Читать книгу: «Der Vorhang», страница 3

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Wenn das meine Mutter wäre, sagte die Stationsärztin, würde ich keine Minute zögern. Ihre Stimme war zu schrill, ihr Makeup zu dick, die Mascara zu schwarz, ihre Zehennägel leuchteten alarmrot. Sie bestand darauf, eine PEG zu legen. Ein durchsichtiger Schlauch wurde am nächsten Tag durch den Bauchnabel in den Magen geführt und an eine Pumpe angeschlossen, durch die eine hochkalorische Flüssigkeit lief, die dich nach wenigen Tagen rosig und glatt aussehen ließ wie ein junges Mädchen. Ich kaufte einen Strohhut mit einer hellblauen Seidenschleife und eine hübsche hellblaue Bluse für dich. Wenn das Wetter schön war, fuhr ich dich hinunter zum Seeufer. Der Park war uferwärts abschüssig, wir saßen im Schatten hoher Linden, Ausflugsdampfer zogen lautlos vorbei, keckernde Enten umringten uns bettelnd. Nach ein paar Minuten sank dein Kopf auf die Brust, ein Arm hing leblos herab, das gelähmte Bein rutschte grotesk verdreht von der Fußstütze.

Auf dem Rückweg sah ich ein großes grünes Heupferd; es hatte sich auf den Betonstufen zum Aufzug verirrt, an den Hinterbeinen hatten sich Staubgespinste verfangen, der schlanke hellgrüne Körper mit den zart geäderten Flügeln schien leblos, ein menschliches Haar oder so etwas war wie eine Fußfessel zwischen die Gelenke gespannt und behinderte es. Hektisch tasteten die Fühler nach einem Ausweg. Ich schob den Werbeprospekt eines Seniorenheims, das ich am Vormittag besichtigt hatte, unter das bewegungslose Insekt und trug es zurück auf die Wiese. Ich hatte mir schon fünf oder sechs angesehen, sie hießen Rosenhof oder Seeresidenz und hatten menschenleere Terrassen und gepflegte Gärten, in denen niemand spazieren ging. Ich entfernte vorsichtig die Fußfessel, das Wesen zuckte, versuchte aber nicht zu fliehen, als hätte die Gefangenschaft es in einen Zustand der Betäubung versetzt. Vorsichtig begannen die Fühler zu tasten, dann verschwand es mit stockenden kleinen Hüpfern im Graswald.

Familienalbum

Weißer Dunst liegt über dem Loch der Wunde, ich grabe mich in seinen Boden, ich trage seine Schichten ab, aber noch immer nirgends ein Anfang oder Grund, scheinheilig sticht die Sonne aus dem makellosen Blau, wie ein riesiges Buch erhebt sich das Relief der Grube, in samtiges Grün gebettet, die sepiafarbenen Seiten von einem jähen Windstoß aufgeblättert, aus der waldigen Umgebung, verwischt die Abdrücke Millionen Jahre alter Chimären aus der Kindheit des Planeten, aus ihrem ewigen Schlaf gerissen die Wesen, die im Buch der Erde träumten, unlesbar geworden das Alphabet der Schöpfung, ausradiert unter den Raupenketten der Riesenbagger, ich steige hinab in das Buch, um die Schrift zu lesen, dumpfer Druck legt sich auf die Ohren, es ist totenstill, kein Vogel singt, ich stürze, die Erde empfängt mich sanft, ein paar Hundert Meter rutsche ich durch lockeres Sedimentgestein aus Kiesel, Schotter, Tonschiefer, Muschelkalk, bis ich wieder festen Boden unter den Füßen habe, es ist kälter geworden, Europa erstarrt unter pleistozänem Eis, Schwarz wird Weiß und Weiß wird Schwarz, unter meinen Schritten zerplatzen Jahrtausende, ich erschaffe sie neu, aus einer Handvoll vergifteter Flüsse und toter Gletscher komponiere ich mir ein Anthropozän, auf dem Hintergrund meiner eigenen Unwirklichkeit will ich eine wirkliche Welt beschreiben, ich nehme den Oberkiefer eines Schnabeltiers, einen Berg zerbrochener Saurierrippen, eine Handvoll Baumsamen und vermische alles mit jurassischem Sand, ich atme Morgenluft, am diluvianischen Horizont wird es schon hell.

Das Radio läuft leise, Schlager der siebziger Jahre, unterbrochen von Werbung. Du sitzt im Sessel. Ich fülle Tee in den Plastikbeutel, kontrolliere den Schlauch und schließe die Pumpe wieder an, die leise schnurrend anspringt.

Du hast nie viel von deiner Kindheit erzählt, sage ich. Vielleicht fangen wir mit Esther an, die eines Tages nicht mehr zur Schule kam, Esther Donnerstag, weißt du noch, du hast den Namen mal erwähnt, ich habe ihn mir gemerkt, eindeutig ein jüdischer Name, ihr wart vier Freundinnen, hast du gesagt, Ruth, Esther, Hilde und du. Es gibt ein altes Foto, so um Neunzehndreiunddreißig oder spätestens fünfunddreißig aufgenommen, also im Jahr der Nürnberger Gesetze, eine Schulklasse voll kleiner Mädchen, sage ich, du in der vorletzten Reihe, ein hübsches blondes Kind mit kurzgeschnittenem Haar und schmollend aufeinandergepressten Lippen, da warst du acht oder zehn, aber wer könnte Esther sein, das jüdische Mädchen, vielleicht die Dunkelhaarige da in der zweiten Reihe mit dem wachen Blick, oder die mit den Zöpfen?

Schon komisch, sage ich, dass ich dir dein Leben erzähle, obwohl es normalerweise umgekehrt sein müsste, aber was ist schon noch normal zwischen uns, die natürliche Ordnung steht auf dem Kopf, die Zeit folgt nicht mehr dem Lauf eines Menschenlebens von der Wiege bis zur Bahre, wie man so sagt. Sie läuft rückwärts. Vierundzwanzig Stunden am Tag, sieben Tage die Woche, Monat für Monat für Monat. Nach dem Winter wird es wieder Herbst, der Sommer wird mit Regentagen und Hitze am Mittag kommen, die Zeit zieht uns mit sich in den dunklen Grund und so wird es nie enden, es wird immer so weitergehen, sage ich, bis mein Leben vorbei ist.

Ich stelle das Bügelbrett so, dass du mich sehen kannst. Nach ein paar Minuten fallen dir die Augen zu, das Kinn sinkt auf die Brust. Du schnarchst leise, der rechte Arm rutscht leblos vom Schoß, aus dem linken Mundwinkel sickert Speichel.

Soll ich dir mal von dem Doktor erzählen, der dich auf die Welt gebracht hat? Er heißt Arno Philippsthal, sage ich, zu ihm geht Großvater, wenn die Kopfschmerzen wieder unerträglich werden, ein Granatsplitter spaziert seit der Schlacht vor Verdun in seinem Schädel herum. Am zweiten Weihnachtsfeiertag 1924 wird Dr. Philippsthal in den Fridolinweg gerufen. Als der Doktor eintrifft, ist das Kind schon abgenabelt und schläft erschöpft, in eine Decke gewickelt, im Wäschekorb. Er untersucht die Mutter, sie hat viel Blut verloren und ist blass. Er prüft die Nachgeburt und gibt Großmutter eine Spritze. Großvater wartet in der Küche. Schnee bedeckt den baum- und strauchlosen Garten wie ein gestärktes Tischtuch.

Was bin ich Ihnen schuldig, Herr Doktor, sagt Großvater und steht auf, als der Doktor in die Küche tritt.

Lassen Sie mal, sagt der Arzt, Ihr kleiner Weihnachtsengel ist gesund und die Mutter päppeln wir schon wieder auf.

Er zieht den Mantel an und schnallt vor der Tür den Arztkoffer auf den Gepäckträger seines Fahrrads. Es schneit immer dichter.

Frohe Weihnachten, er winkt Großvater zu. Frohe Weihnachten, sagt Großvater und winkt dem Doktor nach, der das Rad durch den Schnee schiebt.

Der Doktor hätte das Land verlassen sollen, sage ich und verstaue die gebügelte Wäsche in der Schrankwand. Warum ist er dageblieben, er war doch Jude, da muss er doch gesehen haben, was nach den Märzwahlen los war, die grölenden Horden, die in ihren kackbraunen Uniformen mit den roten Koppeln durch Lichtenberg zogen, das hat man schon hundertmal in Filmen gesehn, die Aufmärsche auf dem Alexanderplatz, die Hetzjagden auf Juden und Kommunisten durch Neukölln und Wedding. Ich kann dich nicht fragen. Deine Erinnerungen sind in den unendlichen Schleifen der Nervenbahnen verschwunden, verstummt wie Radiowellen aus dem Weltraum.

Nachdem die Schwester vom Pflegedienst gegangen ist, die jetzt zweimal am Tag kommt, halte ich deine Hand, bis du eingeschlafen bist. Wo bist du jetzt, denke ich, in welcher Welt. Wohin gehen all die Geräusche, Gerüche, Stimmen, die gelöschten Bilder, die nicht zu Ende gesprochenen Sätze, die nicht abgeschickten Briefe, die nicht erzählten Geschichten, die sich irgendwann abgelöst haben von den Personen, denen sie einmal gehört haben müssen. Wie viele Welten können in einem einzigen Blutgefäß zerplatzen, wie viele Bibliotheken, wie viele philosophische Systeme, wie viele neuronale Galaxien mit einem Schlag verlöschen. Gibt es ein Fundbüro für Erinnerungen, die von ihren Besitzern verloren wurden? Schweben sie vielleicht als herrenlose Zeitmoleküle durch den unendlichen Raum und vermischen sich mit dem Licht, das alle festen Körper durchdringt und uns umfließt, ein Fluidum, in dem die Nochnichtgeborenen schwimmen wie in einer Art Fruchtwasser, oder geistern sie als virtuelle Meme durch die digitalen Netze um die Erde und bilden ihrerseits wieder Netze, in denen die vergessenen Bilder als Avatare ihrer Besitzer weiterleben?

Soll ich dir sagen, was aus dem Doktor geworden ist, sage ich, du warst noch zu klein, du kannst es nicht wissen, aber es gab Zeugen, die später alles aufgeschrieben haben, der Doktor war gerade von einem Hausbesuch zurück, als sie ihn holten, Ende März dreiunddreißig, am frühen Nachmittag, ein Trupp SA-Männer in Uniform erwartete ihn vor der Praxis. Sie hatten keinen Haftbefehl, sie waren höflich und forderten ihn auf, zwecks Klärung eines Sachverhalts mitzukommen. Auf der Straße wartete ein Auto mit laufendem Motor. Der Doktor stellte die Instrumententasche ab, seine Frau stand in der Tür, die Männer nahmen ihn in die Mitte. Ich nehme meinen eigenen Wagen, sagte der Doktor. Er rechnete damit, dass sich alles schnell klären würde, ein Missverständnis. Er fuhr also im eigenen Wagen zum Biesdorfer Polizeiposten, hinter sich die Sicherheitsleute. Auf dem Revier wurde er gebeten, Platz zu nehmen. Das war das letzte Mal, dass man ihn sah. Der Doktor wurde in die SA-Kaserne in der General-Pape-Straße gebracht und die Treppe zu einem Keller hinuntergestoßen, in dem sich Zellen befanden, ein SA-Mann schlug ihm mit der Faust ins Gesicht, er fiel zu Boden, die Misshandlungen gingen die ganze Nacht weiter, bis man den Schwerverletzten gegen Morgen in eine andere Zelle brachte, in der auf dem nackten Betonboden ein Mann lag, Fritz Fränkel, ebenfalls Arzt, mit psychologischer Praxis im bürgerlichen Wilmersdorf, auch ihn hatte man die ganze Nacht mit Lederpeitschen und Gummiknüppeln traktiert. Doktor Philippsthal verlor immer wieder das Bewusstsein, Fränkel musste ihn untersuchen, nachdem die SA-Schergen Eiswasser über den blutenden Körper gegossen hatten. Am nächsten Tag, es war der 22. März, wurde Arno Philippsthal halbtot ins Urban-Krankenhaus eingeliefert, sein Mithäftling Fritz Fränkel entkam noch am selben Tag in die Schweiz, nachdem er sich schriftlich verpflichtet hatte, Deutschland für immer zu verlassen. Vier Tage später brachten sie den Biesdorfer Arzt zurück in den Keller, wo die Torturen fortgesetzt wurden. Er konnte nicht mehr allein gehen und hatte am ganzen Körper Wunden, als er sechs Tage später ins Polizeikrankenhaus eingeliefert wurde. Arno Philippsthal starb am Morgen des 3. April 1933.

Und Esther? Eines Morgens sei sie nicht mehr gekommen, hast du erzählt, das war alles, sie kam einfach nicht mehr zur Schule, mehr war aus dir nicht herauszubringen. Vielleicht ist es dein Schicksal, im Augenblick zu leben, sage ich, deiner Erinnerungen beraubt, dieser vollkommen nutzlosen Erinnerungen. Damit du Esther vergessen konntest und den Tag, an dem sie nicht mehr zur Schule kam, sodass der Zustand der Auslöschung, in dem du dich seit zwei Jahren befindest, vielleicht nur die äußere Form eines Verstummens ist, das schon viel früher angefangen hat, lange vor meiner Zeit.

Ich komme vom Einkaufen zurück, du liegst noch im Bett, mit rotgefrorenen Händen streife ich über deinen mageren Unterarm, du machst Huch und verziehst den Mund zu einem lustigen Grinsen.

Draußen schneit und friert es, sage ich, richtiges Schneetreiben heute.

Wirklich? fragst du und ziehst komisch den Kopf ein. Sie wird wieder sprechen lernen, denke ich erfreut, das ist ein gutes Zeichen.

Du greifst nach meiner eiskalten Hand, drückst sie an die Lippen und ziehst sie unter die Decke an deine Brust.

Auf dem Foto, das auf deinem Nachttisch steht, sieht man eine Gruppe von zehn, fünfzehn Menschen verschiedenen Alters vor einem niedrigen Häuschen stehen, sie lächeln, es ist diese Art von Lächeln, wie es Leuten in den Fotoateliers aufgesetzt wird, ein etwas verlegenes, pflichtgemäßes Lächeln, das Foto muss ungefähr 1936 in der Siedlung am östlichen Stadtrand aufgenommen worden sein, in der du geboren bist, du sitzt vorn in der ersten Reihe und blickst launisch schmollend direkt in die Kamera, hinter dir, ziemlich genau in der Bildmitte ein etwa vierzehnjähriger Junge mit abstehenden Ohren, ein Blumensträußchen am Revers seines dunklen Anzugs, wahrscheinlich dein jüngerer Bruder am Tag seiner Konfirmation, sage ich. Großmutter steht links am Rand in einem festlichen Kleid mit kleinem weißem Kragen, leicht wie eine Feder, hinter ihr ein Mann mit abstehenden Ohren, daneben eine ältere Frau mit rundem Gesicht, sie hat sich bei einem schlanken Mann untergehakt, in der hinteren Reihe ein Mann mit Halbglatze in den Vierzigern, eine alte Frau mit eingesunkenen Augen, fast verdeckt von einer anderen mit bäuerlich groben Zügen, und rechts am Rand der Gruppe mein unbekannter Großvater, ein schlanker, freundlicher Mann um die vierzig, leicht auf einen Stock gestützt, er starb in dem Winter vor meiner Geburt. Offensichtlich handelt es sich um eine Familienfeier, diese Menschen da sind deine und meine Familie, sage ich, aber nirgends erkenne ich etwas wie Ähnlichkeit, für mich sind es Fremde, ich kenne nicht einmal mehr ihre Namen, ihre Gesichter sagen mir nichts, und wozu auch, wir waren eine ganz normale deutsche Familie. Soviel ich weiß, war niemand Nazi, niemand wurde verhaftet oder deportiert, bei uns gab es weder Juden noch Kommunisten. Alle Familienfotos sehen sich sowieso zum Verwechseln ähnlich, alle Hochzeits- und Konfirmationsbilder, alle Kinderfotos, alle Urlaubsschnappschüsse, ebenso gut könnte ich in einem der Fotoalben auf dem Flohmarkt blättern. Die große Geschichte, die Geschichte der Kriege und der Straßenschlachten, der Gefängnisse und der Irrenanstalten, der Todeslager und der Gettos bleibt darauf unsichtbar, denn mit jeder Generation fing immer wieder alles von vorn an, wie oft auch die politischen Zeiten sich änderten. Und als nach dem Kaiser die Republik und nach der Republik das tausendjährige Reich und auf den braun angestrichenen Sozialismus der rote Sozialismus folgte, nahmen unsere Leute davon wenig Notiz, solange sie nur genug zu essen für sich und ihre Kinder und ein friedliches Dach über dem Kopf hatten, wie sie dann schließlich auch von ihrem eigenen Schwächerwerden wenig Aufhebens machten, bis sie eines Tages spurlos von der Erde verschwanden. Nichts wurde aufgeschrieben oder aufgehoben, keine Briefe, Tagebücher, nicht einmal Geburts- oder Heiratsurkunden. Offenbar gab es in ihren kleinen Leben nichts, das die Mühe wert gewesen wäre, und so wurden sie vergessen, wie sie selbst vergessen hatten.

Und trotzdem, sage ich, bestehen die meisten von uns auf unseren ganz persönlichen, einzigartigen Erinnerungen; wir wollen nicht untergehen in diesem Meer aus Zeit, das uns jeden Augenblick von allen Seiten umflutet, denn unter der verborgenen Tiefe brodelt das Schweigen, das Unausgesprochene und Unbewusste, und eines schönen Tages könnte es uns passieren, dass die vielen verstreuten Erinnerungen ans Licht der Gegenwart drängen, die Schädelkapsel ihrer Besitzer durchbrechen und sich anderer, fremder Gehirne bedienen, um sich wie ein Magmastrom aus einer unterirdischen Plume über die ganze Erde zu verbreiten, und die Erinnerungen aller Menschen, die je auf ihr gelebt haben, werden sich in einem gewaltigen stream of conciousness auflösen wie Würfelzucker in einem Glas Tee.

Finis Germaniae

Hier ist das Ufer. Über mir der niedrige Himmel des Nordens. In langen Wellen bäumt sich das Land, schiebt drängt drückt der Bagger den Leib der Erde, weit und breit nichts als Sand, roter gelber brauner Sand, der in den Augen brennt und zwischen den Zähnen knirscht, wie ein Sandwurm winde ich mich durch Sedimentschichten, die das pleistozäne Eis zurückgelassen hat, mein stratigrafischer Körper wächst rückwärts durch Raum und Zeit, auf der Suche nach den unterirdischen Wäldern tauche ich auf den Grund des Jetzt, an der Grenze zum Neogen stößt mein Fuß an grobe Flusskiesel, das muss schon das Miozän sein, das Meer ist zurückgekommen, Farnwedel winken mir zu, wagenradgroße Ammoniten schweben traumverloren vorbei, Knochenfische grasen in den Seelilienwäldern, in meinem Rücken versinkt die schwarze Sonne des Holozän, Kinder, wie die Zeit vergeht, zwölf Millionen Jahre bin ich schon unterwegs, wie tief muss man steigen, um sich selbst auf den Grund zu kommen, wenn da immer noch eine und noch eine Zeit ist, dieser ewige Wechsel von Eiszeiten und Warmzeiten, Überflutungen und Dürren ist auf die Dauer ermüdend, ich sehne mich nach den heißen Sommern des Anthropozän, du musst dich entscheiden, sagt das Kind, wie der Wind nicht von Westen und von Osten zugleich weht, so kann niemand in zwei Zeiten leben.

Es ist Mai, ein durchscheinendes Grün flirrt in den Bäumen, in den Liegestühlen am Berliner Wannsee halten ein paar ganz Mutige ihre Gesichter in die Sonne, die Zufahrtsstraßen zur Reichshauptstadt sind verstopft, pausenlos rollen Militärkonvois in die Stadt, Soldaten sitzen auf den offenen Ladeflächen, viele lächeln und winken, denn sie leben. Ernst wie ein künstliches Altertum streben die Säulen des eingestürzten Reichstags in den Himmel, die nichts zu tragen haben als ein paar Kubikmeter Luft; über dem Portal der Reichskanzlei hängt gefährlich schief der preußische Adler, das Hakenkreuz in den Krallen, und über den Ruinen ein gleichgültiger Himmel.

Zunächst hatte es so ausgesehen, als wäre nur ein Krieg verloren, nicht das Reich. Der deutsche Reichskadaver zuckt im Phantomschmerz, seine ausgebluteten Provinzen sind eine nach der andern von ihm abgefallen, Elsass, Lothringen, das Saarland, Schlesien, Ostpreußen. In panischer Flucht vor der vorrückenden Roten Armee ziehen die Karawanen aus dem Osten über die Landstraßen des Reichs, hochbeladene Pferdewagen, die von Menschen gezogen werden, Ochsengespanne und Handkarren. Nur oben im Norden streckt die mörderische Krake noch ihre Tentakeln aus. Wie Ratten kriechen sie aus ihren Löchern, KZ-Kommandanten, Sturmbannführer, Reichsärzte, SS-Generäle pressen ihre im Dienst fettgewordenen Altmännerärsche in Wehrmachtsuniformen, die noch nach Kampfer riechen, um sich im Schutz der Dunkelheit zur dänischen Grenze durchzuschlagen und die letzten freien Überseehäfen in Norwegen zu erreichen, vorbei an den britischen Posten, bei denen sie sich mit gefälschten Kennkarten als einfache Landser ausweisen, ausgestellt in der Sonderzone Mürwik.

Seit Wochen ankert der Kraft-durch-Freude-Dampfer Rheinfels mit eintausendsechshundert von der Gestapo verschleppten KZ-Häftlingen im Flensburger Hafen, bewacht von einhundert SS-Männern. Am Strand von Fahrensodde treiben Leichen im flachen Wasser, von Stutthof sind sie herübergetrieben worden, gut zu erkennen in ihren gestreiften Lagerjacken. Es nieselt leicht, die Wolkenbäuche hängen tief über diesem Drecksloch von Landschaft, wo Kühe zwischen Flugzeugen grasen, als ein paar Tage vor Pfingsten ein Mann in Wehrmachtsuniform quer über einen Acker durch den Modder eilt, gut sichtbar vor dem flachen Horizont, während ein anderer Mann in derselben Uniform, bloß ein paar Kilometer weiter südlich und in entgegengesetzter Richtung, dasselbe tut. Die Männer sind ungefähr im selben Alter, um die fünfzig, Brillenträger. Der eine, ein gewisser Heinrich Hitzinger, den Kragenspiegeln nach Unterscharführer der Geheimen Feldpolizei, wird am Pfingstsonntag von einem britischen Posten aufgegriffen und zur alliierten Kommandantur nach Lüneburg gebracht. Für den andern, ehemals Buchhalter bei Orenstein & Koppel und vor einer Woche noch Obergefreiter und Hilfskoch in einem dänischen Polizeigefangenenlager, ist der Krieg auch ohne Kapitulationsurkunde vorbei. Bloß nicht sich jetzt noch erwischen lassen in diesem allgemeinen Tohuwabohu, also nimmt er die Beine in die Hand und nichts wie ab durch die Mitte, Heidewitzka, Herr Kapitän, und wie sich also der eine, dieser Hitzinger mit den tadellos manikürten Fingernägeln, noch am selben Tag in seiner Lüneburger Zelle mittels einer Cyankalikapsel in die Hölle befördert, wo man ihn auf der Stelle als Reichsheini alias den schärfsten Bluthund des Führers, Judenschlächter von Europa, Reichsführer SS und Chef des Ersatzheers erkennt und mit einem groben Fußtritt weiterschickt zum Satan persönlich, taucht der andere leise pfeifend in einer Kiefernschonung unter. Um etliche Backenzähne, eine Niere, den halben Magen und etliche Illusionen über die menschliche Natur ärmer, klettert er ein paar Monate später in Hannover auf das mit Kriegsheimkehrern übervolle Dach eines Güterzugs und lässt sich mit steifen Gliedern, aber dafür gratis, am Berliner Nordbahnhof abliefern. Ich sehe ihn vor mir, den abgemagerten Endvierziger mit tief gekerbten Magenfalten und Geheimratsecken, ein bisschen kurzsichtig hinter der Wehrmachtsbrille, aber sonst gut im Schuss für sein Alter, ich sehe ihn vor mir, weil in seinen Adern Blut mit einer ähnlichen chemischen Zusammensetzung wie in meinen fließt, weil die Struktur seiner Aminosäuren wie ein langsamer Fluss durch viele Generationen bis zu mir getragen wurde. Ich sehe ihn, wie er durch die Stadt irrt, die er nach sechs Kriegsjahren nicht wiedererkennt und ich weiß, als er in einem der südöstlichen Vororte die Straße mit dem Kopfsteinpflaster erreicht hat, an deren Ende sein Reichsheimstättenhäuschen zwischen mageren Rotdornbäumchen steht, unversehrt und einladend mit seinen grünen Fensterläden, dass da niemand auf ihn wartet.

Doch zunächst ist es immer noch Mai, klar und kalt zieht die Morgendämmerung auf, im Treptower Park leuchten Tulpen, Spatzen lärmen im Flieder, zwischen Brandnestern flattert Wäsche, Fliegen summen in der milden Luft, fette, schillernde Fliegen, denn es sind noch nicht alle Toten begraben. In den Bombentrichtern der Reichshauptstadt biegen sich junge Birken, der Wind weht sommerlich heiß, er bringt Staub, überall nichts als feiner Sand und Staub, zerriebene Materie, in der Luft, auf dem Asphalt, Staub legt sich auf Wimpern und Haare, dringt in die Schleimhäute, pudert das Gras, das aus den Ritzen der Steine drängt, nach den letzten starken Nachtfrösten brennt die Sonne aus einem wolkenlosem Himmel, an den Rändern der Bombenkrater blühen wie eiternde Wundränder Polster von Löwenzahn und Narzissen, Bienen summen, Wespen und Hummeln schwärmen aus. Immerhin, es ist noch Leben in diesem stumpfsinnigen Schutthaufen, aus den Sandkratern quellen Büschel von Melde, Boretsch, Scharbockskraut, was Mensch ist, hat sich unter die Erde zurückgezogen, in die Katakomben unter den Ruinen, in die Bunker, Stollen, Keller, Tunnel unter der zerstörten Stadt. Praktisch denken, Särge schenken, sagt man in Berlin. Über der flachen Silhouette lastet steinerne Stille, Kaskaden aus rötlichen Ziegeln stürzen wie Brandung über aufgebogene Straßenbahnschienen, lecken in Wellen über das Kopfsteinpflaster, dazwischen bewegen sich die Stadtbewohner langsam wie auf Eisenschuhen, niemand beeilt sich, die zähe, menschenverschlingende Zeit ist zum Stehen gekommen, und über den lichtlosen Nächten wölbt sich ein sprachloses Nichts.

An einem sonnigen Vormitttag, drei Tage nach Pfingsten, verreckte im Hinterhof des örtlichen Polizeireviers in der Nähe des Ostseehafens Flensburg das Großdeutsche Reich, es verreckte an Blutverlust, an Fäulnis, an Atemnot, es verreckte an seinen Totengräbern, es verreckte unter der Last von fünfundfünfzig Millionen toten Körpern. Von tausend Jahren waren noch gut neunhundertachtundachtzig übrig, als an diesem Morgen drei Männer – der eine in Zivil, die anderen beiden in operettenhaften Uniformen – den staubigen Dorfanger der Sonderzone Mürwik überqueren. Sie klettern auf den bereitstehenden Lastwagen und klopfen sich den Staub von den Mänteln. Zwei Stunden später treten sie durch eine niedrige Tür in den Hof des Polizeigebäudes, wo sie von einer Armada aus Fotografen und Kamerateams erwartet werden. Der Großadmiral streift im Gehen seine Lederhandschuhe über und streicht mit der Rechten über die Aufschläge seines Generalsmantels, der Generalmajor zupft an seinen Manschetten, nur der Minister, als Einziger barhäuptig, blickt routiniert in die Kameras. Mit der steifen Würde einer Feuerwehrkapelle, die Hände auf den Rücken, schreiten Speer, Dönitz und Jodl unter dem Blitzlichtgewitter der Weltöffentlichkeit mehrmals das Hofgeviert ab, bis alle Kameras den Moment festgehalten haben, in dem die geschäftsführende deutsche Reichsregierung von der Hinterbühne der Weltgeschichte abtritt. Ende der Vorstellung. Das letzte Stück eine billige Burleske, dilettantisch wie die Generalprobe eines Amateurtheaters.

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