ton bis hin zu Bernstein von den Ostmeeren.

Nachrichten wurden ausgetauscht und Pläne zu neuen Bauweisen erörtert, wie sie in den Südländern weit jenseits der Weißen Berge bereits erprobt worden waren.

Auf dem großen Handelsplatz inmitten von Thaine trennten sich die Wege von Nalumbin und den Männern aus Firan. Haber und Ruro wünschten dem Jungen viel Glück bei der Suche nach Arfund. Zuvor hatte sich Ruro unter den Einheimischen nach der Lage von Arfunds Haus erkundigt und Nalumbin den Weg beschrieben.

Es sollte sich auf der flussabgewandten Seite Thaines am äußeren Siedlungsrand befinden, hieß es. Nalumbin schlug die Richtung ein, die ihm Ruro genannt hatte. Bald schon aber hatte er das Gefühl, sich verlaufen zu haben. Er irrte von einer Gasse in die nächste, vorbei an Werkstätten und vorbei an offenen Haustüren, wo es verführerisch duftete, und an denen Frauen den vorüberziehenden Händlern frisch gebackene, süße Kuchen im Tausch gegen Nadeln, Faden, Knöpfe, Bänder und Kämme anboten.

Bei all diesen köstlichen Düften wurde es Nalumbin fast schwindlig vor Hunger. Er blieb stehen, um nach dem Weg zu fragen. Er sah sich einer jungen Frau gegenüber, an deren Kleid ein kleines Kind hing. Vor sich, im Eingang ihres Hauses, hatte sie auf einem Brett ihre Kuchen aufgebockt. Nalumbin starrte darauf. Er glaubte, nicht länger widerstehen zu können. Seine Hand fuhr unter dem Umhang in den Beutel und fingerte nach irgend etwas. Da waren Stein und Schale, für die er sämtliche Kuchen Thaines und viel mehr hätte eintauschen können. Was war da noch? Ein Lederriemchen, zwei Holznägel, ein Knäuel Bast, ein geschnitzter Kamm, ein Fetzen Tuch, Feuerstein, Zunder und Fallains Kästchen.

Er zog das Lederriemchen hervor und bot es der Frau. In seinen Augen brannte es vor Verlangen. Die Frau sah den Hunger in seinem Gesicht. Sie reichte ihm ein abgebrochenes Stück Kuchenrand und wies mit einem freundlichen Blick das Lederband zurück. Nalumbin dankte mit einem verlegenen Lächeln und stopfte auch schon den Kuchenrand in seinen Mund.

Dann eilte er weiter, den Geschmack des Kuchens noch eine Weile auf der Zunge nachkostend. Die Süße des Gebäcks hatte ihm frischen Mut verliehen. Er überwand seine Schüchternheit und fragte sich durch das Gewühl von Thaine. Doch die einen verstanden seine Frage nicht, weil sie selbst fremd waren, die anderen wiesen ihn in die verkehrte Richtung, oder er verstand ihre Erklärungen nicht.

Erst als ihn ein Mann an der Hand nahm, dem der Name Arfund etwas zu sagen schien, und der ihn durch das Gewirr von Häusern und Menschen führte, und dann auf ein Haus am Ende einer Gasse zeigte, sah sich Nalumbin endlich dem Ziel nahe. Ein Apfelbaum stand vor dem Haus über dessen Türbalken ein Stiergehörn angebracht war. Unter dem Baum befand sich ein Sitzstein. Als Nalumbin vor dem Haus stand, pochte sein Herz vor Aufregung. Wie würde ihm Arfund begegnen? Ein Zögern. Zaghaft klopften seine Finger an die verwitterte Eichentür.

Doch es öffnete sich keine Tür. Er klopfte wieder. Diesmal lauter. Er wartete. Nichts rührte sich im Haus. Seine Faust schlug gegen die Tür. Diesmal ungestümer. Keine Schritte, die sich näherten. Das Blut wich ihm aus dem Gesicht. Er starrte auf die Tür, stumm und plötzlich müde. Hinter seinen Schläfen zuckte es schmerzhaft. Auf der Türschwelle ließ er sich nieder. Wahrscheinlich war Arfund noch irgendwo in Thaine unterwegs, sagte er sich. Wie konnte er nur annehmen, dass er ihn auf Anhieb treffen würde! Er würde warten. Am Abend musste Arfund schließlich heimkommen! Nalumbin begann zu grübeln. Warten und Nichtwissen waren zermürbend.

Aus dem Nebenhaus trat ein Mann, in der Hand eine große Kanne. Ein prüfender Blick traf Nalumbin. Der Mann verließ die Gasse. Als er nach einer geraumen Weile wiederkehrte, saß der Junge noch immer vor dem Haus seines Nachbarn. Der Mann stellte die Kanne ab, aus der etwas Wasser schwappte. Dann trat er zu Nalumbin und sagte:

„Du bist noch immer hier. Was willst du?“

„Ich will zu Arfund“, antwortete Nalumbin.

„Ich ... ich bin gekommen ... will ihn was fragen!“, stotterte er.

„Was denn?“

„Ob er mich begleiten kann? Über die Weißen Berge ins Südland“, sagte Nalumbin.

Da lachte der Mann und sagte: „Du bist ein Träumer! Als würde Arfund jedem Dahergelaufenen zur Verfügung stehen, dazu noch einem Jungen. Arfund ist ein weit bekannter Wegführer!“

„Kann ich denn nicht hier auf ihn warten?“, fragte Nalumbin, und es klang alles andere als überzeugt.

„Du wartest umsonst“, sagte der Mann.

„Arfund befindet sich auf einer weiten Reise im Nordland. Es ist ungewiss, wann er wieder zurück sein wird!“

Bei diesen Worten war Nalumbin aufgesprungen. Es war, als würde ihm der Boden unter den Füßen weggezogen. Eine eisige Hand legte sich um sein Herz. Aus den rasch ziehenden Wolken, die Regen verkündeten, traf ein letzter glühender Sonnenstrahl die Gasse und mahnte an die bald einsetzende Dämmerung. Wo sollte er hin? Wie aus weiter Ferne tönte die Stimme des Mannes.

„Die Tore werden bald geschlossen. Wenn du über Nacht in Thaine bleiben willst, musst du eine Abgabe leisten. Ansonsten wirst du bestraft. Hast du etwas bei dir, das von Wert ist?“

Nalumbin schüttelte den Kopf. Die Hand, die den Beutel gepackt hielt, zitterte genauso wie seine Stimme.

„Ich habe nichts“, antwortete er.

„Nur Feuerstein und Zunder, einen Kamm und einen Lederriemen.“

Da lachte der Mann erneut und sagte:

„Heiligtümer sind das nicht gerade. Das wird nicht reichen fürs Übernachten. Du musst dich beeilen, denn bald schon blasen die Wächter in ihre Hörner. Dann werden Thaines Tore geschlossen!“

„Die Heiligtümer!“, schoss es Nalumbin durch den Sinn.

„Was, wenn die Wächter meinen Beutel durchsuchen und Stein und Schale finden? Sie werden mich für einen Dieb halten!“

Mit einem „Ich muss fort!“ stürzte er grußlos davon, mitten hinein ins immer noch umtriebige Thaine. Die vielfältigen Geräusche erdrückten ihn. Es war eine Verlorenheit, eine Einsamkeit, die ihn niederschmetterte, trotz der vielen Menschen um ihn herum. Es war die gleiche Einsamkeit, wie sie ihn damals bei seiner Rückkehr in sein abgebranntes, menschenleeres Heimatdorf überfallen hatte.

Er hastete durch die Menge, stieß gegen Händler, Wagen, Marktstände und spielende Kinder. Er stieß gegen einen Tisch. Äpfel kullerten zu Boden. Eine Frau bückte sich, um sie aufzulesen. Nalumbin stürzte davon in die Richtung, aus der nun die Rufe von Hörnern erklangen. Dort mussten Thaines Tore sein. Gleich würden sie schließen! Ein, zwei Baumlängen noch, und schon war der Junge an den in ihre Hörner blasenden Wächtern vorbeigeschlüpft.

Er rannte weiter. Fort von Thaine. Erst als ihn seine Füße kaum mehr tragen konnten, ließ er sich zwischen Gebüschen zu Boden fallen, ihre Stacheln kaum spürend. Er hatte das Gefühl, dass er schrumpfte, kleiner und kleiner werdend, bis zum Hineinsinken in die Erde, wo er von niemandem in seinem Elend gesehen werden konnte ...

Das Band

Von Lichtern durchwoben lag der Wald vor der Höhle und verströmte Kühle. Aus den Wipfeln der Bäume fiel glitzernder Tau. Ardevi hatte das Feuer neu entfacht. Darüber köchelte die Gerstensuppe. Morgenwinde trugen die Töne seines Flötenspiels davon und mischten sich unter den Gesang der Vögel. Als dann der Sonnenschein erlosch, verschleierte sich der Himmel. Die Farben wurden matter und die Vögel verstummten, bis auf das Kreischen der Elstern und das Geschrei der Raben.

Doch da war noch ein Geräusch, das an Ardevis Ohren drang. Ardevi legte die Flöte beiseite und horchte. War es ein Tier? Waren es Tritte? Es knackte und knisterte. Stein schlug auf Stein. Jetzt knarrte es. War es die Leiter, die er nach dem frühen Gang zu seinem Angelplatz nicht hochgezogen hatte? Das Geräusch kam näher, wurde lauter. Ardevi erhob sich. Die Holme der Leiter, die über den Höhlenrand hinaus ragten, schwankten. Ein dunkler Haarschopf erschien. Darunter ein Gesicht, das Ardevi kannte. Ein Gesicht, in dem sich Kummer und Müdigkeit abzeichneten. Es war Nalumbin.

Auf der obersten Sprosse angekommen, tat sich vor ihm die Höhle auf wie schon einmal, als er mit dem armseligen Fisch in der Hand hier Zuflucht gesucht hatte. Und wie schon einmal durchwanderten seine Augen das rußgeschwärzte Deckengewölbe. Da war der massige Steintisch. Da waren all die Büschel von getrockneten Pflanzen und Wurzeln, die Tierfelle am Boden, und – da war Ardevi! Und wie schon einmal erschauerte Nalumbin, als er nun in seiner ganzen Hilflosigkeit vor ihm stand. Ardevi blickte schweigend auf Nalumbin. Mit einer Handbewegung forderte er den Jungen auf, am Feuer Platz zu nehmen.

Die Grütze dampfte, und je länger Ardevi sie rührte, umso größer wurde Nalumbins Verlangen danach. In seinen Augen stand die blanke Gier. Wann hatte er zum letzten Mal etwas gegessen? Er wusste es nicht mehr. Doch, es war das abgebrochene Stück Kuchenrand gewesen, das ihm die Frau in Thaine geschenkt hatte.

Als ihm Ardevi die randvoll gefüllte Schale reichte, zitterte die Hand, die sie entgegennahm. Er fiel über sie her wie ein Hund über Fleischabfälle, die man ihm zuwarf. Er schlürfte, schmatzte, verbrannte sich die Zunge und hatte nur noch Augen für die Schale, die sich rasch leerte, und für den Kessel, in dem es leise blubberte, was vielleicht Nachschlag versprach.

Aber nicht nur der schier unersättliche Hunger hielt ihn im Griff, es war auch der Schmerz in seinem Knöchel. Zuviel hatte er seinem Fuß zugemutet. Verzweiflung, Ohnmacht und Trauer, und der Wunsch, bei Ardevi erneut Schutz und Hilfe zu finden, hatten den Schmerz verdrängt und ihn erbarmungslos vorangetrieben. Jetzt aber traf er ihn, der Schmerz. In seinem Fuß hämmerte und pochte es.

Auch wenn Nalumbin geglaubt hatte, dass er nie mehr satt werden könne, so geschah es doch. Eine Handvoll Nüsse und getrocknete Beeren rundeten die köstliche Mahlzeit ab. Die Wärme der Suppe und des Feuers durchströmten ihn wohlig.

Die Anstrengungen der letzten Tage forderten ihr Recht. Schläfrigkeit überkam ihn. Er kämpfte dagegen an, denn er wusste, dass Ardevi von ihm erwartete, dass er Kessel, Schalen und Löffel reinigte und sich ums Feuerholz kümmerte.

Dann vernahm er Ardevis Stimme, die klar und deutlich das Schweigen durchbrach, und er war augenblicklich hellwach.

„Die wichtigen Begegnungen von Menschen hängen von den Sternen ab. Nur dann, wenn sie für beide Seiten günstig stehen, will es das Schicksal, dass sie zusammenkommen! Zur rechten Zeit am rechten Ort!“

„Was meint Ardevi damit?“, flüsterte es in Nalumbin.

„Meint er Arfund und mich? Woher weiß er, dass ich Arfund nicht angetroffen habe? Oder vermutet er es nur?“

Frage über Frage drängte nach. Kannte Ardevi Zeit und Ort, an dem sich die für ihn, Nalumbin, so wichtige Begegnung erfüllen würde? Er versuchte aufzustehen. Jetzt, nachdem er eine Weile gesessen hatte, fiel ihm das Aufstehen schwer. Auf unsicheren Beinen kam er seinen Pflichten nach. Ardevi sah es.

„Du hinkst ja“, sagte er. „Zeig den Fuß her!“

Nalumbin zog den Schuh aus. Ardevi befühlte den geschwollenen Knöchel. Einer Wandnische entnahm er ein Deckelgefäß. Glibberige Salbe befand sich darin, mit der er jetzt Nalumbins Knöchel dick bestrich. Mit einer Lage Weidenrinde deckte er den Knöchel ab, und während er Nalumbins Fuß mit Werg umwickelte und ihn hochlagerte, sagte er:

„Ich muss morgen ins Schwarzmoos. Zu Arwe. Für den Fall, dass die Schwellung bis morgen abgeklungen ist, kannst du mich begleiten. Jetzt ruh dich aus und schlaf erst einmal!“

Bei diesen Worten erstand das Bild einer Mädchengestalt vor ihm. Wieder war es das Bild von Tara, das sein Herz berührte. Freude über eine Wiederbegegnung erhellte plötzlich und unerwartet die Düsternis seiner Hoffnungslosigkeit und vertrieb das dumpfe Schuldgefühl, ein weiteres Mal versagt zu haben. Seine Flucht hierher, und zu wissen, dass die Kluft zwischen ihm und den Seinen sich mit jedem Tag vergrößerte.

Mit jedem Tag, den er verlor. Er grübelte über Ardevis Worte zum Stand der Sterne nach: „Zur rechten Zeit am rechten Ort!“

Konnte es sein, dass kein Tag verloren war, dass es gar keine verlorene Zeit gab? Dass sich die Tage aufhoben im Warten auf dieses Zeichen zur richtigen Zeit? Dass dann die unsichtbaren Mächte und Kräfte ganz anders zusammenwirken konnten im Suchen und Finden des Ziels? Dies glauben zu können wünschte er sich, doch es wollte ihm nicht gelingen!

In diese Gedankenschwere hinein flutete die Wärme des Feuers, und ein Gefühl der Dankbarkeit brach in ihm auf. Zum ersten Mal, seit dem schrecklich Erlebten, seit dem Sterben seines Vaters, dessen Todesbild in ihm unauslöschlich stand, empfand er Geborgenheit. Er spürte ein Zuhause. Da war ein Mann, ein Mensch, den er zuerst für kaltherzig gehalten hatte. Aber die Geschehnisse vor Tagen im Schwarzmoos hatten ihn in einem anderen Licht erscheinen lassen. Da wurde Nalumbin bewusst, dass Ardevi nicht nur die äußere Größe besaß, sondern auch die innere.

Im Traum wechselten sich die Bilder ab: Ardevi, wie er ihm den Fuß salbte, Tara, wie sie ihm mit einem Lächeln die Hand reichte, Arfund, der wie ein rettender Pfad aus dem Nebel auftauchte, trotz seiner verschlossenen Tür in Thaine, Aithe, seine Mutter, wie sie um ihn weinte, dass es ihm tief ins Herz schnitt und er grenzenlose Sehnsucht empfand und tiefe Trauer über die weite Ferne von ihr ...

Am Morgen war Nalumbins Fuß so weit abgeschwollen, dass er Ardevi begleiten konnte. Ein stützender Verband aus Birkenbast und weichem Ziegenleder erleichterte das Gehen. Auf dem Weg zum Schwarzmoos durchstreiften sie die herbe Landschaft, auf der Suche nach Pflanzen und Beeren, die Ardevi zu Heilmitteln verarbeiten würde.

„Die gedörrte, zu Pulver zerstoßene Wurzel ist eines der besten Reinigungsmittel“, erklärte Ardevi beim Ausgraben von Zwergholunderwurzeln. „Das wird Arwe vollends gesund machen.“

In der Nähe einer Quelle lösten sie Rinde von Weidenbäumen. „Sie treibt das Wasser heraus und fängt die Hitze ab“, sagte Ardevi.

„Mir hat sie geholfen, als das Fieber in mir brannte“, erinnerte sich Nalumbin. „Auch vom wilden Flieder habe ich gegessen.“

„Dann hast du das Richtige getan. Die Pflanze kann Gliederschmerzen lindern, Erkältungen fortschwitzen und das Blut verdünnen. Woher wusstest du das?“

„Von Jedaure und von den Frauen meines Dorfes. Auch habe ich gesehen, wie sie kranke Kinder durch einen gespaltenen Weidenbaum gezogen haben, um die Krankheit abzustreifen. Es gab aber nur einen einzigen solchen Baum, eine halbe Tagesreise entfernt, am Ufer eines Baches.“

„Wenn kein großer Spalt vorhanden ist, kann man ihn herrichten. Man schlitzt den Stamm auf. Das kranke Kind muss vor Sonnenaufgang hindurchgezogen werden. Danach verbindet man den Baum. Und so, wie der Stamm wieder zuwächst, heilt auch die Krankheit“, bemerkte Ardevi.

Sie gelangten zu einer Buche von mächtiger Höhe, mit einem Stamm, stark und dunkel glänzend. Ardevi schnitt Zweige vom Baum. Ihre Blätter waren von hell leuchtendem Grün, das Nalumbin an Taras Augen erinnerte. Beim Gedanken an das bevorstehende Wiedersehen mit Tara spürte er das Blut rascher fließen. Röte stieg ihm ins Gesicht. Unter gesenkten Lidern mühte er sich seine Gefühle zu verbergen.

„Der sichtbare Baum ist der Körper der unsichtbaren Gottheit“, sagte Ardevi. „Im Rauschen der Krone vernimmst du das Raunen des Großen Geistes. In der Buche offenbart sich Jenseitiges. Die Kräfte aus den Blüten der Buche gibt der Seele Anstoß, sich den Urbildern zu öffnen. Der Schöpfung.“

Die Tragekörbe füllten sich. Zweige von einem Vogelbeerbaum, der mitten aus dem Fels wuchs, kamen hinzu. Nalumbin entsann sich, dass auch Jedaure mit den Früchten des Baumes die Winterkrankheiten der Kinder vertrieben hatte. Auch der Walddistelstrauch, den Ardevi gefunden hatte, war ihm nicht unbekannt. Einmal, als die Großmutter, von einem schlimmen Husten geplagt, zu ersticken drohte, hatte Jedaure die getrockneten Blätter entzündet und die Kranke den Rauch aus einiger Entfernung einatmen lassen. Zuvor waren die Kinder wegen der Giftigkeit der Pflanze aus dem Haus geschickt worden. Der Rauch hatte der Großmutter geholfen, sich von üblem Schleim zu befreien. Die schreckliche Atemnot fand so ein Ende.

Die rote, feurige Kornrade, die gelbe Kamille und die blaue Kornblume ergänzten die Sammlung. Der Wald hatte junge Efeublätter geliefert, und das sumpfige Ufer eines Teiches spendete handtellergroße Blätter und Wurzeln der Neunkraftwurz. Ebenso das Tausendkrankheitskraut mit seinen sattgelben Blüten und das zartblau blühende Grundheilkraut.

Es war früher Nachmittag, als Ardevi und Nalumbin sich dem Schwarzmoos näherten. Vor Ribors Haus saß Arwe auf einem gespaltenen Baumstamm, der als Bank diente. In den Händen hielt er einen flachen Tierknochen, an dem er mit einem scharfen Steinsplitter feilte. Bei diesem Anblick legte sich ein Ausdruck von Zufriedenheit auf Ardevis Gesicht.

„Was sehe ich da“, sagte er. „Du bist in der Lage, deine Finger wieder zu bewegen? Was soll das werden?“

„Ein Kamm für dich“, antwortete Arwe und stand auf. Ein bisschen mühselig zwar, doch aus eigener Kraft. „Du hast mich gesund gemacht, und dafür möchte ich dir etwas schenken, auch wenn es heute noch nicht fertig werden kann.“

Ardevi fasste Arwe unter dem Kinn und zog sein Gesicht empor.

„In deinen Augen sehe ich noch einen Rest von Krankheit. Du musst aufpassen, dass sie nicht wiederkehrt. Wo ist Ribor?“

„Beim Torfstechen.“

„Und Tara?“

Es war Nalumbin, der die Frage unversehens gestellt hatte. Erschrocken blickte er um sich, als habe er damit zu viel gewagt.

„Da kommt sie“, sagte Arwe und deutete zum Waldrand.

Nalumbin fühlte, wie sein Herz Sprünge machte. Dann sah er Tara näherkommen und mit ihr ein Bild von Schönheit. Ihr leichter Schritt, die Fülle von weizenhellem Haar, die rote Blüte am grauen Kleid. Dieses Bild packte ihn an einer Stelle seines Wesens, die dagegen nicht gewappnet war. Tara kam herbei und begrüßte die Besucher. Nalumbin verlor sich in Taras Augen, als würde er in ein Meer eintauchen.

„Für euch!“, sagte sie und bot Ardevi und Nalumbin ein Körbchen mit Beeren. Verlegen starrte Nalumbin das Mädchen an, unfähig zuzugreifen, sich zu rühren.

Verwundert über sein seltsames Benehmen fragte Tara: „Was ist mit dir?“

Da schoss Nalumbin die Röte ins Gesicht. Er erwachte aus seiner Starre, griff in das Körbchen und schob ein paar Beeren in seinen Mund, ohne zu wissen, was er aß. Er sah nur die Hand, die ihm das Körbchen entgegenhielt, schmal und feingliedrig.

Dann verschwand sie im Haus. Mit dem neuen, fertig gewebten Band und mit dem alten Band, das ihr Großvater Ardevi versprochen hatte, kehrte sie wieder. Lächelnd reichte sie Ardevi das neue Band. Ardevi betrachtete es lange.

„Es ist schön, fest und ebenmäßig“, sagte er. „Du bist eine gute Weberin. Wer hat dich das gelehrt?“

„Meine Mutter. Sie hat mir gezeigt, wie man gute Wünsche hineinwebt. In dieses Band habe ich viele gute Wünsche hineingewoben.“

„Welche Wünsche hast du denn hineingewoben?“, fragte Nalumbin, froh, mit dieser Frage endlich seine hilflose Verlegenheit überwunden zu haben.

„Darüber darf niemand sprechen, auch ich nicht, sonst gehen die Wünsche nicht in Erfüllung. Man wünscht auch nichts für sich selbst, sondern darf dies nur für andere tun.“

„Das andere Band, ist es auch ein Wunschband?“, wollte Nalumbin wissen.

„Es ist das Band unserer Mutter“, antworteten Tara und Arwe wie aus einem Mund.

„Es gehört dir, Ardevi. Hier nimm auch dieses Band!“, fuhr Tara fort.

„Ich will es nicht“, sagte Ardevi. „Ich könnte mir vorstellen, dass sich noch viele Wünsche darin verbergen. Wünsche die euch beiden gelten.“

Tara nickte und sagte lebhaft: „Wenn man ein solches Band weiterschenkt, dann gehen die guten Wünsche auf den neuen Träger über. Es ist dann ein Freundschaftsband. Und es bringt auch Glück dem, der es schenkt.“

„Kann man auch böse Wünsche hineinweben?“, fragte Nalumbin.

„Ich weiß es nicht“, antwortete Tara unsicher. „Vielleicht?“

„Dazu erzähle ich euch eine Geschichte. Setzt euch!“, forderte Ardevi auf.

Tara und Nalumbin ließen sich neben Arwe nieder. Ardevi setzte sich auf einen Holzklotz, den Ribor zum Spalten des Feuerholzes benutzte. Gespannt schauten sie ihn an.

„Die Geschichte handelt von einem kleinen Jungen und einem Stück Stoff, einer Matte, wie man sie zum Warmhalten für kleine Kinder gebraucht“, begann Ardevi.

„Der kleine Junge hatte eine Schwester, die am selben Tag, zur selben Zeit geboren war, eine Zwillingsschwester, die er sehr liebte. Die beiden spielten zusammen, meist in ihrem Versteck, verborgen unter einem Rosenhag, wenn sie nicht gerade zur Feldarbeit gebraucht wurden. In diesem Versteck verwahrten sie die Matte aus den Tagen ihrer frühen Kindheit. Ihre Mutter hatte sie gewoben, und sie war das Einzige, das ihnen von ihrer Mutter geblieben war, denn die Mutter war nach der Geburt der Kinder gestorben. Eines Nachts erkrankten beide am Fieber.

Der Vater rief den Heiler und bot ihm ein junges Schaf, wenn er die Kinder gesund machen würde. Doch alles war vergebens. Das Fieber wollte nicht weichen. Besonders das Mädchen wurde gepeinigt. Das Fieber stieg und stieg und stieg, zehrte schließlich den kleinen Körper aus. Obwohl auch das Leben des Jungen zu erlöschen drohte, gelang es ihm, sich verständlich zu machen. Dies geschah in Fieberträumen, in denen er immer wieder um die kleine Matte aus dem Versteck bat. Niemand aber verstand, was damit gemeint war. Da richtete sich die Schwester mit letzter Kraft noch einmal auf. Die Todesgöttin stand schon an ihrem Lager. Das Kind deutete nach draußen und hauchte: ‚Holt die Matte unserer Mutter. Sie wird meinem Bruder helfen. Für mich ist es zu spät.'

‚Wo finde ich sie?‘, fragte der Vater. ‚Wo?‘

‚Sie ist im ...‘

Die Antwort erstarb. Die Augen der Schwester schlossen sich und ihr Mund blieb stumm.

Da machte sich die Sippe auf die Suche nach der Matte. Das Oberste wurde zuunterst gekehrt. Speicher, Ställe, Gerätehaus, Pferch und Garten durchstöbert. Der Vater kletterte auf den alten Efeubaum, in dem er die Kinder oft schon hatte sitzen sehen. Am Ende des Tages, bei Einbruch der Dunkelheit, hatte man die Matte noch immer nicht gefunden. Doch wieder und wieder verlangte der todkranke Junge nach ihr, so wie seine Schwester im tödlichen Fieber zuvor. Da beschloss der Vater in seiner Not, eine andere Matte zu besorgen.

Mitten in der stürmischen Nacht klopfte er an die Tür des Einsiedlers, von dem er wusste, dass er von seinen früheren weiten Reisen kostbares Tuch mitgebracht hatte, das er wie seinen Augapfel hütete, denn er war ein geiziger Mann. Der Vater versprach dem Einsiedler nicht nur das Schaf, sondern auch Bronzeringe, wenn er ihm das schönste von all den Tüchern überließe.“

Ardevi hielt mit der Erzählung inne. Sein Blick schweifte in die Ferne und verweilte dann im Wipfel eines Baumes, aus dem eine Schar Krähen mit hörbar wildem Flügelschlag und misstönendem Geschrei aufstob. Tara, die Hände ineinander verschränkt, rief erregt: „Und hat er das Tuch bekommen, der Vater?“

Auch Nalumbin konnte die Spannung kaum ertragen.

„Hoffentlich ist es nicht zu spät für den Jungen!“, brach es heraus.

Da fuhr Ardevi fort: „Ja, er hat das Tuch nach langem Hin und Her bekommen. Wie fassungslos war er aber, als der Junge schon bei der ersten Berührung mit dem kostbaren Stück zu weinen begann und trotz seiner Kraftlosigkeit laut aufschrie:

‚Das tut mir weh!‘

Der Vater untersuchte das kostbare Stück, fand aber nichts daran auszusetzen. Das Tuch war prachtvoll, weich und leicht. Und so legte er das kranke Kind darauf. Wieder schrie der geschwächte Junge, so klagend und herzzerreißend, dass es allen Umstehenden durch Mark und Bein ging.“

Tara wollte der Atem stocken. Nalumbin scharrte unruhig mit den Füßen. Beide hingen an Ardevis Lippen. Sie konnten den Ausgang der Geschichte kaum erwarten.

„Der Vater rollte die Matte zusammen und warf sie enttäuscht in die Ecke“, fuhr Ardevi fort. „Dabei war ihm, als erhielte er einen leichten Schlag. ‚Es wird wohl das nahende Gewitter sein‘, dachte der Vater. In der Tat, der Himmel hatte sich verdunkelt. Mächtig rollte Donner über den Wald. Noch einmal richtete sich der Junge mit letzter Kraft auf, wie zuvor seine Schwester. Er deutete auf die Tür. Sie wurde geöffnet und herein schoss der Hund. Er leckte die Hand des Sterbenden. Dann sprang er zur Tür, blieb kurz stehen, wendete den Kopf und jagte davon, zum Rosenhag am Waldrand, wo Blitze die dunklen Wolken zerrissen und in die Erde fuhren. Der Vater trat vor die Tür und sah, wie der Hund etwas aus dem Gebüsch zerrte. Es war die Matte, gewebt von der Hand der Mutter!“

Taras Brust entrang sich ein langer Seufzer. Arwe stand Schweiß auf der Stirn, den er mit feuchter Hand abwischte. Nalumbin hörte auf zu scharren. Schwüle lag in der Luft. Am Horizont wetterleuchtete es. Ein aufbrausender Wind schüttelte die Bäume und drohte Taras Frage davonzutragen:

„Die Matte, hat sie ...?“

„Ja, sie hat dem Jungen das Leben gerettet. Er wurde darauf gebettet und noch während der Nacht begann das Fieber zu sinken.“

„Ist der Junge wieder ganz gesund geworden? Ist er noch am Leben?“, fragten sie aufgeregt.

„Seht mich an!“, antwortete Ardevi. „Hier bin ich.“

Hinter den schwarzen Zacken des Waldes verdüsterte sich der Himmel. Ardevis Züge hatten sich verdunkelt. Nur ein leises Zittern um die Mundwinkel, das Tara bemerkte, verriet die Heftigkeit seiner Gefühle.

„Die Erinnerung an seine Schwester schmerzt ihn“, dachte Tara still bei sich.

„Ich kann es fühlen. Jetzt, nachdem Arwe so krank war, erst recht.“

„Was war mit dem Tuch des Einsiedlers?“, fragte Arwe.

„Mein Vater hat es zurückgebracht und erfahren, dass es aus dem Land des Gelben Flusses stammt, wo viele Menschen in Knechtschaft zu leben gezwungen sind. So schön das Tuch auch war, es muss viel Leid gesehen haben. Ich, als krankes Kind, hatte es wohl gespürt. Warum ich euch die Geschichte erzählt habe?“

„Wegen des Wunschbandes!“, rief Tara aus.

„Stellt euch vor, ich hätte böse Gedanken für den, dem ich ein Band oder Stoff zu einen Mantel webe. Es ist wie mit den Pflanzen, mit denen dich Ardevi geheilt hat“, sagte sie, das heiße Gesicht zu Arwe gewandt. „Die Kraft, die in ihnen steckt, sieht man ihnen nicht an.“

„So ist es!“, bekräftige Ardevi. „Es ist nicht die Form der Welle, es ist ...“

„Es ist die Kraft, die dahintersteckt!“, unterbrach ihn Nalumbin mit heftiger Geste. „Genau das! So hat es mir Jedaure erklärt!“

Ein Blick der Verwunderung traf Nalumbin, den dieser aber nicht bemerkte.

„Es ist in allem diese Kraft. Und wehe, wenn wir diese Kraft nicht verstehen“, fuhr Ardevi fort. „Dann verformen wir den Kreis, der alles miteinander verbindet. Dann fällt alles auseinander und die Kraft kann sich nicht erneuern. So unsichtbar die Gedanken auch sind, sie können vieles bewirken. Sie sind hinter den Dingen, in den Dingen. Es gibt Zeiten, in denen wir dieses Unsichtbare wahrnehmen können, so wie damals der kranke Junge ...“

Nalumbin ertappte sich, dass er in Gedanken abgeschweift war und Ardevis Worten nicht mehr folgte. Es war die rote Blüte an Taras grauem Kleid, auf der sein Blick haftete. Er tauchte ein in dieses Farbenmeer von Rot. In ihm sah er die ganze Mädchengestalt mit ihrem Zauber, die ihn festhielt. Und wäre Ribor jetzt nicht aufgetaucht, einen Karren hinter sich herziehend, und hätte es nicht schon wieder grell wettergeleuchtet, er wäre am liebsten für immer so sitzen geblieben.

Der Beutel an seinem Gürtel wog plötzlich schwer, dass er meinte, zu Boden gezogen zu werden. Sonst spürte er kaum sein Gewicht. Er hatte sich daran gewöhnt. Der Beutel war ihm zum Teil seines Körpers geworden. Jetzt aber war diese Schwere fast unerträglich. Sie erinnerte ihn an sein Versprechen, das durch nichts und niemanden gebrochen werden durfte.

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