Читать книгу: «Henkersmahl», страница 4

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»Tatsächlich? Ich freue mich für dich. Was denn?« Florians Augen weiteten sich. Er fand die Nachricht fantastisch. Seine Mutter hatte sich lange genug hauptsächlich mit ihrem Aussehen beschäftigt und war in den letzten Monaten mehr auf Filmbällen denn in Filmen zu sehen gewesen. Alternde Schauspielerinnen waren einfach nicht mehr so gefragt, auch wenn sie einmal große Stars gewesen waren.

»Einen Fernsehfilm«, antwortete Marie-Louise. »Ich spiele eine Ehefrau, die nach 20 Ehejahren feststellt, dass ihr Mann ein Verhältnis hat. Mit einem Mann.«

»Auch schön.« Florian legte sein Besteck auf den Teller und lehnte sich zurück. »Hast du das Gefühl, es könnte hilfreich sein, dass du als Ehefrau völlig unerfahren bist?« Die bissige Ironie seiner Frage war nicht zu überhören gewesen.

Marie-Louise drehte das Glas zwischen ihren Händen. »Ach was. Aber ich kann mir gut vorstellen, wie grässlich es sein muss, mit einem Mann zusammenzuwohnen.«

»Ja, du.« Florian machte eine wegwerfende Handbewegung und sagte: »Aber ich will mich nicht schon wieder aufregen.«

Seine Mutter hob den Kopf: »Das ist auch besser so.« Vorwurfsvoll fügte sie hinzu: »Wir haben das Thema doch schon 1.000 Mal diskutiert.«

»Trotzdem will ich wissen, wer mein Vater ist.« Florians Stimme war lauter geworden.

Marie-Louise sah ihn mit großen Augen an, schwieg aber einen Moment, bevor sie erwiderte: »Ich finde, wir sollten das Thema nun endlich ad acta legen.« Sie seufzte. »Wie oft soll ich dir noch sagen, dass die Romanze, die ich mit deinem Vater hatte, nur von kurzer Dauer war. Er war ein Frauenheld, unzuverlässig und nicht mal besonders klug.«

»Das hast du mir zigmal erzählt«, versetzte Florian.

»Du könntest ihn vermutlich nicht ausstehen«, sagte seine Mutter und ergänzte mit Nachdruck: »Ich bin davon überzeugt.«

»Mein Urteil über ihn würde ich mir gern selbst bilden. Ich hoffe, dass ich irgendwann noch einmal die Gelegenheit dazu haben werde.« Florian setzte das Glas an die Lippen und leerte es in einem Zug. Voller Unbehagen dachte er an das letzte Gespräch mit seiner Therapeutin, die er zweimal wöchentlich aufsuchte, seit Katharina ihn verlassen hatte. Beim letzten Gespräch hatte ihn die Ahnung erfasst, dass es einen Zusammenhang zwischen seiner Sehnsucht nach dem Vater und seiner Unfähigkeit, eine Beziehung zu führen, geben könnte. Florian runzelte die Stirn. Freitag hatte er den nächsten Termin.

»Mit der Tatsache, dass er dich gezeugt hat, hat er seine Vaterpflichten meines Erachtens ausreichend erfüllt, oder hast du ihn etwa vermisst?« Marie-Louises Augen sprühten Funken.

»Nicht oft. Aber hin und wieder habe ich mir auf jeden Fall einen Vater gewünscht«, sagte Florian. Er dachte an früher. Die Väter im Fernsehen hatten für ihre Söhne Seifenkisten gebaut, waren mit ihnen angeln gegangen oder hatten ihnen gezeigt, wie man einen Drachen steigen lässt. Dinge, die Florian mit der Mutter nicht machen konnte, denn sie war häufig wegen Dreharbeiten außer Haus gewesen. Außerdem kann eine Mutter einen Vater einfach nicht ersetzen, dachte er.

Anna kam herein und fragte, ob sie mit dem Essen fertig seien. Sie war nicht sehr erfreut darüber, dass so viel übrig geblieben war.

Florian war dankbar für die Unterbrechung, denn er merkte, dass das Thema ihm mehr unter die Haut ging, als ihm lieb war.

Als emanzipierte Frau hatte seine Mutter irgendwann einmal die Entscheidung getroffen, ein Kind in die Welt zu setzen und es allein großzuziehen. Sämtliche Erinnerungen an Florians Vater hatte sie vernichtet. Es existierten keine Fotos, und Marie-Louise erwähnte nicht einmal seinen Namen. Sie hatte damals noch am Anfang ihrer Schauspielerkarriere gestanden, verdiente aber bereits sehr gut und konnte es sich leisten, ihr Kind auch ohne die finanzielle Unterstützung eines Mannes aufzuziehen. Bald nachdem sie sich von Florians Vater getrennt hatte, hatte sie ihn vergessen, das behauptete sie jedenfalls, und Verehrer hatte sie immer mehr als genug. Ihre gesellschaftlichen Kontakte zogen sich nicht zuletzt deswegen bis heute quer durch die Republik.

Florian fühlte sich auf einmal müde. Ihm war längst klar, dass er bei seiner Mutter mit der Frage nach dem Vater auf Granit biss und ärgerte sich darüber, dass er es trotzdem immer wieder probierte. Wenn er wirklich etwas über ihn in Erfahrung bringen wollte, musste er sich schon etwas anderes einfallen lassen.

Florian seufzte und folgte seiner Mutter hinüber zur Couch. Im Hintergrund spielte leise Musik, ein Violinkonzert von Mendelssohn Bartholdy. Anna kam herein und brachte mit dem Espresso auch das Telefon. Sie hielt Florians Mutter, die fragend aufschaute, den Hörer hin. »Frau Kilian ist am Apparat. Sie sagt, es sei dringend.«

»Dann geben Sie mal her.« Marie-Louise Halstaff nahm, etwas unwillig über die Störung, den Hörer entgegen.

Florian war gerade im Begriff, ein Stückchen braunen Zucker in die Tasse zu geben und horchte nun auf. Normalerweise rief niemand mehr nach 22 Uhr bei seiner Mutter an. Sie hasste es, so spät gestört zu werden, und eigentlich musste dies doch ihrer besten Freundin in jedem Fall bekannt sein. Die beiden kannten sich aus der gemeinsamen Schulzeit. Was konnte so dringend sein, dass sie sich um kurz nach halb elf hier meldete?

»Oh Gott, das ist ja furchtbar«, hörte Florian seine Mutter sagen. Sie sah auf einmal sehr blass aus und starrte Florian mit schreckgeweiteten Augen an.

»Marianne, um Himmels willen, wie konnte das passieren? Das darf doch nicht wahr sein!«

Florian spürte, wie Angst in ihm hochkroch.

Seine Mutter sackte in sich zusammen. Sie hörte ihrer Freundin am anderen Ende der Leitung einen Moment zu, bevor sie entschied: »Ich komme zu dir. Sofort.« Marie-Louise Halstaff ließ den Hörer in ihren Schoß sinken und drückte langsam auf den Ausknopf. Sie sah Florian lange an und flüsterte: »Max ist tot.«

10

Florian konnte es nicht glauben, Max sollte tot sein? Sein Freund Max, den er von Kindesbeinen an kannte? Als seine Mutter ihm die Nachricht mitgeteilt hatte, fühlte er sich wie vor den Kopf gestoßen. Die Welt war versunken in einem dumpfen Strudel aus Blut, das sich mit Hochdruck durch seine Adern presste und an der Schläfe schmerzhaft zu pochen begann.

»Was ist passiert?« Er hatte seine Mutter entsetzt angestarrt, unfähig, auch nur einen einzigen klaren Gedanken zu fassen.

»Wissen die Ärzte auch noch nicht. Die Uniklinik hat bei Marianne angerufen.«

»Max? Tot? Max ist doch fit wie ein Turnschuh, das kann nicht sein.«

»Florian, es tut mir so leid. Es ist schrecklich.«

Marie-Louise war langsam von der Couch aufgestanden und hatte ihn zur Beruhigung tröstend in den Arm nehmen wollen, aber Florian konnte in diesem Moment keine Berührung ertragen, es war unmöglich. Er hatte sie schroff zurückgewiesen.

»Marianne braucht mich jetzt, ich fahre zu ihr«, hatte sie ihm nach einer hilflosen Pause mitgeteilt und mit hängenden Armen leise hinzugefügt: »Ich hoffe, du verstehst das.«

Er begleitete sie. Seine Mutter sah sehr blass aus, als sie im Taxi zu ihm sagte: »Den Sohn zu verlieren ist das Schlimmste, was ich mir vorstellen kann.« Dabei blickte sie angestrengt aus dem Fenster. Florian bemerkte, dass sie darum kämpfen musste, ihre Tränen zurückzuhalten. In diesem Augenblick kam er wieder zu sich. Bis zu diesem Moment hatte er sich wie in einem Kokon gefühlt, eingeschnürt in Sprachlosigkeit, die sich nun langsam auflöste. Wortlos legte er den Arm um die Schultern seiner Mutter und drückte sie sanft an sich.

Wie im Film liefen die Bilder vor seinem inneren Auge ab, und Florian wälzte sich in seinem Bett auf die andere Seite. Durch die Gardine, die er wie immer nicht ganz zugezogen hatte, fiel in einem schrägen Streifen helles Mondlicht. Florian atmete schwer. Er hatte den Eindruck, als habe sich langsam und hinterhältig eine Klammer um seine Brust gelegt, die ihm die Luft nahm. Er spürte, wie der Druck stärker und sein Atem flacher wurde. Mit einem Ruck setzte er sich auf, knipste die kleine Lampe an, die auf dem Fußboden neben seinem Bett stand und warf die Bettdecke zurück. Er zögerte kurz, doch dann stand er auf und ging hinüber zum Fenster. Die Holzdielen fühlten sich um diese Jahreszeit kalt an. Florian drehte die Heizung ein wenig auf, obwohl er Heizungsluft im Schlafzimmer eigentlich hasste, und zog die Gardine zurück. Sein Blick fiel auf die mächtige Kastanie, die seit mindestens 100 Jahren, wie der Hausmeister ihm erzählt hatte, im Hinterhof stand, und deren ausladende Äste sich ihm, wie es schien, vertrauensvoll entgegenreckten.

Florian dachte darüber nach, dass der Tod sie eines Tages alle erwischen würde, unwiderruflich. Den einen früher, den anderen später, und selbst die Kastanie würde daran glauben müssen. Vielleicht würde sie eingehen, weil eine Krankheit sie befallen hatte oder sie würde gefällt werden, weil ihr Laub von Jahr zu Jahr weniger Licht in die angrenzenden Wohnungen ließ und ihr Anblick den Bewohnern des Mietshauses lästig geworden war. Florian sah genauer hin, aber an den Ästen war keine Spur von Grün zu erkennen. Er hoffte, der Kastanie blieben noch ein paar Jahre Zeit.

Florian lehnte sich zurück an die Wand und starrte in die Äste. Max’ Bild tauchte vor ihm auf. Er sah ihn vor sich, wie er vor Barrick in der Redaktionskonferenz für die Sendung gekämpft hatte und wie er ihn angegrinst hatte, als er ihn zum Essen einlud. Er schloss die Augen, die Bilder verschwammen und wurden überlagert von dem Bild eines kleinen Jungen, der ihn mit seinen kurzen blonden Haaren, den Sommersprossen und den abstehenden Ohren anlachte, Zeigefinger und Mittelfinger der rechten Hand über Kreuz, zum Gruß erhoben.

Florian seufzte. Er erinnerte sich daran, wie sie als Zwölfjährige bei einem gemeinsamen Urlaub mit ihren Müttern in Österreich auf die Alm marschiert waren, nur Max, der Sohn des Hoteliers und er. Wie hatte der Hotelierssohn eigentlich geheißen? Florian fiel der Name nicht ein, aber das war ja auch nicht so wichtig. In jedem Fall hatte er den Auftrag gehabt, die Almhütte für den Sommerbetrieb vorzubereiten, denn seine Großmutter sollte dort über den Sommer Kühe und Ziegen hüten. Er hatte seine Urlaubsfreunde Max und Florian gefragt, ob sie nicht Lust hätten, ihn zu begleiten. Und natürlich hatten sie Lust gehabt, denn der Ausflug auf die Alm war etwas Besonderes, Außergewöhnliches, zumal kein Erwachsener dabei sein würde. Die Almhütte sollte aufgeräumt und geputzt werden und sie hofften, Ausbesserungsarbeiten vornehmen zu können, die sonst nur erwachsene Männer ausführten.

Sie hatten sich wichtig gefühlt und waren losgezogen mit prall gefüllten Rucksäcken, in denen sich Schüttelbrot, Bauernkäse, Obst und Wasser befand. Mit zittrigen Knien hatten sie pfeifend Wiesen überquert, auf denen Bullen weideten, und das letzte Stück des Weges ein Wettrennen veranstaltet. Wer als Letzter oben auf der Alm ankommen würde, sollte den Stall saubermachen, das war die Abmachung gewesen. Max und Ernst, jetzt fiel Florian der Name des Hotelierssohns wieder ein, hatten in Windeseile im Endspurt den letzten Abhang erklommen, während er selbst mit hängender Zunge hinterhergekeucht kam. Über Florians Gesicht ging ein Lächeln. Natürlich war er Letzter gewesen, wie immer, wenn es um sportliche Wettkämpfe ging. Als auch er endlich oben angekommen war, hatten Max und Ernst ihm eröffnet, dass die Alm verschlossen war. Ernst hatte den Schlüssel zu Hause im Tal liegen lassen, und so mussten sie sich etwas einfallen lassen, um überhaupt hineinzukommen. Um nicht wieder umkehren und den beschwerlichen Aufstieg ein zweites Mal machen zu müssen, hatte Ernst schließlich kurzerhand ein Fenster eingeschlagen. Sie hatten beratschlagt, wer hindurchkriechen sollte, denn das Loch mit den scharfen, gezackten Glasscherben sah sehr gefährlich aus, aber Max hatte bald beschlossen, dass dies sein Part sei, er sei schließlich der Kleinste. Heldenhaft hatte er sich durch das Fenster gezwängt und beiden die Tür geöffnet, nachdem er innen einen zweiten Schlüssel gefunden hatte.

Florian zog sich der Magen zusammen, als er daran dachte. Max war tot. Sein bester Freund.

Max war mutig gewesen, bereits als kleiner Junge. Er hatte damals stark geblutet, weil er sich an den Spitzen der zerbrochenen Fensterscheibe verletzt hatte, aber irgendwann war es ihnen gelungen, den Blutfluss mit Handtüchern zu stoppen. Max hatte weder geflucht noch gejammert. Die Narbe, die an seinem Ellenbogen zurückgeblieben war, hatte sie auch als Erwachsene stets an ihr Abenteuer erinnert. Und die Finger hatten sie bis heute manchmal zum Gruß gekreuzt.

Florians Füße waren inzwischen eiskalt geworden. Fröstelnd zog er die Gardine zu und legte sich wieder ins Bett. Ein Blick auf den Wecker zeigte, dass es bereits 4 Uhr war.

Als seine Mutter und er bei Marianne angekommen waren, hatten sie eine völlig verstörte Frau vorgefunden, die so stark weinte, dass sie kaum ein Wort herausbrachte. Erst nachdem Marie-Louise einen befreundeten Arzt gebeten hatte, vorbeizukommen, um ihrer Freundin eine Beruhigungsspritze zu geben, war Marianne dazu in der Lage gewesen, zu berichten, was sie wusste. Max war gegen 21.15 Uhr bewusstlos in den Waschräumen eines Fitnessstudios gefunden worden, nachdem er ungefähr eine Stunde dort trainiert hatte. Der Inhaber hatte sofort den Notarzt alarmiert, aber der konnte nur Max’ Tod feststellen.

Florian setzte sich wieder halb auf und starrte an die Wand. Das Licht der kleinen Lampe wirkte seltsam tröstlich auf ihn. Gab es einen Zusammenhang zwischen Max’ Tod, den unerklärlichen Krankheitsfällen der vergangenen Tage und seinen Recherchen? Vielleicht hatten aber auch seine Recherchen über die rivalisierenden Kölner Jugendbanden etwas mit seinem Tod zu tun. Florian verspürte ein alarmierendes Gefühl in der Magengegend, das ihm seit der Nachricht von Max’ Tod die Eingeweide zusammenzog. War Max umgebracht worden? Wahrscheinlich sah er Gespenster. Florian knipste resolut das Licht der Nachttischlampe aus. Außerdem hatte Marianne erzählt, dass Max in den letzten Tagen über Herzrasen geklagt hatte und vorgehabt habe, deswegen einen Arzt aufzusuchen. Wahrscheinlich war er ganz einfach einer der Unglücklichen, die bereits in jungen Jahren einen Herzinfarkt bekamen. Bei dem Job wäre das auch kein Wunder, dachte Florian resigniert und wandte den Kopf in die Richtung, aus der er ein leises Schnurren vernommen hatte. Zicke, seine sechs Monate alte Katze, kam auf Samtpfoten ins Zimmer spaziert. Sie blieb etwa einen Meter vor dem Bett stehen, fixierte ihn mit ihren unergründlichen grünen Katzenaugen, machte einen Buckel und sprang mit einem Satz mitten auf seinen Bauch. Florian zuckte zusammen und fluchte. Kleines Miststück. Als der Schmerz nachließ, begann er sich über ihren Besuch zu freuen und streichelte zärtlich ihr orangeweiß gestreiftes Fell. Beruhigt von der wohltuenden Wärme des Katzenkörpers, fiel er in einen tiefen traumlosen Schlaf.

11

Die Trauerrede, die Regine Liebermann aus dem Stegreif vor der Belegschaft gehalten hatte, war kurz und knapp gewesen, dennoch ergreifend. Die Redaktion war völlig schockiert. Es hatte einige Stunden gedauert, bis sich die Aufregung und Betroffenheit so weit gelegt hatte, dass die Kollegen wieder an die Arbeit gehen konnten. Doch die Stimmung blieb gedrückt. Niemand brüllte, keine Tür knallte, und selbst die Telefone schienen nicht so schrill zu klingeln wie sonst. Glücklicherweise hatte Florian nichts mit der heutigen Sendung zu tun, die mussten Katja und Curt irgendwie hinkriegen, und nicht er.

Vielleicht hoffte Curt bereits, dass er Max’ Nachfolge antreten würde. Florian presste die Lippen zusammen. Er saß an Max’ Schreibtisch und versuchte, die Traurigkeit, die ihn lähmte, beiseitezuschieben und nachzudenken, aber es gelang ihm nicht. Die Frage, ob Max umgebracht worden war, hämmerte in seinem Kopf.

Katja und Curt hatten ihn zuvor gefragt, ob der Spinner sich noch mal gemeldet hatte. Bei ihm hatte er nicht wieder angerufen, aber das musste nichts heißen. Florian machte sich eine Notiz, er wollte sich nicht nur im Fitnessstudio umhören und in Erfahrung bringen, ob und mit wem Max dort gesprochen hatte, sondern sich auch Max’ Handy besorgen und sich in seiner Wohnung umsehen. Vielleicht fand er dort Informationen über die Jugendbanden.

Er durchsuchte Max’ Schreibtisch, entdeckte aber nichts, was ihm in irgendeiner Weise wichtig erschien, außer der Adresse von Peter Mallmann. Er steckte sie in seine Jacketttasche.

In diesem Moment öffnete sich die Tür, und Jana, sich vorsichtig auf dem Flur umblickend, kam rückwärts ins Zimmer. Florian sah überrascht auf. Reflex­artig schob er die halb geöffnete Schublade des kleinen Schränkchens zu, das unter dem Schreibtisch stand. Jana drehte sich erschrocken um. Ihre Augen waren rot und verquollen.

»Was machst du denn hier?« Überrascht sah sie ihn an.

»Wollte mich nur mal ein bisschen umsehen.«

»Das wollte ich auch. Glaubst du, dass Max an Herzversagen gestorben ist?«

»Nicht wirklich.« Florian merkte, wie eine Gänsehaut seinen Körper überzog. Für den Bruchteil einer Sekunde verspürte er den Impuls, Jana in den Arm zu nehmen, aber es kam ihm unpassend vor, und so ließ er es bleiben.

Jana kam näher. »Und, was gefunden?«

Florian sog tief die Luft ein, aber er roch nichts. Auf ihr Parfum schien sie heute verzichtet zu haben. Aus Pietät vermutlich. Ob das alle Frauen so handhabten, wenn jemand gestorben war? Er wischte den Gedanken schnell beiseite, Jana hatte heute früh ja noch gar nichts von Max’ Tod gewusst.

»Nur die Adresse des Toten aus ›Köln-Ehrenfeld‹.«

»Die habe ich Max gestern noch gegeben. Sonst nichts?«

»Nein. Aber ich vermisse seinen Laptop.«

»Wenn er nicht hier ist, finden wir ihn bestimmt bei ihm zu Hause«, sagte Jana. »Übrigens, die Substanz, die im Magen der Erkrankten nachgewiesen wurde, ist ein Glutamatderivat.«

Florian starrte Jana irritiert an.

»Das ist die neue Form eines Geschmacksverstärkers.« Jana fingerte ein Taschentuch aus ihrer Jeanstasche und schnäuzte hinein.

»Wie machst du das eigentlich?«

»Was?«

»Ich meine, wie kommst du in fremde Computer?«

»Ach, da gibt es verschiedene Möglichkeiten. Oft brauchst du gar nicht mehr in die Computer, also auf die Festplatten. Am einfachsten funktioniert es direkt über das Internet. Du musst dir das so vorstellen: Viele Unternehmen häufen so viele Daten an, dass sie manchmal gar nicht mehr wissen, was sie wo abgelegt haben. Unzählige Menschen arbeiten damit, die Daten werden ergänzt, korrigiert, versehentlich falsch gespeichert, ohne dass es bemerkt wird, und unendlich oft intern und extern verschickt. So sind häufig ungewollt mehr Informationen über das Internet zugänglich, als die Anwender auch nur im Geringsten ahnen.«

Florian zog die Augenbrauen hoch und Jana setzte ihren Vortrag fort: »Hacken war gestern, heute reicht in der Regel schon gekonntes Suchen im World Wide Web. Darüber sind sich alle Experten einig. Ein Beispiel. Kürzlich erst gelangten durch einen Anwenderfehler geheime Konstruktionszeichnungen einer im Bau befindlichen US-Botschaft ins Internet.«

»Tatsächlich?«

»Ja.«

»Eine immer wieder auftauchende Dummheit ist beispielsweise, dass Daten an Stellen gespeichert werden, wo sie nichts zu suchen haben, zum Beispiel auf der Festplatte des Webservers. Selbst wenn du also auf der offiziellen Webseite nichts siehst, ist oft doch etwas im Hintergrund vorhanden.«

»Und wie kommt man da dran?«

»Du brauchst nur die richtige Suchmaschine, und schon wirst du fündig.«

»Und woher weiß ich, welche das ist?«

»Das verrate ich dir leider nicht.« Jana lächelte verschmitzt und sagte bestimmt: »Außerdem ist die Lektion nun beendet.«

»Fortsetzung folgt?«

»Vielleicht später irgendwann. Lass uns erst einmal von hier verschwinden.«

Florian nickte und nahm sein schwarzes Jackett, das er über die Stuhllehne gehängt hatte. »Ins Maybach?«

»Gut, da ist um diese Zeit nicht so viel los.«

Florian folgte Jana über den Flur. Ihr Gang erinnerte ihn an seine Katze, wenn sie mit erhobenem Haupt vor ihm her über den langen Wohnungsflur lief. Mit einem Seitenblick registrierte er, dass das Foto von Jörn Carlo nicht mehr an der Wand hing. Vielleicht regierte doch nicht in erster Linie Geld, sondern Eitelkeit die Welt.

Nach wenigen Minuten waren sie bereits im Restaurant Maybach angekommen, das am Ende der Mediapark-Grünfläche im Direktionsgebäude des ehemaligen Kölner Güterbahnhofs lag und mit seinen weitläufigen Räumlichkeiten ein angenehmes Großstadtflair verbreitete. Im Sommer genoss Florian es, im Biergarten sitzen zu können, der sich großer Beliebtheit erfreute. Nicht zuletzt wegen der guten Küche und der ansprechenden Weinkarte. Heute war es im Maybach so gut wie leer, die Leute vom benachbarten Kölner Filmhaus und die Mitarbeiter aus den Unternehmen rund um den Mediapark waren offensichtlich noch nicht in der Mittagspause. Florian und Jana nahmen an einem Ecktisch Platz. Es waren nur zwei weitere Tische besetzt, und die waren weit genug entfernt. Nachdem die Bedienung zwei Tassen Kaffee gebracht hatte, begann Jana zu berichten. »Stell dir vor, die Kripo ermittelt im Fall Mallmann.« Sie beugte sich Florian über den Tisch entgegen und flüsterte: »Genauer gesagt, die Mordkommission.«

Das wusste Florian bereits von Eddie Klump, ließ es sich aber nicht anmerken.

Jana senkte die Stimme: »Hat sich der Typ, der dich und Max angerufen hat, eigentlich noch mal gemeldet?«

»Nein.«

»Gut.« Jana seufzte erleichtert. »Dann also zurück zum Glutamatderivat. Der Tote aus Ehrenfeld hatte das Derivat im Magen, ebenso wie alle anderen Erkrankten. Allerdings steht noch nicht fest, ob diese neue Form des Glutamats tatsächlich auch Mallmanns Tod herbeiführte.«

»Hoffentlich finden die Gerichtsmediziner das bald heraus. Wissen sie schon, in welchen Lebensmitteln es enthalten ist?«

»Unter Verdacht stehen zwei neue Produkte, die vor zwei Wochen auf den Markt kamen. Eine Vollmilchschokolade und ein Frischkäse. Vermutlich reden sie gerade mit den Herstellern.«

»Hast du die Namen?«

Jana nickte und zog einen Zettel aus ihrer schmalen, dunkelbraunen Aktentasche. Florian streckte die Hand aus und Jana schob den Zettel über den Tisch.

»Ziemlich bekannt.« Florian pfiff leise durch die Zähne.

»Ja. Und da ist noch etwas. Alle Opfer hatten Alkohol im Blut.«

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Возрастное ограничение:
18+
Дата выхода на Литрес:
25 мая 2021
Объем:
304 стр. 7 иллюстраций
ISBN:
9783839234549
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