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Das Loch

Du musst alles vergessen, so war es doch, aber ich bin zurückgekommen, ich sitze am Abhang und starre in das Loch, durch die klare Herbstluft dringt das monotone Brummen starker Motoren, in konzentrischen Halbkreisen arbeitet sich der Bagger durch das Gelände, dreihundertvierzig Meter unter mir öffnet sich der Schlund der Zeit, Menschenzeit, Allerweltzeit, Niemandszeit, ein Meer aus Zeit, von Vergessen durchpflügt. Gierig schlagen die Schaufelzähne in das lockere Sediment, Kratzspuren, Schürfwunden, Zeitfalten hinterlassend, kilometerweit transportieren die Förderbänder den Abraum der Zeit zu den Absetzern, verlorene Zeit, überflüssige Zeit. Mitgerissen von der sanften Krümmung der Erde, klettern die Augen über die Terrassenhänge zu den schneeweißen Wolken über den Kühltürmen von Weisweiler. Wenn ich lange genug auf diese künstlichen Kumuli starre, die träge über den Novemberhimmel treiben, steigt vor mir eine andere, imaginäre, nein, ganz und gar reale Landschaft auf, eine Komplementärwelt, der Himmel ein tiefblaues Meer, die Wolken schwimmende Eisberge, Eisschollen treiben gemächlich zum Horizont, so weit der Blick reicht, die perfekte Täuschung, die Verwandlung der Welt in ihre Gegenwelt, Trompe-l’œil, die Krümmung des Raums zur Linse, durch die aus der ersten eine zweite Welt ersteht. Ich stürze mich in die Tiefe, über mir schlagen die Wellen der Luft zusammen wie das kühlende Dach eines Laubwalds an einem windigen Sommertag, rückwärts durch das Zeitmeer rutsche ich durch Keuper Hauptkies Rotton Bundsandstein Muschelkalk dem Grund entgegen, geschichtete Zeit, zwölf Millionen Jahre wie im Flug. Ein leises Knarren und Ächzen liegt in der Luft, ein Rauschen wie von starken Dieselmotoren, sonst ist es still, so still, dass ich mein Herz klopfen höre. Aber es ist nicht mein Herz, es ist der Flügelschlag der Ewigkeit.

Falls es ihn wirklich gibt, diesen Ort, sage ich, den die Dichter die Heimat der Seele nennen, diesen Sehnsuchtsort im Rücken der Zukunft, dann habe ich ihn jedenfalls nicht gefunden auf meiner Winterreise, an jenem verregneten Dreikönigstag des Jahres Neunzehnneunundachtzig. Dieses Überall und Nirgends der Morgenlandfahrer, das Einswerden aller Zeiten, für mich ist es verloren. So oft ich zurückdenke an meine Kinderjahre, ist da ein großes Nichts. Es gibt mich nur in der Gegenwartsform, im ewigen Präsens des Hier und Jetzt. Zwischen der Vergangenheit und mir klafft ein Loch, durch das meine Jahre davonschwimmen wie langsame Schiffe, beladen mit namenlosen Gesichtern und Stimmen, mit unbekannten Städten und fremden Zimmern.

Nebenan ist alles still. Ich stehe am Fenster. Durch das Fenster scheint eine schöne weiße Spätwintersonne, ich könnte spazierengehn. Die Dächer sind mit dicken Schneepolstern bedeckt, die über die Regenrinnen hängen und geräuschvoll abstürzen. Ich zucke jedesmal zusammen, aber ich bleibe sitzen, an meinen Schreibplatz vor dem Fenster, und sehe dem Tag beim Sterben zu.

Man muss zweimal an einen Ort gekommen sein, hat Marina Zwetajewa irgendwo geschrieben, das erste Mal, um wegzugehen, und noch einmal, um Abschied nehmen zu können. Noch einmal also, sage ich, ein halbes Menschenalter später, noch einmal mit der deutschen Bahn, noch einmal vom Bahnhof Friedrichstraße, wenn auch dieses Mal ohne Herzklopfen, ohne den blauen DDR-Pass und ohne die argwöhnischen Blicke der Zöllner, noch einmal für höchstens vierundzwanzig Stunden und keine mehr, nicht um zu bleiben nämlich, sondern: noch einmal, nur anders. Schließlich waren die Zeiten von Grund auf andere geworden, die Mauer war weg, die DDR war weg, ihre Denkmale geschleift, ihre Regierung vertrieben, ihre Machthaber vor Gericht gezerrt oder ins Gefängnis geworfen worden, ihre Insignien entweiht, ihre Prunkgebäude abgerissen, ihre Straßen und Plätze umbenannt, als sollte den Bürgern dieses gleichsam über Nacht verschwundenen Staates jeder Anhaltspunkt genommen werden, an dem ihre Erinnerungen haften könnten, vierzig Jahre ausgelöscht, verflucht im Gedächtnis der Nachkommen, damnatio memoriae, wie die alten Römer das nannten.

Die Sonne strahlte golden aus einem tiefblauen Himmel, als die Rezeptionistin im Arnoldshof mir den Zimmerschlüssel in die Hand drückte und mit slawischem Akzent zu verstehen gab, dass das Restaurant in der Wintersaison geschlossen sei. Auf dem Gang war niemand zu sehen, wer verirrte sich auch im November in diesen gottverlassenen Winkel der Bucht. Ich stellte meine Tasche ab, schob die Gardine zur Seite, warf einen Blick auf den Hotelparkplatz, wusch mir das Gesicht mit kaltem Wasser, ich tat alles genau so wie damals im Rheinischen Hof, als könnte durch die Wiederholung der abgerissene Lebensfaden zurück ins Gewebe der Zeit geschoben werden. Das Hotel befand sich an der Peripherie der Stadt, mitten in einem kleinen Dorf, das schon vor Jahren nach E. eingemeindet worden war. Ich beschloss, unterwegs zur Hauptstraße den Umweg über den Tagebau Hambach nehmen, der hier ganz in der Nähe sein musste. Es war sommerlich warm, viel Zeit blieb nicht, in dieser Jahreszeit ging die Sonne früh unter. Ein Hinweisschild behauptete, bis zum Grubenrand seien es nur noch anderthalb Kilometer. Hinter der kleinen weißen Dorfkirche lagen rechts und links Stoppelfelder, ich schwitzte, ich spürte das Gewicht des Körpers in den federnden Kniegelenken, das gleichmäßige Strömen des Bluts durch die erwärmten Muskeln, und trotzdem war in diesem Gehen etwas Stolperndes, eine seltsame Unsicherheit, die mich zwang, alle hundert Meter stehenzubleiben, sodass es für andere so aussehen musste, als betrachtete ich etwas am Feldrand, dabei sah ich angestrengt in mich hinein. Ob noch alles stimmte mit mir. Aber es stimmte natürlich schon lange nichts mehr. Was hätte ich sonst hier zu suchen gehabt, eine Schiffbrüchige, angespült in dieser Bucht am Rand der Nordeifel unter der glühenden Sonne des Klimawandels. Ich zog den Wintermantel aus und hängte ihn über die Schultern; beim Gehen rutschte er immer wieder herunter und landete im Straßenstaub, der feinpulverig und schmierig wie Lehm war.

Nach zwanzig Minuten endete die Straße an einem leeren Waldparkplatz. Eine Treppe führte über eine steile Böschung zu einer Aussichtsplattform. Ich stieg hinauf, und da war es. Das Loch. Ein gigantischer Trichter, dessen terrassenförmige Abhänge in allen Schattierungen von Ocker bis Saharagelb, Orange und Schiefergrau im Mittagslicht leuchteten. In regelmäßigen Abständen säumten grüne Kästen zwischen Bäumen und Sträuchern den Rand der Böschung, Hagebutten glänzten im staubigen Grün, leichter Wind wie am Meer raschelte in den welken Blättern. Am linken Grubenrand unterbrach ein bewaldeter Buckel die schnurgerade Horizontlinie, über der sich in makellosem Azur die gläserne Kuppel des Himmels wölbte, nur hier und da eingedrückt von den weißen Kuben der Kühltürme. Die andere Seite lag unter einer milchigen Dunstglocke, unter der sich das Ende des Lochs in der Ferne verlor. Auf den höher gelegenen Sohlen des terrassenförmig abfallenden Abhangs bewegten sich ameisenkleine Lastkraftwagen, und ganz unten, auf der tiefsten Sohle gerade noch erkennbar, stand klein wie ein Spielzeug der größte Bagger der Welt.

Mit ruhiger Präzision hebt und senkt sich die Bettdecke über deiner Brust. Frisch gewaschen, eingecremt und nach Pfefferminz und Veilchen duftend liegst du mit offenen Augen im Bett und greifst ängstlich nach meiner Hand. Schlaf schön weiter, sage ich und suche in meinem Gedächtnis, ob dieses maskenhafte Gesicht mit den steilen Jochbögen und der spitzen weißen Nase mich an jemand oder etwas erinnert. Wir spielen das alte Mutterkindspiel, aber die Rollen sind vertauscht, Anfang und Ende schließen sich zum Kreis. Der Tod, höre ich mich denken, wäre Erlösung. Aber deine vom Schlaf leicht geröteten Wangen sagen etwas anderes.

Wann hat das eigentlich angefangen, sage ich, dieses Abbaggern von Gegend, Garzweiler, Inden, Erkelenz, Hambach, Hürth, Kerpen, was weiß ich, diese chirurgische Operation an einer ganzen Landschaft, ausgeführt mit der kalten Präzision des Pathologen, tief im Westen, wo die Sonne verstaubt, wo noch vor fünfzig Jahren das Herz der alten Bundesrepublik schlug, diese alte europäische Kulturlandschaft zwischen Rhein und Maas im ökologischen Exitus, warum war mir das denn nicht schon bei beim ersten Mal aufgefallen, kein Baum und kein Strauch kilometerweit, diese flache Horizontlinie, wie das Kardiogramm eines Sterbenden auf einer Intensivstation, uralte Dörfer, die vor über tausend Jahren als Rodungsinseln in dem riesigen Wald zwischen Köln und Aachen gegründet wurden, Geiseln der Energiewirtschaft, die nun eines nach dem andern der Vorfeldräumung weichen mussten, wie das auf der Internetseite in Konzernsprache hieß, verschwunden in dem großen Loch. Ziehe durch, ziehe durch, durch die goldne Brücke, der erste nicht, der zweite nicht, der dritte muss gefangen sein. Entweihte Kirchen, abgeholzte Wälder, alte Handelsstraßen, die in diesem gigantischen Krater endeten, verändert bis auf den Grund diese Landschaft, in die ich nach drei Jahrzehnten, nein, nicht zurückgekehrt war, man kann nur zu etwas zurückkehren, das man kennt, sondern eben: noch einmal gekommen. Bis zur Unkenntlichkeit verformt die Bucht mit ihren alten Maiglöckchenwäldern und fruchtbaren Feldern und Weiden, mit Apfelbaumalleen und Dorfweihern, die ich all die Jahre im Kopf mit mir herumgetragen hatte in Ermangelung von etwas, das man wohl Heimat nennt.

Aber war denn sie, sage ich, die ostwestliche Reisende auf ihrem Aussichtspunkt dreihundertvierzig Meter über dem Abgrund, noch dieselbe Person wie damals auf ihrer Winterreise, und musste sie nicht genau in diesem Moment, bei ihrer zweiten Ankunft, und zwar zu ihrer eigenen Überraschung, feststellen, dass nicht nur sie es war, die sich verändert hatte, sondern genauso und noch mehr diese uralte Landschaft mit ihren Dorfangern und Löschteichen und Rübenäckern? Keine Rückkehr also, das war es nicht, aber was war es dann, sage ich, das mich an diesem sommerlich heißen Novembertag noch einmal in die alte Heimat verschlagen hatte. Ein Abschied hatte es werden sollen, ein Lebewohl, stattdessen war da jetzt dieses Loch, der Fußabdruck eines gigantischen Raubtiers, sechs Kilometer breit, acht Kilometer lang, fast vierhundert Meter tief, sodass es also diesen Ort nun zweimal gab, als Erinnerung und als Un-Ort. Was ich verloren hatte, war unwiderleglich und für immer als Verlust sichtbar, war Landschaft geworden.

Wabi-Sabi

Es ist kühler geworden, die Schatten verdichten sich, immer tiefer sinke falle stürze ich hinab, zum Ursprung der Wörter, ich bin zurückgekommen, aus meinem verschwundenen Land in die missglückte Heimat, doch wie weit ich auch komme, steht mir das Kind im Weg, das nach sich fragt, das vergessene Kind, zwischen der Erinnerung und dem Text, der ihm nachruft, mäandernd zwischen dem Körper der Schrift und dem Begehren nach einer lebendigen Berührung, rückwärts durch die Zeit graviere ich mich in die Haut der Erde, ich bin noch nicht geboren, nichts deutet auf einen Ursprung oder Anfang, ich bin das ungeborene Kind, das Kind ohne Vergangenheit und ohne Zukunft, das vergessene Kind, auf seinem Fahrrad biegt es Richtung Angelsdorf ab, hinter den letzten Häusern springt es vom Rad, wirft die Sandalen in den Sand, rennt barfuß übers Feld, die Halme pieken, sie bohren sich schmerzhaft in die Fußsohlen, es ist schön, auf dem Heuturm zu sitzen und den Schmerz zu fühlen und die Hitze auf der Haut, und unter sich die goldglänzenden Stoppeln zu betrachten und über dem Wald der Wolkenatem der Kühltürme, du darfst vergessen, sagt das Kind, du bist nicht wirklich hier, ich erinnere mich an alles, ich bin, die du nie warst, ich bin der Text, der sich selber schreibt, ich schreibe mit kölnischem Umbra, mit meiner Kopfschrift Gedankenschrift Wolkenschrift schreibe ich an gegen die Diktatur der Zeit.

Hier ist die Grenze, das känozoische Ufer des Jetzt.

Eine dicke Stubenfliege taumelt seit Stunden im Kreisflug um die Deckenlampe, rast steil hinauf, stößt sich an Fensterleibungen, Schränken, Glasscheiben, ruht für Minuten aus, um erneut aufzusteigen, ich gehe in die Küche, um ein Stück Würfelzucker zu holen; früher sollen die Bauern auf diese Art ihre Fliegen durch den Winter gebracht haben. Es ist kein Würfelzucker da, also streue ich etwas losen Zucker auf die Untertasse und nehme noch zwei Stück weißen Kandis mit. Als ich zurück in dein Zimmer komme, ist alles ruhig. Von der Fliege keine Spur. Ich frage mich, ob sie von draußen kam oder schon den ganzen Winter, in einem Fensterspalt versteckt, mit uns gelebt hat. Die milde Luft irritiert sie vielleicht. Seit Tagen fliegen Wildgänse in Formationen über das Haus, eigentlich Zeichen des nahenden Frühlings. Aber der Wetterbericht sagt für das Wochenende die nächste Kälte voraus.

Im Grunde liegt mir nicht viel an Erinnerungen, sage ich, aber ich hänge an alten Sachen, ich hebe alles auf, in Kästen und Kartons türmt sich der Abraum meiner Lebenszeit über- und durcheinander, Hotelservietten aus Paris, München, Rom, Zeichnungen meiner Kinder, handgeschriebene Bahnfahrkarten, Theaterprogramme; Briefe Geliebter und Verstorbener. Oft träume ich von verlassenen Häusern, in einem davon gibt es ein Zimmer, das die Form eines U hat und sich fast um das ganze Haus zieht, mehr ein breiter Gang mit Fenstern als ein Zimmer. Ich gehe darin herum und sehe alles an wie eine Museumsbesucherin, alte Fotografien in kostbaren Rahmen, Porzellanfiguren, bestickte Kissen aus dunkelrotem Samt mit gelben Troddeln, dazwischen liegen Kleidungsstücke unordentlich verstreut herum, auf dem Tisch eine aufgerissene Kekspackung, so als hätten die Bewohner das Zimmer nur kurz verlassen. Durch eines der Fenster sehe ich auf eine Wiese mit Wäschetrockenplatz und einem kleinen Stallgebäude, davor steht eine Bank, auf der Bank sitzt ein alter Mann in einem rosa Hemd und raucht, den Blick versonnen in die Landschaft gerichtet, ringsum erstrecken sich blühende Wiesen, begrenzt von einem dunklen Waldsaum. Ich benutze das Zimmer nicht, mir genügt zu wissen, dass es da ist, seit Jahren unverändert, wie meine Vorgänger es verlassen haben. An einer der Wände hängen Uhren, viele Uhren in verschiedenen Formen und Größen; alle Zeiger stehen auf viertel nach neun, jedesmal, wenn ich von diesem Zimmer träume, zeigen alle Uhren exakt dieselbe Zeit an.

Vielleicht trägt jeder in seinem Leben so ein leeres Zimmer mit sich herum, sage ich. Ich wünschte nur, eines der Häuser, in denen ich im Traum so oft herumgehe, hätte wenigstens einen Dachboden, mit staubigen Koffern und Truhen mit verrosteten Schlössern, in denen ich nach Herzenslust wühlen könnte zwischen nach Lavendel duftenden Briefpäckchen, die von blassblauen Schleifen zusammengehalten werden, verrosteten Orden, geheimnisvollen alten Büchern in dicken Ledereinbänden, vergilbten Briefen mit roten Wachssiegeln, aus der Mode gekommenen Frauenkleidern oder was man sonst so auf einem Dachboden zu finden hoffen kann, aussortierte Lebenszeit, schäbiges Inventar zu groß bemessener Lebenspläne, von Selbstmörderinnen und gescheiterten Dichtern zurückgelassen, von Mäusen zernagt, Wabi-sabi, als könnte eine geliehene Vergangenheit einen für ein schlechtes Gedächtnis entschädigen.

Wenn ich vorhin sagte, sage ich, dass mir nichts an meinen Erinnerungen liegt, stimmt das also nicht ganz. Ich wollte damit sagen: Erinnerungen können täuschen, sie sind alles andere als fälschungssicher, man kann ihnen nicht trauen. Manchmal mache ich mir sogar Sorgen, meine Erinnerungslosigkeit könnte das erste Anzeichen einer Krankheit sein, die irgendwann zum vollständigen Verlöschen des Ich führen wird. Sagt man nicht, die Identität einer Person beruhe auf ihren ganz unverwechselbaren, einmaligen, persönlichen Erinnerungen? Wie die meisten Menschen kann ich mir eine Welt ohne mich schwer vorstellen. Wir datieren den Anfang unseres Lebens auf den Tag unserer Geburt; was davor liegt, bleibt unscharf wie ein verwackeltes Foto. Wer sagt mir denn, dass die Bilder in meinem Kopf mein Eigentum sind und nicht einer Romanfigur oder einem mir vollkommen unbekannten Menschen gehören, der mich auf dem Bahnsteig einer fremden Stadt in ein Gespräch verwickelt hat – als wären Erinnerungen etwas, das den Besitzer wechseln kann wie eine stumpf gewordene Perlenkette oder eine alte Uhr. Wie vertrauenswürdig sind die Geschmackspapillen eines französischen Schriftstellers der vorletzten Jahrhundertwende, der aus den Molekülen einer in Lindenblütentee getauchten Madeleine, die ihm Maman abends vor dem Schlafengehen gereicht hat, das tausendseitige Epos seiner verlorenen Jugend generiert haben will, bis in alle Einzelheiten der Tapetenmuster und Plisseefalten raschelnder Damenkleider? Was mich betrifft, habe ich nie verstanden, wie man sich nach etwas sehnen kann, das so unwiederbringlich verloren ist wie die Kindheit; wir lassen sie hinter uns wie eine Larve, ein durchsichtiges Gespenstchen; der Mensch platzt aus seiner Raupenhaut und fertig. Wie oft im Leben ändern wir uns noch, man muss davon nicht viel Aufhebens machen. Jede glückliche Kindheit ist nur die millionste Wiederholung anderer glücklicher Kindheiten, jede unglückliche wiederum ist es wert, vergessen zu werden.

Was ist das überhaupt, Kindheit, dieses geheimnisvolle Land, in dem die Dinge noch keine Namen haben und die Welt nichts ist als reine, unbeschriebene Fläche, in die sich die Wasserzeichen eines Sommernachmittags eingelassen haben, flackernde Lichtflecken auf Ziegelmauern, schattige Obstgärten, Leuchtschrift einer ewigen Gegenwart, aus der wir abends im Bett, wenn sich das Klacken der Absätze verspäteter Passanten wellenförmig in den vor Müdigkeit brennenden Gliedern ausbreitete, geheimnisvolle Signale empfingen, Morsezeichen aus einem unbekannten Universum, dessen nächste Sterne noch Millionen Lichtjahre entfernt waren. Als gebe es kein Innen, sind die Segel des Bewusstseins noch nicht aufgespannt, unberührt von den Rückspiegeln der Erinnerung, noch nicht in die Zukunft gerissen von der Zugluft der Hoffnungen. Diese Lust, zurückzukehren in das Paradies der unschuldigen Wörter, sie ist mir fremd, dieses Begehren nach einem anderen Körper, nach einem Ich jenseits des Selbst, das nur eine andere Art von Selbstliebe zu sein scheint. Wer sich erinnert, ist beteiligt. Es gibt keine unschuldige Erinnerung, wie es kein Vergessen gibt ohne den verborgenen Wunsch zu vergessen.

Störungszone

Ein leises Zittern des Bodens, der Abhang beginnt zu schwingen, die Bucht senkt sich, bricht von den Rändern ein und zerspringt in die Erftscholle und die Kölner Scholle, die sich diagonal ineinander verkeilen, vom Vikinggraben bis ins Rhonetal reißt die Erde auf, solche Störungen ziehen sich als breite Bodenwellen oder Hochgebiete durch Europa, wie die Ville, die westlich von Köln zu den Tälern der Swist und Erft abfällt, kopfüber stürze ich in den Spalt, schmatzend rutschen die nachkommenden Zeitalter nach, wie Synkopen im Strom der Zeit queren Falten und Risse das feste Felsgestein, ziehen sich als Flexuren oder Scherzonen durch den sedimentären Untergrund und hinterlassen horizontale Verwerfungen, im Unterschied zu vertikalen Einbrüchen infolge plattentektonischer Spannungen im tieferliegenden Gestein. Das Zerbrechen und Einsinken der Landschaft entlang solcher Störungszonen versetzt den vortertiären Untergrund in Bewegung, ältere Gesteinsschichten werden, wie im Harz und im Erzgebirge, aus dem Untergrund heraufgewälzt und legen sich als Deckgebirge über die jüngeren, und wie sich der Druck von unten auf die auf dem Magma schwimmenden Platten in immer stärker anschwellenden Subduktionswellen als Dehnung und Kompression auf der Oberfläche des Planeten fortsetzt, wird die Erdkruste in ständiger Spannung gehalten, der Boden zittert und zuckt, der Erdmantel schwingt wie eine Glocke, und alle paar Millionen Jahre ändern sich die Schichtungen benachbarter Gesteine, werden Gebirge verformt und Berge verworfen, stürzen Steilufer, tauschen Land und Meer ihre Plätze.

Hagel, Regenschauer trieben über das Dorf, die Sonne brach für Minuten durch die gewaltig aufgetürmten Wolkenberge, als wir das letzte Mal zu Vaters Grab gingen. Auf dem letzten Stück Weg musstest du alle paar Meter stehen bleiben. Wir pflanzten Stiefmütter, die Luft war mild. Stiefmütter im Frühling, Petunien im Sommer, hast du gesagt, die halten am besten. Danach brachte ich dich zurück nachhause, in jedem Zimmer tickte und pochte irgendwas, außer im Badezimmer, du hast Kaffee gekocht, wir setzten uns an den Couchtisch und sprachen über dies und das, mit langen Pausen, in die mit ungeduldigem Stakkato das Ticken der großen Wanduhr einfiel.

Wir könnten nächste Woche an die Oder fahren, sagte ich, da wolltest du doch schon lange mal hin.

Ach ja, sagtest du matt und sahst still auf deine im Schoß gefalteten Hände, das wär schön.

Zum Rauchen ging ich in den Garten. Irgendwo gackerten Hühner. In jenem Frühling träumte ich oft von dir. In einem dieser Träume standen wir aneinandergedrängt in einem überfüllten Hochbahnzug, der in einen Tunnel einfuhr. In einem andern Traum zogst du eine Schublade der Schrankwand auf und holtest einen Stapel Aquarelle hervor, auf einem der Blätter war ein Mädchengesicht zu sehen, ein zarter, leicht geneigter Madonnenkopf und während ich es ansah, schlug es die Augen auf und ich sagte, dass es sehr lebendig gemalt sei.

Als das Taxi zwei Monate später vor dem Haupteingang der Universitätsklinik hielt, war es halb drei Uhr nachts. Die graue Stille in der verglasten Lobby mit den Riesentopfpalmen erinnerte mich an ein Filmset. Der Pförtner zeigte mit ausgestrecktem Arm, welchen Fahrstuhl ich nehmen solle. Wir können im Moment nichts tun, rief der Stationsarzt mir im Gehen über die Schulter zu. Mit großen Schritten eilte er durch den Flur, groß, jung und sportlich gebräunt wie einer, der die Wochenenden auf dem Segelboot verbringt. Über einer Tür leuchteten die Buchstaben STROKE UNIT. Bei diesem Krankheitsbild stehe die Schluckstörung, er gebrauchte einen lateinischen Ausdruck, im Vordergrund, man müsse abwarten, bis die Schwellung im Gehirn zurückgegangen sei.

Am nächsten Morgen steckten in deinen Nasenlöchern zwei durchsichtige Schläuche, die sich unter dem Kinn vereinigten und hinter dem Bett in einem Gefäß mit einer klaren Flüssigkeit endeten, die lautlos blubberte. Das andere Bett war leer und mit einer Zellophanhülle bedeckt. Dein Mund stand weit offen, der rechte Winkel war kinnwärts verzogen, die Unterlippe hing fleischig herab, sodass man die pelzige Schleimhaut sah. Zwischen Ober- und Unterlippe spannte sich ein Speichelfaden, der wie ein Spinnweb im Luftstrom des Atems flatterte. Das Laken war verrutscht, eine Matratze aus grünem Plastik sah hervor. Die luftgefüllten Kunststoffkammern wölbten sich mit der Präzision eines Uhrwerks. Hinter der angelehnten Tür näherte sich das Klappern von Essenwagen, Stimmen, Schritte, und entfernte sich wieder. Draußen zog eine Gewitterfront auf. Die Gardine bauschte sich in unregelmäßigen Windstößen. Die alten Bäume im Park schüttelten sich wie traurige Tiere. Ich schloss das Fenster. Zwischen dem fernen Rollen des Donners zog jedesmal eine kleine, zitternde Stille ein. Dein Atem ging jetzt schneller, stoßweise hob sich der weiße Brustansatz über dem mit kleinen blauen Häusern gemusterten Kittel. Du hattest die Augen zu, das rechte Bein war unbedeckt, die Haut bis hinauf zum hellblauen Rand der Windelhose glatt und sehr weiß, und ich starrte auf dieses Stück weißer Haut, Mutterhaut.

Jeden Tag kam ich für ein paar Stunden, setzte mich an dein Bett und überließ mich dem Rhythmus der atmenden Matratze, dein Zustand war unverändert. Am fünften Morgen war das zweite Bett belegt. Die andere Frau schlief. Sie atmete laut und regelmäßig wie eine Maschine, kurz Ein, lang Aus, dazwischen das leise Fauchen ihres Luftbettes. Wenn die beiden Pumpen ansprangen, war es wie das Schnurren von zwei schlafenden Katzen. Von irgendwo läuteten Kirchenglocken. Die beiden Matratzen hoben und senkten sich sanft, sie trugen die Sterbenden über den schwarzen Grund des Schlafs, der ohne Erwachen ist, genügsam, zuverlässig wie Maulesel. Wenn ich mich lange genug auf den Rhythmus konzentrierte, meinte ich zu spüren, wie sich unter uns die Erde senkte und hob, ein lebendiges, atmendes Wesen.

Der zehnte Tag. Ich beugte mich über dein wachsbleiches Gesicht, in dem die Haut faltenlos gespannt war wie eine Silikonmaske. Du warst ruhiger als an den Vortagen. Du schlugst die Augen auf. Große graugrüne Augen, die mich mit einem Ausdruck von Erstaunen anstarrten. Ich erstarrte unter diesem leeren Blick. Ich hatte vergessen, welche Farbe deine Augen haben. Ich griff nach deiner linken, gesunden Hand, sie entzog sich, du drehtest den Kopf weg. Über der Nasenwurzel erschien eine steile Furche.

Ist schon gut, sagte ich schnell und streichelte die rechte Hand, die blaugeädert auf der Bettdecke lag und sich gegen die Berührung nicht wehren konnte, schob meine Hand unter deinen Kopf, zog das Kopfkissen hervor und schüttelte es auf. Du ließest mich gewähren und schliefst wieder ein. Ich sah auf meine Armbanduhr. Siebzehn Uhr achtzehn. Im Zimmer waren mindestens dreißig Grad. Du warst eingeschlafen und schnarchtest leise. Das Gebläse sprang an. Vom Klappern der Essenwagen auf dem Gang wachtest du auf, der Unterkiefer klappte schmatzend zu. Als habe ein Traum dir Erkenntnis geschenkt, sahst du mich mit einem Anflug des Erkennens an. Durch die Kanüle in deinem Handrücken tropfte Nährlösung aus einem Plastikbeutel in die Vene.

Siebzehnuhrvierundzwanzig. Ich ging zum Schwesternzimmer, hinterließ meine Telefonnummer und sagte, man könne mich jederzeit anrufen, auch nachts. Die diensthabende Schwester hatte hennarote Haare, die am Scheitel grau nachwuchsen, und trug eine dunkel getönte Brille. Sie notierte es auf einem Zettel und sagte, sie werde es in der Krankenakte vermerken.

Anderntags war dein Zimmer leer. Einen harten Herzschlag lang empfand ich nichts. Man hatte dich auf eine andere Station verlegt, aber das Zimmer sah genauso aus wie das andere, ein Zweibettzimmer, aus dem das zweite Bett entfernt worden war. Dein Sterbezimmer, dachte ich sofort. Deine Augen waren weit aufgerissen, als blickten sie in eine furchtbare Ferne. Ich folgte deinem Blick. An der Decke flackerte ein stummgeschalteter Fernseher, in dem eine Nachmittags-Talkshow lief, dazwischen Auto- und Joghurtwerbung.

Über den endlosen Korridor stürmte ich zum Dienstzimmer. Die Schwestern saßen beim Kaffee. Als ich verlangte, dass der Fernseher ausgeschaltet wird, sahen sie mich mit einem Ausdruck von Hass an. Ich fuhr hinunter in die Lobby, um mich zu beruhigen. In der Cafeteria saßen fünf beleibte türkische Familienväter über fünf gewaltige, mit Schlagsahne gefüllte Windbeutel gebeugt. Zum Rauchen ging ich in den Park. Zwischen der Nierenstation und der orthopädischen Abteilung öffnete sich das Gelände in einen großen Garten, der von lindengesäumten Spazierwegen umgrenzt wurde. Großbürgerliche Backsteinvillen reihten sich, die Giebel zum Park ausgerichtet, mit weißen Säulen und verglasten Loggien, aus einem Rosenbeet stieg schwerer Duft auf, ein paar Schritte weiter lag in einem Rondell aus weißem Kies ein mattgrüner Teich, halb verdeckt von einem niedrigen Schilfstreifen. Ich setzte mich auf eine der weiß gestrichenen Bänke und betrachtete die Rosen, das Schilf, die Wolken aus grauer Seide, die sich am Himmel bauschten. Ein junges Paar setzte sich auf die Nebenbank, das Mädchen rittlings auf den Schoß des Jungen. Sie küssten sich, die Hand des Jungen fuhr langsam ihren Rücken hinunter in ihre Jeans. Das Mädchen warf mit beiden Händen ihre langen Haare in den Nacken und bog lachend den Oberkörper zurück. Der Junge drückte seinen Kopf gierig in die flache Mulde zwischen ihren Brüsten.

Auf dem Rückweg zur Station nahm ich den falschen Fahrstuhl und irrte durch Gänge, über Treppen. Die letzten Besucher waren gegangen. Die Türen standen offen, meine Augen streiften flüchtig über faltige Arme, Beine, nackte Bäuche, magere Schultern, knochige Rücken mit spitz hervorspringenden Wirbeln, entblößte Hintern. Das Fernsehgerät war ausgeschaltet. Deine Augen rollten unruhig unter halbgeschlossenen Lidern. Vielleicht träumt sie, dachte ich, vielleicht ist in ihrem Gehirn nicht alles dunkel. Ich versuchte zu lesen, aber es war zu heiß, die Wörter zerflossen gleich hinter den Augen.

Achtzehnuhrfünfunddreißig. Ein langer Seufzer entfuhr deiner Brust. Ich starrte mit angehaltenem Atem auf das Betttuch, bis mir schwindlig wurde. Das Gebläse sprang schnurrend an, die Matratze atmete ruhig und gleichmäßig. Zehn Sekunden, zwanzig, vierzig. Nach einer Ewigkeit hob sich deine Brust in kurzen, krampfhaften Stößen und förderte aus der Tiefe des Bauchs rettende Luft hervor, die Lunge fand in ihren Rhythmus zurück. Ich starrte noch immer abwechselnd auf meine Armbanduhr und das Laken, unter dem sich der magere Körper abzeichnete. Achtzehnuhrsechsunddreißig. Du schlugst die Augen auf und hobst den Kopf ruckhaft vom Kissen, mit diesem Ausdruck des Erstaunens, den ich schon kannte. Ich nahm einen Zellstofflappen und befeuchtete deine Lippen, die aus winzigen Rissen bluteten. Schlaf weiter, sagte ich, ich bin ja da. Du sankst gehorsam zurück und schliefst wieder ein, ich glaubte eine Art Lächeln, ein winziges spöttisches Aufwärtszittern der Mundwinkel zu erkennen. Ich lauschte dem leisen Gurgeln in der Luftröhre, bis die Nachtschwester den Kopf ins Zimmer schob und wusste doch, dass ich den Tod, wenn er anklopfte, nicht erkennen würde.

Nachdem man dich in eine Reha-Klinik verlegt hatte, fuhr ich jeden zweiten Tag mit dem Auto in den idyllischen Ort zwischen Seen und Wäldern. Manchmal ging ich vorher schwimmen. Vor dem Eingang der Klinik saßen die Rollstuhlfahrer und rauchten, einer hatte nur ein Bein, die meisten hatten ihren rechten oder linken Arm unbewegt vor sich auf den Oberschenkeln liegen. Einen Kinderlatz vorgebunden, das Gesicht mit Schokoladenpudding beschmiert, saßest du, mit schiefem Kopf zur Seite gesunken, in einem Faltrollstuhl. An manchen Tagen ließ man mich vor der Tür warten. In deinem Zimmer roch es schwach nach Exkrementen und Desinfektionsmitteln. Das Bett war jedesmal neu bezogen. Du bekamst die Erlaubnis zu kleinen Ausfahrten. Ich schob dich hinunter zur Cafeteria. Die Rückwand des Fahrstuhls war verspiegelt, nach einem flüchtigen Blick drücktest du mit den Fingerspitzen dein Haar hinter den Ohren zurecht, wie Doris Day in ihren besten Jahren, und ich fragte mich, ob die Person im Spiegel für dich wohl dieselbe sei, die ich sah. In der Cafeteria bestellte ich zwei Tassen Kaffee und ein Stück Sahnetorte. Mit großen Augen verfolgtest du jede meiner Bewegungen. Ich stellte das Tortenstück vor dich hin, mit großer Ruhe griff deine linke Hand nach dem Kaffeelöffel, drückte ihn geschickt in die Torte und ließ die weiche, süße Masse andächtig in deinem Mund verschwinden.

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9783751800204
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