Читать книгу: «Wenn die Kindheit Schatten wirft...», страница 3

Шрифт:

Ein Verständnis dieser psychischen Prozesse täte beiden gut. Auf einer übergeordneten Ebene würde ich persönlich davon ausgehen, dass wir genau die Mutter bekommen bzw. die Mutter genau die Tochter bekommt, die für beide in diesem Leben richtig ist – als eine Herausforderung und Chance im Sinne unserer Individuation.

Mütter und Söhne

Der Einfluss einer Mutter auf ihren Sohn ist von grundlegender Bedeutung für die Entwicklung seiner Gefühlswelt. Sie stellt die entscheidenden Weichen für die spätere Beziehung ihres Sohnes zu Frauen, sie beeinflusst seine intimen Bedürfnisse und wie er später seine Rolle als Vater versteht. Die Welt des Weiblichen, mit der er durch die Mutter in Berührung kommt, umfasst symbolisch: Natur, Hingabe, Gefühle, Vertrauen in das Leben, emotionale Beziehungsfähigkeit, Fürsorge etc.

Später wird und sollte sich das Verhältnis zu seiner Mutter verändern, da die Symbiose zwischen Mutter und Sohn gelöst werden muss, er sich der Welt des Männlichen zuwenden kann. Hierbei ist der Vater, als erste männliche Bezugsperson, von großer Bedeutung, da er seinem Sohn als Vorbild dient. Falls die Bindung an die Mutter sehr stark ist, sollte im Idealfall der Vater ihn mit seiner männlichen Präsenz aktiv beeinflussen.

Es hängt vom Wesen der Mutter ab, welche wichtigen inneren Werte sie dem Jungen vermitteln kann: Eine gefühlige Mutter ist die, die ihre Rolle als Frau gerne ausfüllt und sich geliebt fühlt, weil sie sich selbst völlig akzeptiert. Andere Faktoren können die Mutter/Sohn-Beziehung ganz anders beeinflussen: Sie ist ein Denk- oder Empfindungstypus, hält noch an traditionellen Geschlechterrollen fest, verwöhnt ihren Sohn oder erzieht ihn lieber streng. Und: Kann sie das Gleichgewicht zwischen Nähe und Distanz halten (siehe auch das Kapitel „Das Dilemma von Nähe und Distanz“)?

Bei einer negativen Mutterbindung geben beide ihre Eigenständigkeit und Freiheit auf, und sie bleiben aneinander kleben. Solch eine Bindung ist oft stärker als die Beziehung zur eigenen Ehefrau: Der Mann fühlt sich immer noch vorrangig seiner Mutter verpflichtet, obwohl er eigenständig und getrennt von ihr wohnt. Ihre Gespräche klingen oft so, als seien sie miteinander verheiratet. Ursache ist meist eine Mutter, die ihren Sohn nicht loslässt oder aber ein fehlender Vater (bzw. männliche Bezugsperson), der dem Kind weder Vorbild noch Identifikationsfigur sein konnte.

Oft heiratet ein Mann mit einem negativen Mutterkomplex erst spät - wenn überhaupt - und dann je nach Mutterbild einen mütterlichen oder dominanten Frauentyp. Er bleibt aber in unbewusster symbiotischer Verbundenheit mit seiner Mutter, die weiterhin sein Leben bestimmt und die Ehe nachhaltig stört. Bekanntlich haben homosexuelle Männer mit starker Mutterbindung ein erstaunliches Einfühlungsvermögen, Sinn für Ästhetik und eine sensible Empfänglichkeit.

Der Sohn muss sich also - anders als die Tochter - zur Identifikation mit dem Vater von der Mutter lösen. Oftmals bleibt er jedoch durch unbewusste Inhalte an die Mutter gebunden, die die oben beschriebenen Gefahren (Komplexbildung, Identitätsprobleme etc.) mit sich bringen. Die unterschwelligen Emotionen werden in die späteren Partnerschaften des Sohnes übertragen, d.h. er stößt immer wieder auf Frauen, die seinem Bild von Weiblichkeit (seiner Anima) entsprechen. Sicher projizieren wir alle mehr oder weniger, wäre es anders, gäbe es wahrscheinlich weniger Scheidungen. Aber die von einer Mutterbindung geprägten späteren Beziehungen sind für den Sohn, aber mehr noch für die Partnerin, besonders problematisch.

Wenn der Sohn selektiv einen distanzierten und vielleicht etwas spröden Gefühlsausdruck bei seiner Mutter wahrnimmt - ungeachtet ihrer wirklichen Wesensart -, wird er später in Beziehungen selbst ernsthaft und verschlossen wirken. Diese Ausstrahlung macht eine Kontaktaufnahme nicht ganz einfach, weil sie andere Menschen zögern lässt, auf ihn zuzugehen, woraus der Betreffende folgert, er sei nicht beliebt oder liebenswert. Wenn Gefühle von ihm erwartet werden, flieht er lieber.

Die Schatteneltern von Frido Mann

Während ich an diesen Texten arbeite, begegnet mir „zufällig“ die Autobiografie von Frido Mann, dessen Lebensgeschichte ich mit wachsender Fassungslosigkeit las, wird sie doch massiv durch „Schatteneltern“ bestimmt. Wiederum finden wir bestätigt, dass psychische und physische Kindheitsverletzungen in allen sozialen Schichten vorkommen können. Wir erfahren hier, wie sich der Mythos einer hoch neurotischen Familie in Frido Mann fortsetzt.

Vater Michael, der jüngste Sohn von Katia und Thomas Mann, war zunächst Musiker und lehrte später als Professor für Deutsche Literatur an der Universität von Kalifornien, Berkeley. Während Vater Thomas Mann seinen Sohn Michael „ausgesprochen schlecht behandelt hat“, wurde Frido der Lieblingsenkel des Großvaters, blieb aber der ungeliebte Sohn seines eigenen Vaters. Frido verbrachte seine ersten Lebensjahre in Kalifornien, aber nicht etwa in seinem Elternhaus, sondern er wurde über all die Jahre monatelang zu den Großeltern geschickt.

Zurück von der ersten Europareise 1947 bringen die Eltern ihn wieder bei den Großeltern unter, weil sie auf eine lange Konzertreise gehen. Dieses Abschiebungsmuster setzt sich in Amerika fort, bis Frido 1949 in die Schweiz umgesiedelt wird, dort bei den Großeltern mütterlicherseits wohnt und seine Eltern für ihn „kaum mehr erreichbar“ sind. Aber dann erscheinen die Eltern doch mal wieder und mieten sogar ein Haus am Wolfgangsee; die Familie (der 2 Jahre jüngere Bruder Toni teilt das Schicksal von Frido) ist für einige Zeit vereint. Als die Eltern wieder auf Konzerttournee gehen, wird sich eine junge Hausangestellte um die Kinder kümmern.

Ende September 1952 steht eine 2-jährige Weltreise der Eltern an, und die Kinder werden in einem Internat in Bern untergebracht: „Nimmt denn das nie ein Ende? Diese ständige Fremdbestimmung, dieses unaufhörliche Hin-und-her-Geschubse? Panische Angst vor dem Alleingelassenwerden und dem Alleinsein.“ (Alle Zitate aus „Achterbahn“ von Frido Mann) Nein, es nimmt kein Ende. Die Eltern wollen 1955 für immer nach Amerika zurückgehen, und es wird beschlossen, dass Frido in das Haus seiner inzwischen verwitweten Großmutter Katia zieht und in Zürich das Gymnasium besuchen soll. Seine Eltern sind für ihn außer „in einer dünnen Briefkorrespondenz“ nicht zu erreichen. Zwei Jahre vor seinem Abitur darf er mit Toni seine Eltern in Amerika besuchen. Zum Abschied, der ihm sehr schwerfällt, fragt er seine Mutter, warum er nicht in Amerika auf die Schule gehen könne. Seine Mutter antwortet ihm („ohne rot zu werden“), dass man diese Entscheidung nur zu seinem Wohl gefällt habe, da die Schulausbildung in Europa viel besser sei (siehe Kapitel „Doublebinds“). Es dauert nunmehr 18 Jahre, bis Frido einen Besuch bei seinen Eltern in Kalifornien erkämpfen kann.

Und wie erlebte Frido seine Eltern? Es ist bekannt, dass Michael Mann sehr schwierig war, ein zu Wutanfällen und unberechenbaren, extremen Stimmungsschwankungen neigender Mann: „Er leidet sehr deutlich unter seiner eigenen Zerrissenheit und darunter, sich selbst so wenig unter Kontrolle zu haben.“ Im Gegensatz zur Mutter hat der Vater jedoch auch freundliche Wesenszüge: „So unberechenbar sich mein Vater als nervös überspannter Wüterich aufführen kann, so überraschend zugewandt, liebevoll und lebendig humorvoll kann er sein.“ Die Mutter ist zwar berechenbarer als der Vater, er schildert sie aber als unterkühlt und desinteressiert: „Ihre Beziehung zu uns Kindern besteht hauptsächlich darin, uns zu verwalten…Aber an etwas anderes kann ich mich eigentlich nicht erinnern: an irgendeine körperliche Berührung von ihr.“

Als Fridos erste Liebesbeziehung (1962) zerbricht, stürzt er in eine tiefe Krise: „Dicht am Abgrund von Todessehnsucht überfällt mich zeitweilig die Angst, den Verstand zu verlieren.“ Er gewinnt den Kampf gegen seine selbst zerstörerischen Kräfte. Nach einem Musikstudium an der Zürcher Musikhochschule mit Abschluss an der Accademia Santa Cecilia in Rom studiert und promoviert er (nach erfolgter Konversion) in katholischer Theologie. Dann folgt ein Psychologiestudium, das er mit einem Diplom abschließt, und schließlich arbeitet er als Klinischer Psychologe an einem Psychiatrischen Krankenhaus. Sein beruflicher Lebensweg hat noch viele Stationen, die ich hier aussparen möchte.

Frido war geschlagen mit dem schwierigen Wesen eines Macht ausübenden und dominierenden Vaters, der ihn in seinen kreativen (Musikstudium) und religiösen (Theologiestudium) Bestrebungen nicht unterstützte, im Gegenteil: er wollte seinen Willen durchsetzen. Wechselbäder bestimmten diese Beziehung: Der abweisende und abwesende Vater, der kritisierte und dem Kind wenig Selbstvertrauen gab, aber auch der liebevolle, musische Vater, der ihm in der Jugend den Zugang zur Musik öffnete und ihn später diese nicht studieren lassen wollte. Der enttäuschende, physisch und psychisch abwesende Vater, der ihm keine Identifikationsmöglichkeit bot und Frido nicht in seiner werdenden Persönlichkeit stärkte. Es ist aber auch der Vater mit einem großen kreativen Potenzial, das er in diesem Falle an seinen Sohn weitergegeben hat.

Seine Bedürfnisse nach Zugehörigkeit, Nähe, Harmonie und Sicherheit durch Beziehungen wurden durch seine Mutter nicht erfüllt, jedoch teilweise von den Großeltern Mann, denn er hielt sich gerne in ihrer Nähe auf. Die fehlende Nähe und Geborgenheit, die für jedes Kind über-lebenswichtig ist, erzeugt eine nachhaltige Sehnsucht nach dieser unerfüllten Liebe und lässt den Menschen lange nach Ersatzmüttern suchen, wo doch eigentlich immer nur die Eine gemeint ist. Die Alma Mater, die nährende Mutter, ist ein Begriff, mit dem im deutschen Sprachraum die Universität bezeichnet wird. Frido Mann absolvierte ein Musik-, Theologie- und Psychologie-Studium und studierte schließlich mit 44 Jahren noch fast 4 Semester Medizin. Wir können diesen Studieneifer unter anderem auch auf seine verzweifelte Suche nach Zugehörigkeit und Geborgenheit zurückführen, die seine Mutter ihm verweigerte. Ersatz suchte und fand er in jener Übermutter, der Alma Mater, und im „Schoß der Kirche“, der Über-Über-Mutter sozusagen.

Wenn man über ein Familienmitglied der Familie Mann schreibt, kommt man nicht umhin, über den Übervater, den Lichtspender, aber auch „Schattenwerfer“, Thomas Mann zu sprechen, der das Leben seiner Kinder und Kindeskinder so prägend beeinflusste. Auch Frido Mann stand lange in seinem Schatten, er verübelte ihm die „literarische Verewigung als Nepomuk Schneidewein, genannt ‚Echo’, der im ‚Doktor Faustus’ als vierjähriger Himmelsbote nach qualvoller Krankheit buchstäblich vom Teufel geholt wird.“ Frido reagierte darauf sehr empfindlich und weigerte sich in der Folge sein halbes Leben, die Werke seines Großvaters zu lesen. Das Thema Abgrenzung von der Familie und besonders von seinem Großvater nahm einen großen Raum in seinem Leben ein. Natürlich wurde auch er, wie all die anderen Nach-Manns, immer an dem großen Thomas Mann gemessen, besonders als er in späteren Jahren begann, eigene Bücher (noch dazu Romane) zu verfassen.

Wir sehen hier, wie auch in sozial gut oder „besser“ gestellten Familien, in der man ein gewisses Niveau erwarten könnte, Kinder misshandelt und grob vernachlässigt werden.

Die Schatteneltern von Karin

An dem Beispiel von Karin möchte ich zeigen, wie sich eine dunkle Kindheit auswirkt, eine Kindheit, die kaum Licht und viel Schatten wirft, zumal beide Elternteile an dem Drama beteiligt sind.

Karin wurde kurz vor Ende des zweiten Weltkrieges in Norddeutschland geboren, der Vater war im Krieg, die Mutter musste sich alleine um Haus, Hof, Schlachterei und das Kind kümmern. All diesen Anforderungen war sie kaum gewachsen, was aber nicht erklärt, warum sie keine Zeit für ihr schwer an Diphtherie erkranktes Kind hatte. Sie beauftragte stattdessen eine Flüchtlingsfrau, die mit auf dem Anwesen wohnte, sich um Karin zu kümmern. Die Ärzte hatten dem Kind - bei fehlender intensiver Betreuung - nur wenige Überlebenschancen gegeben.

Als der Vater 1948 aus russischer Gefangenschaft heimkehrte, wurde die häusliche Situation noch schlimmer. Karin lehnte den „fremden Mann“, der ihr Vater sein sollte, vehement ab, zumal er, durch den Krieg gezeichnet, sehr viel trank, jähzornig und nicht ansprechbar war. Sie bezeichnete sein Verhalten später als destruktive Machtausübung, die sich auch auf seine Ehe bezog. Die Atmosphäre im Elternhaus war kalt, nüchtern, arbeitsam, lieblos, und Karin war nie vor aggressiven Ausbrüchen des Vaters, aber auch hoch emotionalen Verhaltensweisen der Mutter sicher. Ein Jahr nach Rückkehr des Vaters wurde ihr Bruder geboren, zur großen Freude aller endlich ein „Stammhalter“. Karin zog sich weiter in sich selbst zurück, ihre Verlassenheitsgefühle verstärkten sich, aber sie wurde auch störrisch – eine Abwehrhaltung gegen all diese Verletzungen.

Karin wurde in ihren Gefühlen nicht von der Mutter gespiegelt und verlor so sehr früh den Kontakt zu sich. Dieser traumatischen Kindheit entfloh sie in Traumwelten. Voller Entsetzen erinnert sie sich noch heute an das qualvolle Schreien der Tiere, die im Schlachthaus, das neben ihrem Kinderzimmer lag, getötet wurden. Trotz allem, oder all das kompensierend, entwickelte sie in der Schule und dem folgenden Studium sehr großen Ehrgeiz: Ein verzweifeltes Bemühen um Liebe und Anerkennung. Ihre erfolgreichen Ergebnisse in Schule und späterer (von ihr erzwungenen) Ausbildung wurden jedoch weiter herabgesetzt, und ihr wurde drastisch vor Augen gehalten, dass sie aus der Art schlage und sich lieber um den Hof kümmern solle. Das Geld für ihr Studium und weitere berufliche Fortbildung verdiente sie sich nebenbei selbst, da Lernen für die Eltern vergeudete Zeit und verlorenes Geld war.

Karin war also der Übermacht ihrer Eltern ausgeliefert: ihrer Kindheit fehlte eigentlich alles, was für die positive Entwicklung eines Kindes Voraussetzung ist: Liebe, Geborgenheit, Nähe, Wärme, Ur-Vertrauen, Sicherheit und Zugehörigkeit: Stattdessen wurde sie lediglich versorgt…

Die unglaubliche Wut, die sich in Karin im Laufe der vielen Jahre voller Unterdrückung, Demütigung und Ablehnung angesammelt hat, ist noch heute ihr Problem. Tiefe Gefühle und intensive Emotionen, die sie früher nicht zeigen durfte, brechen sporadisch mit aller Gewalt und Kontrollverlust aus ihr heraus. Auf jede Form von Dominanz, durch die sie gleichzeitig ihre Sicherheit bedroht sieht, reagiert sie explosiv. Allerdings bemüht sie sich bewusst, ihre Gefühle zurückzuhalten, da sie um deren Intensität und zerstörerische Kraft weiß und sich überdies nicht noch verletzlicher machen möchte.

Ihr Bruder starb in jungen Jahren durch einen Verkehrsunfall und kurz darauf verstarb auch Karins Vater, mit dem sie nach einem heftigen Streit anlässlich der Beerdigung des Bruders keinen Kontakt mehr hatte. Alle Wunden brachen wieder auf, und die Gewissheit, dass eine Versöhnung nun unmöglich geworden war, brachte sie an den Rand der Verzweiflung.

Trotz alledem konnte sie ihre guten Veranlagungen nutzen, begann, sich mit ihrem Unbewussten auseinander zu setzen, besonders mit dem inneren verletzten Kind, und ging auf die Suche nach neuen Erkenntnissen und sinnvollen Aufgaben. Sie begann eine Psychotherapie, und auch ihr Mann, mit dem sie schon viele Jahre verheiratet ist, unterstütze sie und half ihr, Licht in die schlimmen Schatten der Kindheit zu bringen. Allerdings ist das Thema Mutter noch nicht verarbeitet. Sobald Mutter und Tochter in Kontakt treten, was selten genug vorkommt, brechen alle Verletzungen und Verwundungen wieder auf, wohl auch, weil die Mutter es immer noch zu gut versteht, ihrer Tochter jedes bisschen Liebe und Aufmerksamkeit zu verweigern. Und Karin kann die Hoffnung, doch noch geliebt und anerkannt zu werden, einfach nicht aufgeben.

Das Mutterproblem von Sonja

Sonja wuchs in äußerst beengten Verhältnissen auf, der Vater verließ frühzeitig die Familie, und so war sie mit ihrer echten Schwester und einer Halbschwester ihrer dominanten Mutter ausgeliefert. Ihre Halbschwester wurde bevorzugt, ihre Schwester immerhin noch akzeptiert, aber sie selbst abgelehnt. Sie fühlte sich ungeliebt, unerwünscht und führte ein Schattendasein voller Angst, Demütigungen und Wut. Vor allem ihre Ängste vor dem Tod, besonders dem gar nicht zu erwartenden Tod ihrer Mutter, waren kaum zu ertragen, zumal sie sich niemandem anvertrauen konnte.

Als sie sich endlich durch eine Heirat von der Mutter löste, geriet sie (zwangsläufig) an einen Mann, der sie nicht viel besser behandelte als ihre Mutter. Sie hatte zu gehorchen, musste alles selbst verdiente Geld abgeben (wie bei der Mutter) und nahm mehr oder weniger Befehle entgegen. Sie schaffte es, nach der Geburt ihrer Tochter die Scheidung durchzubringen und ging zur Behandlung in eine psychiatrische Klinik, wo ihre massiven seelischen Verwundungen fachärztlich behandelt wurden. Heute allerdings, mit sechzig Jahren, hat sie immer noch Probleme mit ihrer Selbstbehauptung, möchte es jedem recht machen, widerspricht selten und fühlt sich sehr schnell immer noch unerwünscht. Die psychische Vernachlässigung und Misshandlung durch ihre Mutter hatten aber auch eine Ansammlung von Wut und Zorn zur Folge, die sie tief in sich vergrub. Ein Ausleben dieser Emotionen schien ihr undenkbar.

Die fehlende Liebe der Mutter überschattete ihr ganzes Leben, zeitweise konnte sie den Alltag und alle Ängste und Panikattacken nur mit Tabletten bewältigen. Nach und nach erkannte sie, dass ihre Depressionen auch mit einer religiösen Problematik zu tun hatten. Sie wurde streng katholisch erzogen, und die ihr vermittelten Glaubensinhalte lösten in ihr Schuldgefühle, Scham und Ängste aus. Als ihre Mutter vor 10 Jahren verstarb, war das innere Drama jedoch noch lange nicht beendet. All die vorgenannten Erfahrungen und Emotionen waren so tief in ihr gespeichert, dass sie erst spät damit umzugehen lernte.

Überwältigend waren auch ihre damaligen Ängste vor dem Tod, die sie selbst zu Selbstmordgedanken trieben. Sonja weiß, dass sie ein heftiges Aggressionspotenzial besitzt mit (selbst) zerstörerischen Phantasien. Diese unglaublichen Energien müssten kontrolliert, transformiert und in kreative Bahnen gelenkt werden. Sie ist in ihrem Leben viele psychische Tode gestorben - vielleicht zu viele -, aber der Prozess des Werdens scheint beschritten und dauert an.

In Sonjas Fall müsste wohl die Idealisierung der Mutter geopfert werden, die verlorene Kindheit und ihr Opfer-Selbstbild des vernachlässigten Kindes sowie auch die Illusion, doch noch in sich eine Mutter/Kind-Idylle schaffen zu können. Da Opfern nicht heißt, dass wir nur etwas verlieren oder uns etwas weggenommen wird, sondern wir damit auch eine neue Lebensperspektive entwerfen können, hat sie die Chance, das Potenzial durch sinnvolle neue Aufgaben zu entfalten.

Mutterbindung: Antoine Saint-Exupéry

Fast alle Biografen schreiben über Antoines wunderbare Kindheit, die er in Schlössern verbrachte: Als ob das schon die Garantie für eine Kindheit ohne Probleme wäre. Als mir das Buch von Eugen Drewermann begegnete: „Das Eigentliche ist unsichtbar“, eine tiefenpsychologische Deutung des „Kleinen Prinzen“, löste sich das Kindheits-Rätsel nach und nach. Man kann das Wesen von Saint-Exupéry nur wirklich begreifen, wenn man um seine unaufgelöste und unauflösliche Mutterbindung mit gleichzeitiger Angst vor der mütterlichen Vereinnahmung weiß. „Im gewissen Sinne kann man die Geschichte vom ‚Kleinen Prinzen’ lesen wie eine verschlüsselte Kindheitserinnerung, wie eine Art privaten Regenerationstraum. Die Symbolik der Rose dürfte uns hier besonders interessieren: „Dieses Geheimnis der Rose entdeckt man freilich nur mit den Augen der Psychoanalyse, dann aber unzweideutig und klar: als das Geheimnis der Mutter.“ (Drewermann: ebda.)

Im Jahr 2000 erschien dann das Buch „Die Rose des kleinen Prinzen - Erinnerungen an eine unsterbliche Liebe“ von der Salvadorianerin Consuelo de Saint-Exupéry, die in dritter Ehe mit Antoine verheiratet war. Sie berichtet über das Leben an seiner Seite, seine Untreue, Leidenschaft und seinen Don-Juanismus, von Brüchen, Ausbrüchen, Trennungen und den dunklen Tiefen dieser Verbindung. Vor allem erfahren wir, dass sie in der „Rose“ verewigt worden sein soll. Also sie und nicht die Mutter?

Die diesbezüglichen Aussagen der beiden vorgenannten Bücher schließen einander nicht aus, denn der Ausgangspunkt von Exupérys Bindungsunfähigkeit bzw. seiner Unfähigkeit, echte Beziehungen mit Frauen einzugehen und seiner neurotischen Untreue, wird in der Bindung an die Mutter zu finden sein. Die unzähligen Briefe, die Saint-Exupéry von 1910 bis 1944 an seine Mutter schrieb, sind erhalten geblieben, und wir können in ihnen nachlesen, wie besorgt, traurig, voller Verantwortung und Schuldgefühle, vor allem mit welcher unglaublichen Liebe und Zärtlichkeit er an seiner Mutter hing. Seine Briefe, die er im Alter von 21 Jahren verfasste, sind ebenso dramatisch und wehmütig gefühlvoll wie die 20 Jahre später. Sie setzen sich auch nach seiner Heirat 1931 fort und verdeutlichen, „wie vollkommen gebunden Exupéry an seine Mutter zeit seines Lebens war.“ (Eugen Drewermann: ebda.) So ist Exupéry nie aus der symbiotischen Verschmelzung mit seiner „Rose“ herausgekommen.

Exupery litt unter massiven Schuldgefühlen, Depressionen, Selbstvorwürfen mit dem Anspruch an sich, die Mutter (allerdings aus der Ferne) zu schützen, für sie zu sorgen, sie zu behüten und zu verwöhnen. Aber gleichermaßen suchte er auch Schutz bei ihr mit dem inständigen Wunsch, zu ihr nach Hause zu kommen. „Ich brauche Dich ebenso sehr wie damals, als ich ganz klein war…Du bist meine Zuflucht, Du weißt alles, Du lässt alles vergessen, und ob man will oder nicht, man fühlt sich als ganz kleiner Junge.“ (1922) Auch noch 5 Jahre nach seiner Heirat schrieb er an seine Mutter: „Ein wenig Consuelo zuliebe bin ich heimgekommen, aber durch Dich, Mama, kommt man heim. Die Du so schwach bist, wusstest Du Dich so sehr als Schutzengel und stark und weise, dass man zu Dir betet, allein, in der Nacht?“ (Antoine de Saint-Exupéry: Briefe an seine Mutter)

Als der Vater starb, war Antoine 4 Jahre alt, ein schwieriges Alter, da es in die ödipale Phase fällt, in der ein Junge beginnt, seine Mutter zu begehren, für die er die wichtigste Person sein will. Das impliziert aber auch, dass er sich den Vater wegwünscht. Dadurch wiederum kann man vermuten, dass Antoine sich für den Tod des Vaters schuldig fühlte, denn seine gedanklichen Wünsche, der Vater möge verschwinden, haben sich ja erfüllt. Drewermann schreibt zu der Problematik des fehlenden Vaters: „…er selbst, der ‚Kleine Prinz’ wird daher auf seine Mutter Acht haben müssen; er selber wird sie umsorgen und behüten und alles nur Erdenkliche für sie tun; er wird ,…, als tapferer Streiter für den Schutz und die Ehre seiner Mutter ins Feld ziehen – eine höchst strapaziöse Doppelrolle, in welcher das Kind als der beschützte Beschützer, um von der Mutter geliebt zu werden, im Grunde die Stelle ihres Gatten übernehmen muss.“ (Drewermann: ebda.)

Über die Mutter sind nur wenige Einzelheiten bekannt: „Da ist seine dominierende Mutter, die Hüterin des Heims, die Mutter, welche die Kindheit verzaubert, das Bild der Treue und Beständigkeit. Diese Motive verklärt er und überträgt sie auf Frauen.“ (Vorwort von Alain Vircondelet zu „Die Rose des kleinen Prinzen“)

Eine sorglose Kindheit, in der das Kind verwöhnt und verzärtelt wird, bringt jedoch die Gefahr mit sich, dass es später ein melancholisches, trauriges und nie endendes Heimweh nach dieser Zeit verspürt. Der Erwachsene braucht dann immer noch dringend Nähe und Zugehörigkeit, Wärme und Geborgenheit. Eine meist vergebliche Suche, und so wird man wieder zum kleinen Kind, und die Mutter bleibt die Quelle der ungestillten Sehnsucht. Es ist bekannt, dass eine Art Rastlosigkeit Saint-Exupéry sehr umtriebig machte. Immer auf der regressiven Suche nach der Mutter, und sei es in Form der „Mutter Erde“, mit dem gleichzeitigen Wunsch, ihr zu entfliehen oder eben zu „entfliegen“.

Wieso übernimmt Exupéry diese Rolle des Bemutternden und Verantwortungsvollen und überschüttet seine Mutter mit soviel Fürsorge? Immer um Wiedergutmachung bemüht? Die Antwort liegt wahrscheinlich in den Schuldgefühlen, die mit dem Tod des Vaters einhergingen, den er sich ja als Kind „weg gewünscht“ hatte. Wir können auch vermuten, dass die Erschütterung der Mutter durch den Tod ihres Mannes einen großen Einfluss auf Antoines Unbewusstes und seinen Lebensweg hatte. Das würde auch das Beschützenwollen und Trösten der Mutter erklären. Ein Kind fühlt gerade die geheim gehaltenen Emotionen - und die Mutter wird ihre verzweifelten Gefühle nicht vor dem Kind ausgelebt haben - so als ob es seine eigenen wären. Es ist auch möglich, dass Saint-Exupéry die Verlusterfahrungen durch den Tod des Vaters selbst als bedrohlich erlebte, und er sich so an die Mutter klammerte, weil er fürchtete, dass auch sie ihm genommen werden könnte.

Бесплатный фрагмент закончился.

956,63 ₽
Жанры и теги
Возрастное ограничение:
0+
Объем:
210 стр. 1 иллюстрация
ISBN:
9783753192116
Издатель:
Правообладатель:
Bookwire
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают