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6

Während Florian und Max nach der Redaktionskonferenz nur widerwillig an ihre Schreibtische am Hansaring in Köln zurückkehrten, hatte Burkhard Weidner den seinen in der Stiftsstraße in Mainz gerade verlassen. Derzeit lief er, die Hände tief in den Taschen seines dunklen Trenchcoats vergraben, stumm neben seinem Sohn am Kölner Konrad-Adenauer-Ufer entlang. Gerade hatte er für die Strecke Mainz–Köln auf der A3 nur knapp zwei Stunden gebraucht, er war gerast, und die längere Abwesenheit von seinem Schreibtisch erschien ihm mit Blick auf Tims Treiben absolut gerechtfertigt. Die Hohenzol­lernbrücke im Rücken glitt Burkhard Weidners Blick über den Rhein, den er so liebte, er hoffte, dass der Strom in diesem Jahr nicht wieder zu einem Höchststand von mehr als zehn Metern anschwoll. Rhein-Hochwasser stellte für einen Großteil der Bevölkerung eine echte Katastrophe dar, und wenn er daran dachte, war Burkhard Weidner froh, nicht mehr in Köln, sondern in Mainz zu wohnen. 1995 hatte es sie in ihrer Wohnung in der Kölner Altstadt ganz schön erwischt. Er und seine Frau waren vor einigen Jahren aus beruflichen Gründen umgezogen, aber Tim, ihr Sohn, war in Köln geblieben. Mit prüfendem Blick erkannte Burkhard Weidner, dass der Rhein wegen der Regenfälle der vergangenen Tage schon wieder einen erhöhten Wasserpegel erreicht hatte, aber noch sah alles recht harmlos aus.

Da er sich nicht aufregen wollte, boten ihm die Gedanken an das Hochwasser eine willkommene Ablenkung. Denn was Tim, der seine Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden trug, ihm eben eröffnet hatte, hatte ihn regelrecht geschockt. Er musste den richtigen Ton finden. Wenn er anfing zu brüllen, würde das Verhältnis, das er so mühsam wieder einigermaßen hergestellt hatte, erneuten Schaden nehmen. Mit aller Selbstbeherrschung, die er aufbringen konnte, fragte er: »Was hast du dir eigentlich dabei gedacht? Glaubst du, das würde irgendetwas bringen?«

Tim sah seinen Vater von der Seite an und antwortete, bereits aufbrausend. »Natürlich, sonst hätte ich es ja nicht gemacht.«

»Schrei nicht so.« Burkhard Weidner, der heute eine Baskenmütze aufgesetzt hatte, weil er sich bei den Temperaturen schnell eine Erkältung zuzog, packte seinen Sohn hart am Ärmel. »Wir sind nicht die Einzigen hier. Leiser, Mensch.« Nervös rückte er die Mütze zurecht, die schräg auf dem Kopf saß und seine spärlichen grauen Haare knapp bedeckte. Aber die zwei älteren Frauen, die einige Meter vor ihnen gingen, hatten sich nicht einmal umgeblickt. Etwas ruhiger sagte er nun: »Also noch einmal, was hast du dir dabei gedacht?«

Tim sah seinen Vater trotzig an und antwortete ausweichend: »Eine ganze Menge. Euer Zeug ist giftig, Mensch, kapier das doch endlich! Einige, die zu viel davon intus haben, liegen jetzt im Krankenhaus. Ein Typ ist wahrscheinlich sogar daran gestorben.«

»Deine Behauptung ist ungeheuerlich!« Burkhard Weidner verspürte den unmittelbaren Wunsch, sich zu setzen, aber die Parkbank, die er am Wegrand bemerkte, schien ihm meilenweit entfernt zu sein. Wortlos ging er neben seinem Sohn her, den Schritt unter der Schwere des soeben Gehörten unwillkürlich verlangsamend. Nachdem er sich wieder etwas gefasst hatte, sagte er: »Selbst wenn du recht hast, ist das immer noch kein Grund, eine TV-Sendung verhindern zu wollen, indem du Redakteure einschüchterst.«

»Doch, es gibt Grund genug.« Tim sah seinen Vater von der Seite an, senkte den Blick jedoch sofort wieder und fuhr kleinlaut fort: »Ich habe es jemandem verkauft, mit dem nicht gut Kirschen essen ist. Wenn der herausfindet, dass man daran krepieren kann, werde ich auch nicht mehr lange leben.«

»Du meine Güte.« Burkhard Weidner brach der Schweiß aus und Tim erklärte: »Ein Redakteur von Diens-Talk verfolgt eine Spur, die direkt zu euch führt. Er scheint aber der Einzige zu sein, der davon weiß. Wenn ich den in seinen Recherchen stoppen kann, kommt vielleicht nie heraus, dass dieses dämliche Zeug an allem Schuld ist und Alex lässt mich in Ruhe. Und du hättest Zeit genug, alles, was existiert, zu vernichten und könntest damit eventuell Schlimmeres verhindern.«

Zielstrebig steuerte Burkhard Weidner die Parkbank an, die nun unmittelbar vor ihnen stand, und setzte sich schwerfällig. Tim nahm neben ihm Platz. Der Blick des Vaters wanderte zur Deutzer Brücke, die ihre Farbe wie vier weitere Brücken Konrad Adenauer zu verdanken hatte. Extra auf seinen Wunsch hin war das spezielle Patinagrün entwickelt worden, und es sah wirklich gut aus. Burkhard Weidner atmete tief durch. Am liebsten hätte er das Gespräch mit seinem Sohn jetzt nicht geführt. Wie gern würde er stattdessen unbeschwert über die Hohenzollernbrücke oder über die Südbrücke schlendern und die sogenannten Liebesschlösser in Augenschein nehmen, von denen er in der Zeitung gelesen hatte. Seit einiger Zeit hingen Tausende bunter Vorhängeschlösser am Zaun zwischen Bahngleisen und Fußgängerweg, und täglich wurden es mehr. Verliebte Paare schworen sich auf ihnen ewige Liebe, den Schlüssel für das Schloss warfen sie in den Rhein. Burkhard Weidner fand diesen neuen Brauch so sympathisch, dass er sich vornahm, die Schlösser unbedingt bei seinem nächsten Kölnbesuch anzusehen.

Seufzend wandte er sich seinem Sohn zu und sagte: »Also, du hast davon an diesen Bandenchef verkauft. Wem noch, und wo?«

»Das meiste auf dem Nippeser Wochenmarkt am Wilhelmplatz. Und dann hat so ein Schreiner ein bisschen was gekriegt und eben Alex. Vor allem Alex.«

»Was hast du mit dem überhaupt zu schaffen? Junge, du hattest doch schon genug Ärger mit der Polizei! Willst du dein Schicksal unbedingt herausfordern, indem du dich mit diesem kriminellen Typen einlässt?«

Burkhard Weidner war inzwischen auf alles gefasst, und Tims Schweigen war Antwort genug. Er stöhnte leise und fragte sich, was er eigentlich von seinem Sohn erwartet hatte. Wenn Tim nur ahnen würde, was er ihm antat. In diesem Moment hasste er ihn mit jeder Faser, aber als er Tim kleinlaut sagen hörte: »Ich habe Schiss vor Alex, begreif das doch endlich«, mischte sich unwiderruflich das altbekannte Gefühl der Sorge unter den Groll und gewann schließlich, obwohl er sich dagegen sträubte, die Oberhand.

»Wenn Alex merkt, dass das Zeug nicht koscher ist, dann gnade mir Gott. Der fackelt nicht lange.«

Gedankenversunken betrachtete Burkhard Weidner einige Spatzen, die sich begeistert um trockene Brotkrümel scharten und eifrig darauf erpicht waren, keinen einzigen außer Acht zu lassen. Schließlich sagte er: »Überlass die Angelegenheit bitte mir. Da ist sie besser aufgehoben, und vor allem lass diesen Redakteur in Ruhe.« Mühsam erhob er sich von der Parkbank, stopfte den Schal tiefer in den Ausschnitt seines Mantels und setzte den Weg fort. Tim folgte ihm wortlos. Nachdem sie eine Weile nebeneinander hergegangen waren, fragte Burkhard Weidner: »Haben die in der Redaktion deine Nummer erkennen können?«

»Nein. Ich habe von einer Telefonzelle aus angerufen. Ich bin nicht blöd, auch wenn du immer meinst, ich wäre es«, sagte Tim verstockt. Angriffslustig fragte er nach: »Und? Was willst du tun? Wie ich dich kenne, füllst du erst mal 100 Anträge aus, stimmt doch, oder?« Tim kickte mit dem Fuß ein paar kleine Steinchen aus dem Weg.

Burkhard Weidner spürte, dass er sich sehr beherrschen musste: »Du bist unverschämt«, sagte er nur und fügte nach einer kleinen Pause hinzu: »In jedem Fall wende ich Mittel an, die klüger sind als deine.«

Inzwischen hatte er große Lust, das Gespräch mit seinem Sohn rasch zu beenden. Er wandte sich um und steuerte schweigend auf die schmalen, bunten Häuser der Kölner Altstadt mit ihren hohen Giebeln und Schieferdächern zu. Sie passierten Groß St. Martin und gingen, gedankenversunken, durch enge Gassen zur Tiefgarage am Dom, wo er seinen Wagen geparkt hatte. Für die Schönheit der Häuser hatte er heute keinen Blick. »Halt dich da raus, ich sage es dir noch einmal. Verstanden?« Burkhard Weidners Ton klang scharf.

Tim schwieg und sein Vater insistierte: »Ob du das verstanden hast, habe ich gefragt.« Er blieb stehen und sah seinem Sohn fest in die Augen. Tim konnte ihm nicht ausweichen, denn jetzt griff sein Vater auch nach seinen Schultern. Er legte beide Hände darauf und zwang ihn, ihm ins Gesicht zu sehen.

»Ich werde es schon nicht an die große Glocke hängen«, sagte Tim genervt. Er senkte den Blick sofort wieder, und sein Vater ließ ihn los.

Inzwischen hatten sie den Kölner Dom erreicht, das als Weltkulturerbe geltende Wahrzeichen der Stadt. Vor ihnen wurde der Eingang zur Tiefgarage sichtbar. Auf der Domplatte, einer modernen Betonkonstruktion, die den Dom umgab und auf dem Domhügel rund 17 Meter über dem Rhein lag, waren verhältnismäßig wenig Menschen unterwegs.

Bei dem ungemütlichen Wetter bleiben die meisten Menschen wohl zu Hause, dachte Burkhard Weidner und hielt seine Mütze fest, an der der typische Domplatten-Wind zerrte. Und die Touristen saßen vermutlich lieber in den umliegenden Kneipen, tranken Kölsch und aßen Halven Hahn oder Hämchen mit Sauerkraut.

Burkhard Weidner wandte sich ein weiteres Mal an seinen Sohn: »Sieh bitte zu, dass du alles, was du unter die Leute gebracht hast, wiederbekommst. Wie, ist mir ganz egal. Und pass auf, dass niemand etwas merkt.«

Bevor er die Treppen zur Tiefgarage hinabging, fügte er in etwas weicherem Ton nach einem Moment des Überlegens hinzu: »Wir packen das schon.«

Ein flüchtiges, doch aufmunterndes Lächeln glitt über sein Gesicht, dann war er verschwunden. Als er in seinem Wagen saß, drückte er ein wenig zu heftig auf das Gaspedal und der Motor heulte auf. Verdammt, es war spät geworden, er musste dringend zurück.

Zurück ins Ministerium.

7

Tim Weidner kam es so vor, als liefe er schon zum hundertsten Mal durch die Passage in der Bodenheimer Straße Ecke Bahide-Arslan-Straße. Von Alex keine Spur. Ein erneuter Blick auf seine Armbanduhr bestätigte ihm, dass er ihn bereits eine Stunde warten ließ. Gleich 21 Uhr. Frierend und ärgerlich zog Tim den Reißverschluss seiner Lederjacke hoch. Er würde ihm noch fünf Minuten geben, wenn er dann nach wie vor nicht auftauchte, würde er einfach verschwinden. Lange genug gewartet hatte er schließlich. Doch leise Zweifel verschafften sich Gehör. Vermutlich wäre es besser, ein wenig länger zu warten. Man wusste nie, wie er reagierte. Also gut, dann eben noch zehn Minuten.

Alex vertrug es nicht, wenn man ihn versetzte. Dabei war der Gedanke eigentlich absurd. Schließlich hatte er ihn versetzt und nicht umgekehrt.

Wenn er wenigstens wüsste, was er von ihm wollte. Hoffentlich hatte es nichts mit dem Stoff von seinem Vater zu tun. Tim strich sich wiederholt eine Strähne seines langen Haars aus dem Gesicht. Es war doch wohl niemand aus der Gang daran erkrankt? Warum hatte er es auch ausgerechnet an Alex verkaufen müssen. Er schalt sich selbst einen Dummkopf.

Plötzlich spürte Tim einen heftigen Schlag im Rücken. Er stolperte und fiel auf die Steinplatten. Mühsam hob er den Kopf. Über ihm stand Alex und grinste.

»Na, gemütlich da unten?« Alex setzte einen Fuß auf seinen Rücken. Tim hatte keine Chance aufzustehen. Nach vielleicht einer Minute, die ihm unendlich lang vorkam, nahm Alex den Fuß wieder herunter. Er hörte ihn langsam sagen: »Kannst hochkommen.«

Tim richtete sich vorsichtig auf und bemerkte, dass Alex ihm sogar die Hand reichte. Nur zögernd griff Tim zu, doch seine Angst schien unberechtigt, denn er half ihm tatsächlich. Als er wieder auf beiden Beinen stand, klopfte er sich den Schmutz von der Hose und grinste nun auch.

»Alles tutti?«, wollte Alex wissen.

»Klar.« Tims Stimme war schwächer als sonst.

Alex fixierte ihn, legte den Arm fest um seine Schulter und setzte sich in Bewegung.

Tims Herz schlug schneller. Was wollte er von ihm?

»Ich glaube, wir müssen dir mal ein bisschen deine hübsche Visage polieren. Das eben war nur ein kleiner Vorgeschmack.«

»Was habe ich denn verbrochen?«, schrie Tim hysterisch.

Alex ging ungerührt weiter. Der Griff seiner Hand schmerzte Tim durch die Lederjacke hindurch. Wie ein Schraubstock, den er nicht abschütteln konnte.

»Du plauderst ein bisschen zu viel.«

»Ich? Gibt doch gar nix zu plaudern.«

Alex’ Umklammerung tat höllisch weh. Tim versuchte, sich zu befreien, aber vergeblich.

»Da habe ich aber etwas ganz anderes gehört.«

»So? Was denn?« Tim starrte Alex an.

»Was denn?«, äffte Alex. »Ich will dir sagen, was. Da gibt’s einen Reporter, der hinter mir herschnüffelt, und ich habe munkeln hören, dass du ihn mir aufgehalst hast.«

»Nein, habe ich nicht! Ich kenne überhaupt keinen Reporter.«

Abrupt blieb Alex stehen und schlug zu. Tim strauchelte. Er roch frisches Blut. Es rann über sein Kinn. Vorsichtig wischte er es mit seinem Jackenärmel weg, wo es purpurn leuchtete.

»Ich habe dich an niemanden verpfiffen, wirklich nicht.« Tims Stimme klang erstickt. Er wusste weiterhin nicht, wovon Alex sprach, aber er bemerkte, dass er ihn etwas verunsichert hatte.

»Wir sind doch Freunde«, sagte er rasch. Alex blies hörbar Luft durch die Nase und schwieg. »Hast du eigentlich noch was von dem Zeug, dass ich dir neulich gebracht habe?«, fragte Tim vorsichtig.

Alex lachte verächtlich. »Glaubst du, du kommst aus der Nummer mit ’ner milden Gabe raus? Das Zeug war zwar nicht schlecht, aber so gut nun auch wieder nicht.«

»Hast du noch was davon?«

»Leider nicht. Du darfst mir also noch was bringen. Aber wenn du tatsächlich hinter der Sache mit dem Journalisten stecken solltest, wird dir das leider trotzdem nichts nützen, da kannst du Gift drauf nehmen.«

Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, drehte Alex Weyer sich um und ging.

8

Diese rasenden Kopfschmerzen.

Normalerweise bekam er so etwas nur sonntags, nach einer durchzechten Nacht, aber nicht am frühen Montagabend. Bereits vor einer halben Stunde hatte er zwei Kopfschmerztabletten geschluckt, aber eine Wirkung war nicht zu spüren. Im Gegenteil. Er presste beide Hände gegen die Schläfen, als könne das helfen. Der Schmerz hämmerte in kurzen Intervallen direkt über der Nasenwurzel und zog nach hinten.

Ein Tiger, der seine Kopfhaut zerfetzte. Ihm seine Krallen ins Hirn trieb. Ihn daran hinderte, zu denken.

Ein lautes Stöhnen kam über seine Lippen. Er musste stehen bleiben, sich an die Wand lehnen. Kalte Wand. Das grelle Weiß der Kacheln tat ihm weh, er musste die Augen wieder schließen, sich vor dem Weiß schützen, unbedingt. Gleichzeitig spürte er, wie ihm der Schweiß auf die Stirn trat.

Diese rasenden Kopfschmerzen. Taumelnd versuchte er, das Waschbecken zu erreichen. Kein Halt mehr, nirgends. Seine Füße fühlten sich taub an. Jeder Schritt eine Qual. Der Mund trocken wie Staub, die Zunge ein fremdes Tier. Wasser. Im Spiegel seine aufgerissenen Augen, die ihm entgegenblickten. Endlich hatte er sein Ziel erreicht. Krampfhaft hielt er sich am Waschbecken fest und sah hinunter auf die Hand, die da versuchte, den Wasserhahn aufzudrehen. War das seine? Dieses zittrige Etwas, einem Spinnenkörper gleich, den er nicht in der Gewalt hatte?

Keine Kraft mehr. Der Schweiß tropfte von seiner Stirn, doch der Wasserhahn bewegte sich keinen Millimeter. Er röchelte. Die Konturen des Waschbeckens verschwammen. Er versuchte, sich am Rand festzuhalten, den drohenden Fall zu verhindern, aber vergeblich. Er sackte auf den Boden, unfähig, wieder hochzukommen.

Nach Minuten, die ihm wie eine Ewigkeit erschienen, drehte er den Kopf, denn er hatte ein Geräusch gehört. Jemand war hereingekommen. Endlich. Er atmete auf. Gekrümmt am Boden liegend, sah er auf ein paar dunkle Stiefel mit grünen Schnürsenkeln, die langsam auf ihn zukamen und dann kurz vor seinem Körper stoppten. Er lächelte. Die Schuhe seines Retters. Am liebsten hätte er sie geküsst. Gleich würde er ihm aufhelfen. Gleich würde alles gut. Er horchte, aber im Raum blieb es still. Totenstill. Nicht der Hauch einer Bewegung. Er versuchte, zu lächeln und seinen Kopf zu heben, denn er wollte sehen, wer vor ihm stand, aber er hatte keine Chance. Er konnte sich kaum rühren. Ehe er all seine Kraft sammeln und etwas sagen konnte, drehten die Schuhe um und entfernten sich. Das leichte Klacken der Tür verriet ihm, dass er erneut allein war. Schaum trat vor seinen Mund und erstickte den Schrei, der aus seiner Kehle nach oben drängte.

Fauchend grub der Tiger seine Klauen tiefer in ihn hinein. Er stürzte sich auf ihn mit ganzem Gewicht.

Enormer Druck. Kaum Luft zum Atmen. Seine Beine manövrierunfähig. Die Taubheit in seinem Körper kroch immer höher. Und jetzt auch noch diese Übelkeit.

Der Tiger ließ einfach nicht los.

Er wusste, inzwischen hatte die Bestie auch seinen Rücken aufgerissen, denn eine ungeheuere Hitzewelle überkam ihn. Er bäumte sich auf. Konnte er sie abschütteln? Nach einer Weile hielt er die Luft an. Tatsächlich, der Schmerz war auf einmal verschwunden. Wie weggeblasen. Sanft wie die Samen einer Pusteblume. Auch der Rücken taub. Er stöhnte. Der Kopf schmerzte weiterhin. Er musste würgen, robbte Richtung Toilette, ruderte auf dem Boden mit den Armen. Der Gedanke, welch lächerliche Figur er abgab, steigerte den Brechreiz ins Unermessliche. Kam denn niemand, um ihm zu helfen? Plötzlich durchzuckte ihn ein Hoffnungsschimmer. Ja, so musste es sein: Der Stiefelträger holte Verstärkung. Alarmierte einen Krankenwagen und kam jeden Augenblick zurück. Er versuchte zu rufen, doch seine Stimme versagte. Er brachte nichts als ein jämmerliches Winseln heraus, das in den Schaumblasen vor seinem Mund verebbte. Jetzt verloren auch seine Arme an Kraft, sie ruderten immer schwächer. Und plötzlich: Auch hier kein Gefühl mehr. Taub wie alles andere. Seine Wange versuchte, sich an den Boden zu schmiegen. Die Augen hielt er geschlossen. Er wollte schlafen, einfach nur schlafen. So lag er eine Weile. Dann ließ ein tiefer, rasselnder Atemzug seinen Körper erzittern, und als er sich nach einigen Sekunden wieder entspannte, kam nur noch ein zarter Hauch über seine Lippen.

Der Tiger hatte endlich losgelassen.

9

Es war bereits dunkel und Florian Halstaff fröstelte, als er auf den Treppenstufen vor dem Haus seiner Mutter im Rodenkirchener Auenviertel stand und zum zweiten Mal an der Haustür klingelte. Florian liebte Rodenkirchen, das 1975 eingemeindet worden war und sich am Westufer des Rheins im sogenannten Rheinbogen befand. Als er noch zu Hause wohnte, hatte Florian in kölntypisch schwülen Sommernächten oft mit Max im feinen Sand des Rheinstrandes gelegen, auf die vorbeifahrenden Schiffe geschaut und stundenlang geredet, über die große Liebe, die erste große Enttäuschung und über das, was sie erreichen wollten in ihrem Leben. Heute hatte er trotz des einsetzenden Nieselregens die Gelegenheit genutzt und einen Spaziergang gemacht, vorbei am Campingplatz hin zum Tennisklub, der einen knappen Kilometer südlich des Auenviertels mitten zwischen den Feldern lag. Florian war immer ein wenig wehmütig zumute, wenn er hier entlangging. In den letzten Jahren hatte er kaum Gelegenheit gefunden, den Schläger in die Hand zu nehmen und sich zu einem Match zu verabreden. Hinzu kam, dass die Tennispartner seiner Kindheit und Jugend mittlerweile in alle Winde verstreut waren. So waren auch die feucht-fröhlichen Runden nach dem Spiel auf der Terrasse oder im Klubhaus immer seltener geworden, und mittlerweile kam es ihm so vor, als ob er kaum noch ein Klubmitglied kenne.

Er klingelte erneut und dachte daran, dass es jetzt doch zu spät geworden war, um fettarme Milch zu kaufen. Die meisten Läden hatten schon geschlossen.

Seltsam, dass Anna nicht öffnete. Wahrscheinlich war wieder einmal Peter Alexander schuld. Anna hatte die komplette Sammlung. Sie hörte nichts anderes, und das immer in voller Lautstärke. Florian hatte sich schon oft gefragt, wie seine arme Mutter das aushielt.

Endlich wurde die Tür schwungvoll geöffnet und vor ihm stand Anna. Kaum, dass sie ihn begrüßt hatte, machte sie schon wieder auf dem Absatz kehrt und war auf dem Weg zurück in die Küche. Florian sah perplex auf ihr weißes Schürzenband, das sich immer weiter von ihm entfernte und über ihrem Hinterteil zu einer ordentlichen Schleife gebunden war. Er dachte, dass ihr Elan offensichtlich völlig ungebrochen war. Soviel er von seiner Mutter wusste, führte sie den Haushalt wie eh und je in Dragonermanier. Jetzt brummte sie Florian über die Schulter an: »Es gibt dein Lieblingsgericht.«

Florian rief ihr hinterher: »Doch nicht etwa rheinischen Sauerbraten?«

Anna blieb stehen und knurrte: »Nein.«

»Rievkoche?«

»Nein.«

Florian musste lachen. »Komm, sag schon, was ist es denn?«

»Roastbeef.« Mit etwas weicherer Stimme fügte sie hinzu: »Aber das Bratenthermometer wartet, ich muss nachsehen, ob die Temperatur stimmt.« Abrupt drehte sie sich um und lief eilig in die Küche.

Florian wusste ganz genau, dass Anna alles tat, um zu verhindern, dass seine Mutter ihm mit ihrem Sauerbraten oder ihren Reibekuchen den Appetit verdarb, und er war ihr dafür sehr dankbar. Marie-Louise Halstaff hatte nie Kochen gelernt und würde es auch nie mehr lernen. Sie selbst glaubte natürlich, sie sei eine hervorragende Köchin und ließ es sich daher nicht nehmen, hin und wieder für die besten Freunde oder ihren Sohn persönlich ein Essen, oft etwas typisch Kölsches, zuzubereiten. Bis heute hatte es niemand übers Herz gebracht, seiner Mutter in aller Deutlichkeit zu sagen, dass ihr rheinischer Sauerbraten und ihre Rievkoche, immerhin ihre favorisierten Gerichte, einfach scheußlich waren. Im Hintergrund hörte er ihre Stimme. »Bist du es, Florian?« Marie-Louise Halstaff kam in die Diele und reichte ihrem Sohn die Wangen zum französischen Kuss.

»Ein bisschen blass schaust du aus.«

Florians Mutter, eine elegante Erscheinung, sehr schlank und zierlich, betrachtete Florian aufmerksam. Aufrecht ging sie voran ins Wohnzimmer. Wie das ganze Haus, das von den Bomben des Zweiten Weltkriegs verschont geblieben war und über eine Wohnfläche von 300 Quadratmetern verfügte, war auch das Wohnzimmer mit Eichenparkett ausgelegt und hatte eine Deckenhöhe von mehr als drei Metern. Es gab mehrere Sitzecken und Lichtquellen, die die Rot- und Brauntöne der Sofas und der Teppiche vorteilhaft hervorhoben und ihnen einen warmen Schimmer verliehen.

Florian fühlte sich sofort wieder heimisch, auch wenn er im Grunde seines Herzens froh war, der Selbstverständlichkeit, mit der sich seine Mutter ihren exquisiten Geschmack leistete und zur Schau stellte, längst entkommen zu sein. Wie so oft meinte Florian auch jetzt, den süßlichen Duft der Dekadenz, den Möbel und Teppiche verströmten, förmlich riechen zu können. Um jedoch in seinem Innersten keine Missstimmung aufkommen zu lassen, weigerte er sich, diesem Eindruck nachzugehen und steuerte entschlossen auf die von ihm bevorzugte altrosafarbene Couch am Fenster zu. Erschöpft ließ er sich in die Kissen fallen und streckte die Beine aus.

»Wie wäre es mit einem Aperitif?«

»Gern.«

Seine Mutter goss ihm ein Glas Vermouth ein und nahm mit der Eiszange einen Eiswürfel aus dem silbernen Kübel, der auf dem Beistelltisch stand. Sie gab auch eine Scheibe Zitrone hinzu, die vermutlich Anna fürsorglich aufgeschnitten hatte. Florian hob sein Glas. »Zum Wohl, auf alle Feierabende unseres Lebens.« Genussvoll nahm er einen Schluck. »Du trinkst nichts?«

»Später zum Essen. Erzähl, was gibt es Neues?« Marie-Louise sah ihn forschend aus ihren grünen Augen an, die sie Florian vererbt hatte und die dunkel werden konnten wie die Blätter eines Waldfarns im Oktober. »Wir haben uns lange nicht gesehen.«

Florian begann ohne Umschweife zu erzählen: »Stell dir vor, sie haben meine Sendung gekippt. Angeblich, weil die eingeladenen Talkgäste kurzfristig abgesagt hätten.«

»Worum ging es denn?«, fragte seine Mutter und strich sich vorsichtig mit ihrer Hand durch das halblange, fast schwarze Haar, dessen Spitzen mit leichtem Schwung nach außen sprangen.

Vermutlich ist sie heute erst beim Friseur gewesen, dachte Florian, perfekt gestylt. Laut sagte er: »Um die rätselhaften Krankheitsfälle.«

»Ich habe davon gelesen.« Marie-Louise runzelte die Stirn und spielte mit ihrer langen Halskette, die aus unterschiedlich großen türkisfarbenen Dreiecken und Quadraten bestand und auf Florian den Eindruck machte, als stamme sie von einem türkischen Luxusjuwelier. Seine Mutter hatte ein Faible für außergewöhnlichen Schmuck und Florian musste zugeben, dass sie ein Händchen dafür hatte.

»Wer hat denn abgesagt?«, wollte Marie-Louise Halstaff nun genauer wissen.

»Der Leiter des Gesundheitsamtes und eine Referentin aus dem Innenministerium. Angeblich aus Terminschwierigkeiten. Dabei habe ich eine knappe Stunde vorher mit beiden telefoniert und da war noch alles klar. Außerdem beherrscht das Thema die Schlagzeilen seit einer guten Woche, und ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass die keine Zeit für eine Sendung haben.«

»Hört sich wirklich merkwürdig an.« Marie-Louise Halstaff sah ihren Sohn interessiert an.

»Max bekam nach der Redaktionskonferenz mit, wie Regine Liebermann am Telefon versucht hat, den Leiter der journalistischen Unterhaltung dazu zu bewegen, die Sendung doch zu machen. Mit anderen Gästen, aber Barrick hat sich nicht darauf eingelassen.« Florian führte das Glas an seine Lippen und nahm noch einmal einen kräftigen Schluck.

»Immerhin will Regine, dass wir dranbleiben, davon weiß aber Barrick nichts. Sie hat Max und mich aufgefordert, weiter zu recherchieren. Man kann nie wissen, wofür es gut ist.«

Florians Mutter sah ihn prüfend an. »Dann bist du gerade wohl sehr im Stress?«

»Geht so.« Florian machte eine wegwerfende Handbewegung. »Morgen hänge ich mich richtig rein. Mit der Alternativsendung zum Thema Jugendbanden habe ich zum Glück nichts zu tun, das machen Max, Katja und Curt. Max hat eh schon dafür recherchiert.«

Marie-Louise Halstaff nahm sich einen Zitronenschnitz, biss hinein und musste sich unwillkürlich schütteln. Sie legte den Schnitz schnell zurück auf den Teller. »Kann das wirklich jeden erwischen?«

»Ja.« Vorsichtig sprach er weiter: »Man weiß nach wie vor nichts Konkretes, aber es gibt erste Anhaltspunkte.« Florian stopfte sich ein weiteres Kissen in den Rücken. »Im Mageninhalt fast aller Betroffenen wurde die gleiche Substanz nachgewiesen. Worum es sich dabei handelt, wissen wir derzeit nicht. Ich habe es von einem Informanten erfahren, auf der Pressekonferenz heute Nachmittag wurde darüber kein Wort verloren.«

Florians Mutter schwieg betreten.

»Da werden ganz offensichtlich Fakten zurückgehalten. Inzwischen sind über 40 Leute erkrankt.«

»Du meine Güte.« Marie-Louise Halstaff presste die fein geschwungenen Lippen aufeinander und fragte nach: »Was für eine Substanz könnte das sein?«

»Ich weiß es nicht.«

»Vielleicht ist doch ein Virus Schuld an allem?«

»Genau das versucht man gerade herauszufinden.« Florian schnaubte kurz und griff nach einem Taschentuch, das er zerknüllt aus seiner Hosentasche zutage beförderte.

Marie-Louise Halstaff strich sich einen Fussel von ihrem dunkelblauen halblangen Rock. »Das heißt, nach wie vor weiß keiner, wann, wo und wie man sich anstecken kann, und die, die was wissen, wollen oder dürfen nichts sagen. Tolle Aussichten. Ich sollte also erst einmal nirgendwohin gehen, niemanden treffen und möglichst nichts essen, wenn ich gesund bleiben will.«

Florian sah ihr geradewegs in die Augen. »Stimmt.«

Seine Mutter betrachtete ihn verblüfft, dann sagte sie mit sorgenvoller Miene: »Was auch immer es ist, hoffentlich bleiben wir verschont.«

Florian entschied, ihr nichts von dem seltsamen Telefonanruf, Max’ heißer Spur, von der er nicht einmal wusste, was er damit meinte, und dem Ehrenfelder Toten zu erzählen. Auf der Pressekonferenz am späten Nachmittag war Peter Mallmann mit keinem Wort erwähnt worden. Florian konnte demnach sicher sein, dass seine Mutter so schnell nichts davon erfahren würde, dass die Krankheit vermutlich das erste Todesopfer gefordert hatte, es sei denn, Eddie hätte inzwischen sensationelle Neuigkeiten, die morgen in der Zeitung standen.

Marie-Louise Halstaff wollte gerade etwas erwidern, als sich die Wohnzimmertür öffnete und Anna hereinkam. Auf einem Servierwagen schob sie eine Platte mit Roastbeefscheiben sowie dampfenden Bratkartoffeln, die einen würzigen Duft verströmten, herein.

»Das riecht ja fantastisch.« Florian kräuselte die Nase. Er und seine Mutter gingen hinüber zum Esstisch und nahmen Platz.

»Möchten Sie das übernehmen?« Anna hielt der Hausherrin eine Weinflasche hin und sah sie fragend an.

Florians Mutter studierte das Etikett, nickte zufrieden und schenkte ein. Anna verschwand Richtung Küche.

»Nimmst du keine Kartoffeln?« Marie-Louise sah Florian erstaunt an. »Oder hast du etwa Angst, die zu essen? Sie sind garantiert einwandfrei. Hat unser Gärtner selbst gezogen.« Sie lächelte. »In seinem Garten, nicht in meinem.«

»Ich werde mich mit dem Roastbeef begnügen, danke Mutter. Die Linie.« Florian schluckte.

»Willst du nicht wenigstens einmal probieren?«

»Nein, wirklich nicht.« Florian nahm sich fest vor, im Kampf gegen die Pfunde nun endlich auch mit dem Joggen zu beginnen.

Seine Mutter breitete ihre Serviette auf ihrem Schoß aus. Florian spürte, dass etwas nicht stimmte, sah von seiner Gabel und dem Stückchen Roastbeef auf, das er sich gerade in den Mund schieben wollte, und sagte schuldbewusst: »Sorry.« Er schickte sich umständlich an, seine Serviette ebenfalls auf dem Schoß zu platzieren. »Ich lerne es einfach nicht.«

Marie-Louise Halstaff goss sich ungerührt noch etwas Sauce über ihr Fleisch. Während sie sich ganz auf die Bewegung konzentrierte, veränderte sich ihr Gesichtsausdruck. Sie zog die dunkel nachgezogenen Augenbrauen zusammen und sinnierte. »Für mich wäre es fatal, wenn ich krank werden würde, denn ich werde nächste Woche wieder drehen.« Gespannt, wie er auf diese Mitteilung reagieren würde, beobachtete sie ihren Sohn.

956,89 ₽
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18+
Дата выхода на Литрес:
25 мая 2021
Объем:
304 стр. 7 иллюстраций
ISBN:
9783839234549
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