Читать книгу: «Der Meerkönig», страница 10

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»Und Du?« fragte die Frau vorwurfsvoll, als sie bemerkte, daß ihr Mann den Kragen seines Rockes emporschlug und ein Paar zerrissene Soldatenhandschuhe anzog.

»Ich? Was sollte ich wohl thun? Ich gehe, um Euch nicht zu stören und mir ein anderes Unterkommen zu suchen.«

»Hast Du denn gar kein Erbarmen? Gieb mir das Blatt zurück und glaube mir, die rechtliche Verwendung desselben bringt uns größeren Segen, als die Ausführung des Planes, den Du vielleicht ersonnen hast!«

»Was weißt Du von meinen Plänen?« hohnlachte der Bösewicht, indem er davonschritt. »Ich werde den Fetzen so zu verwenden suchen, daß es nicht allein Euch, sondern auch mir zu Gute kommt, ja, und zwar ordentlich zu Gute - hahaha!«

Er lachte noch, als der hölzerne Riegel der Stubenthür hinter ihm in den ausgekerbten Pflock sank; er lachte noch, als er über den kleinen, durch die Schnee-Anhäufungen fast ungangbar gewordenen Hof hinschritt. Dann aber wurde er still, denn wo das Verbrechen auf seinen dunklen Pfaden einherschleicht, da fürchtet es überall Verrath, und sorgfältig vermeidet es jedes Geräusch, welches unberufenen Ohren seine Nähe verkünden könnte. -

»Alles vergebens!« stöhnte die von Seelenleiden und körperlichen Qualen gefolterte Frau, als sie die Hausthür hinter ihrem Manne dumpf in's Schloß fallen hörte. »Ich muß es dulden, ohne hindernd einschreiten zu dürfen, wenn ich nicht ihn und auch mich in's Zuchthaus bringen will! Hu, wie es mich eisig kalt überläuft!«

Und wie um sich dadurch der sie unablässig verfolgenden Schreckbilder zu erwehren, rief sie ihr Töchterchen herbei.

Das Kind kam und schmiegte sich, unter die Decken kriechend, dicht an seine Mutter an.

»Ach, wie weich und warm sind die schönen Decken!« murmelte es nach einigen Minuten schlaftrunken. »Mutter, wenn es doch gar nicht wieder Tag werden wollte, es liegt sich jetzt so schön hier!«

Die Mutter warf einen eigenthümlichen Blick auf die blauen Gasflämmchen, die über den verglimmenden Kohlen des niedergebrannten Holzes tanzten; ein zweiter Blick flog nach dem verbogenen eisernen Handgriff hinauf, mittels dessen man dem Rauch und mit diesem herausströmenden Gase den Weg nach dem Schornsteine abschneiden konnte, und dann schauderte sie heftig zusammen. Fester drückte sie ihr schlafendes Kind an sich, heiße Thränen drangen in ihre Augen, und »Lieber Gott im Himmel, verzeihe mir meine Sünden!« tönte es leise von ihren Lippen.

Tiefe Stille ringsum; unter der Lumpenhülle schlugen zwei Herzen in treuer Liebe an einander, die der holde Schlummer in süße Vergessenheit ihrer traurigen Lage versenkt hatte.

Von den anderen Theilen des baufälligen Hauses herüber erschallte unheimlich der wilde, unsittliche Gesang von Menschen, die sich durch widerwärtige Mittel gegen die Kälte und das Bewußtsein ihres Daseins zu betäuben suchten. Ueber der Stadt aber, über den noch immer glänzend erleuchteten Palästen der Reichen wie über den traulichen Wohnungen betriebsamer Bürger und den Höhlen des Lasters und des Elends funkelten gleich hell und friedlich die Sterne von dem klaren, winterlichen Himmel nieder. - -

»Die unglückliche Frau ist entweder selbst eine schlaue Betrügerin, oder sie steht unter dem Banne eines gefährlichen Menschen, der eine unerhörte Tyrannei über sie ausübt,« begann der Doctor, sobald er mit der Gräfin am Arme auf die Straße hinausgetreten war.

»Es ist nicht möglich,« entgegnete Renate, in tiefen Zügen die erfrischende Luft einathmend.

Der Doctor pfiff, wie in Gedanken, ein kurzes Signal; die Gräfin lächelte, trotz ihrer ernsten Stimmung, über des Doctors vermeintliche Zerstreutheit.

Sie konnte nämlich nicht sehen, daß auf das Signal aus dem Schatten desselben Hauses, welches sie eben verlassen hatten, ein in einen weiten Mantel gehüllter Mann trat, der ihnen in bestimmter Entfernung durch die engen Straßen hin nachfolgte.

»Und dennoch ist es nicht nur möglich, sondern sogar sehr wahrscheinlich,« bekräftigte der Doctor endlich seinen Ausspruch; »jedenfalls umgiebt die Frau ein geheimnißvolles Dunkel, welches zu durchdringen ich wohl die Kraft besitzen möchte. Zuerst will sie mir ein Geheimniß anvertrauen, welches ihr das Herz abzustoßen droht; sie will mir ein Mittel in die Hände geben, andere Menschen vor Unheil zu bewahren oder ihnen bereits zugefügtes Unrecht wieder zu sühnen; sie bittet sogar, daß ich einen Zeugen mitbringen möge, und nun, da wir kommen, läugnet sie plötzlich Alles ab.«

»Dabei schien sie aber wirklich von schweren Seelenleiden heimgesucht zu sein,« versetzte Renate begütigend, denn es schmerzte sie, den Doctor an der Aufrichtigkeit der unglücklichen Frau, die in ihren Augen durch das Elend gleichsam geheiligt wurde, zweifeln zu hören.

»Ganz recht, mein liebes Kind, Sie haben eine scharfe Beobachtungsgabe, oder vielmehr, Ihr gutes Herz hat Sie diesmal wohl nicht getäuscht. Auch ich will gern das Beste glauben, so lange mir nicht Beweise vom Gegentheile vorliegen; allein ich kann nicht umhin, abermals zu behaupten, daß nicht Alles so ist, wie es sein sollte. Wem die Schuld beizumessen ist, hoffe ich herauszubringen; ohne Zweifel aber sind wir auf die eine oder die andere Art hintergangen worden. Denn wie wäre sonst das Papier, welches die deutlichsten Spuren trug, daß es vor ganz kurzer Frist sehr schlechtem Tabak zur Hülle diente, auf den Feuerherd gekommen? Nein, nein, mein liebes Kind, die Sache ist nicht klar; ein Mann ist während meiner Abwesenheit da gewesen - das Tabakspapier beweist es -, und es sollte mich gar nicht wundern, wenn er der Frau sammt dem Kinde den Daumen auf's Auge gedrückt hätte.«

»Sie beabsichtigen doch nicht etwa, den Unglücklichen deshalb unseren Schutz zu entziehen?«

»Tausend Welt, meine theure Renate, wie vermögen Sie Ihren alten Freund so zu verkennen? Nein, um Gottes willen nicht, im Gegentheil, ich werde meine Augen nur noch schärfer auf sie richten, um endlich hinter die Wahrheit zu kommen! Dabei sollen Ihre Aufträge nicht verabsäumt werden, und schon morgen will ich durch einen sichern Mann Alles, was Sie der Frau und ihrem Kinde zugedacht haben, zu denselben in's Haus schaffen lassen.

»Ja, sehen Sie, meine liebe Renate,« fuhr der Doctor plötzlich hastiger fort, indem er im Eifer der Gräfin seinen Arm entzog, einen Schritt zurücktrat und seinen Stock heftig auf die Erde stieß, »darum duldete ich auch nichts daß Sie der Frau baares Geld, einhändigten! Erstens fehlt solchen Leuten, die bereits so tief in's Elend gesunken sind, in den meisten Fällen die ruhige Ueberlegung, die sie in den Stand setzt, nach einem bestimmten Systeme zu handeln, die dringendsten Mängel herauszuerkennen und diesen zuerst, und zwar auf vernünftige Weise abzuhelfen, und dann wieder hätten wir vielleicht das Vergnügen gehabt, daß irgend ein beliebiger Strolch einen Theil des Geldes für Branntwein, Rauchtabak und wer weiß was sonst noch hingegeben hätte. Ja, so hätte es kommen können - Tausend Welt - und zu solchen Ausschreitungen muß man keine Gelegenheit bieten, und damit basta!«

Bei den letzten Worten stieß der immer mehr und mehr in Eifer gerathene alte Herr seinen Stock heftig auf die Erde, und sich dann schnell umkehrend, eilte er, seine kurzen Beine zu mächtigen Schritten zwingend, von der Gräfin fort.

»Lieber Herr Doctor, Sie wollen mich doch nicht mitten in der Nacht auf offener Straße allein stehen lassen?« rief Renate mit vorwurfsvoller Stimme, der man indessen anhörte, in wie hohem Grade ihres väterlichen Freundes eigenthümliches Wesen sie ergötzte.

»Tausend Welt, liebe Renate,« erwiderte der Doctor, indem er noch schneller wieder zurückkehrte und der Gräfin den Arm bot, »verzeihen Sie mir, mein gutes Kind, ich war ein Esel! Hm, mitten in der Nacht auf offener Straße und ganz allein! Seien Sie mir nicht böse, Sie kennen mich ja, habe manchmal wichtigere Dinge zu bedenken ...«

»Als Ihre gehorsame Renate,« schaltete die Gräfin mit erkünsteltem Ernst ein.

»Das wollte ich gerade nicht sagen, aber doch Aehnliches,« entgegnete der Doctor ruhig, mit beschleunigten Schritten aus der letzten engen Gasse in eine breite Straße biegend, in welcher etwa hundert Schritte weiter abwärts der eben von einer langsamen Rundfahrt zurückgekehrte Wagen sie erwartete; »ja, etwas Aehnliches - das Ganze kam indessen auf eine Entschuldigung heraus - ja, sich so etwas vorzustellen: mitten in der Nacht und ganz allein auf offener Straße, und dabei friert es, daß die Sterne vom Himmel fallen möchten; aber Sie haben noch junges, warmes, Blut, und da schadet Ihnen der nächtliche Spaziergang nicht, im Gegentheil, Sie werden doppelt gut darnach schlafen, und außerdem dürfen Sie sich sagen, daß Sie zwei arme, leidende Menschenseelen beglückt haben, was besser ist, als eine Gesellschaft bei der stolzen Gräfin Clotilde.«

»Wofür die leidenden Menschenseelen allein dem Doctor Bergmann zu Dank verpflichtet sind,« fügte die Gräfin mit unverkennbarer Herzlichkeit hinzu; »aber, lieber Herr Doctor, ich habe jetzt wirklich von dem Spaziergange genug und möchte gern meinen Wagen benutzen.«

»Wagen?« fragte der Doctor, überrascht, indem er stehen blieb und sich verwundert umschaute, denn er hatte nicht bemerkt, daß sie dicht an dem den Wagenschlag offen haltenden Diener vorübergeschritten waren und die Equipage sich bereits, ihnen folgend, in Bewegung gesetzt hatte.

»Ja, den Wagen, Herr Doctor,« wiederholte Renate, gegen ein schalkhaftes Lachen ankämpfend.

»Richtig, da ist er ja; Tausend Welt, den muß ich wahrhaftig übersehen haben!«

»Ohne Zweifel,« bekräftigte Renate; dann aber sich dem Doctor zuneigend, flüsterte sie: »Sehen Sie den Mann dort? Mir war, als folgte er uns bereits in der letzten Straße, und jetzt steht er still.«

»Lassen Sie ihn nur stehen, mein liebes Kind,« versetzte der Doctor, indem er seinem Liebling in den Wagen half, »der thut Ihnen nichts und mir nichts, ich kenne ihn genau; er war beauftragt, uns zu folgen, denn dahin, wo wir heute Abend gewesen sind, geht man nicht, ohne wenigstens einen Freund in der Nähe zu wissen.«

»Aber um Gottes willen, wer ist es denn? Sie begreifen, lieber Herr Doctor, es kann mir nicht gleichgültig sein, wer meine Handlungen überwacht.«

»Ruhig, ruhig, meine gute Renate, der dort ist sicher und verschwiegen, und wenn Sie es durchaus wissen wollen: es ist mein Neffe, der sich auf Urlaub hier befindet.«

»Doch nicht der Heinrich?«

»Ganz richtig, mein Heinrich, der bei der Artillerie steht.«

»Und den haben Sie mir noch nicht zugeführt? Es muß wenigstens acht Jahre her sein, seit ich ihn nicht sah; er war damals Fähnrich.«

»Ist hier was zuzuführen; aber wollen Sie den Jungen wiedersehen, so wird er Ihnen nächstens seine Aufwartung machen.«

»Nun, Sie fahren nicht mit?« fragte die Gräfin, als der Doctor einen Schritt zurücktrat und den Diener bedeutete, den Kutschenschlag zu schließen.

»Nein, meine theure Renate; ich habe von hier aus nicht weit bis zu meiner Wohnung; außerdem muß ich mich auch um den Jungen kümmern, den ich, als ich zu Ihnen eilte, im Vorbeigehen aus dem Casino herausholte und mit kurzen Worten auf seinen Posten schickte. Also auf Wiedersehen morgen im Laufe des Tages!«

Die Gräfin reichte ihre Hand hinaus; offenbar wollte sie noch etwas sagen, allein der Wagen hatte sich auf des Doctors Ruf: »Vorwärts, nach Hause!« schon in Bewegung gesetzt.

»Braves, liebes Mädchen; gerade wie ihre Mutter,« sprach der Doctor laut vor sich hin, indem er dem Wagen mit hastigen Schritten nachfolgte.

»Unstreitig das beste Mädchen von der Welt, oder der Herr Doctor würden den steifgefrorenen Neffen darüber nicht ganz vergessen haben,« ertönte plötzlich eine heitere Männerstimme an seiner Seite, und zugleich schob sich ein Arm mit zutraulichem Wesen unter den seinigen.

»Tausend Welt, Junge, hatte Dich wahrhaftig vergessen!« fuhr der Doctor erfreut auf, ohne indessen seine Eile zu mäßigen. »Hast Deine Sache übrigens gut gemacht, ganz gut gemacht, bin sehr zufrieden mit Dir. Hm, nur etwas weiter zurück hättest Du bleiben müssen; sie hat Dich entdeckt und aus Anhänglichkeit an mich den Wunsch ausgesprochen, Dich in ihrem Hause zusehen; mußt also schlechterdings zu ihr.«

»Und warum sollte ich auch nicht?« fragte der Officier lachend.

»Das will ich Dir sagen: erstens liebe ich es nicht, meinen Herrn Neffen auf das Privilegium seiner Uniform hin in hochadelige Häuser einzuschmuggeln, und zweitens widerstrebt es meinem Gefühle, mir gestehen zu müssen, daß man meinem Herrn Neffen aus Anhänglichkeit an mich allerlei Höflichkeiten erweist.«

»Tausend Welt, lieber Onkel,« erwiderte der Lieutenant scherzend in des alten Herrn Weise, »vielleicht bewirke ich, daß, nachdem ich aus Anhänglichkeit an Dich zum ersten Male eingeladen wurde, man die Bekanntschaft mit mir meiner höchsteigenen Person wegen fortsetzt; schmeichele ich mir doch, eine stattliche Figur zu spielen, und da ich so sehr viel von meinem Onkel haben soll, kann ich unmöglich ganz einfältig sein.«

»Schlau genug bist Du,« grollte der Doctor wohlwollend, »verstehst Dich wenigstens vortrefflich darauf, Deinem alten Onkel die schwachen Seiten abzulauschen.«

Der Neffe lachte, der Onkel lachte, und dann plauderten sie wieder so lustig mit einander, als ob sie ein paar muthwillige Schulkameraden gewesen wären, die, nachdem sie sich etwas zu lange auf der Straße herumgetrieben, mit erheuchelter Furcht der sie zu Hause erwartenden Strafpredigten gedachten.

Ja, ja, die Frau Doctorin war eine liebe, gute Dame, aber auf Ordnung hielt sie streng, und nicht eher suchte sie die nächtliche Ruhe, als bis sie sich von dem glücklichen Eintreffen ihres Herrn Gemahls überzeugt hatte.

9. Der Handel.

Vierzehn Tage waren verstrichen, vierzehn schöne, kurze Wintertage, ohne daß auch nur ein Wölkchen während der ganzen Zeit den Himmel getrübt hätte. Heller, klarer Sonnenschein wechselte regelmäßig mit mildem Mondlichte und geheimnißvollem Sternengefunkel ab; aber trotz Sonnenscheins und lieblicher Himmelsbläue schlummerte die Natur unter ihrer schweren, weißen Schneedecke so fest, als ob sie nie wieder habe erwachen wollen.

Auch bei den Menschen hatten die gewöhnlichen Wechsel stattgefunden. Hier war Jemand gestorben; dort hatte ein junger Weltbürger zum ersten Male das Tageslicht erblickt; Herr Seim hatte mit Thränen der tiefsten Rührung in den Augenwinkeln die Weihnachtsgaben von den frommen Gönnerinnen seiner Anstalt in Empfang genommen, hatte in einem ergreifenden Artikel in den verbreiterten Zeitungen die Freude seiner beglücken Lieblinge geschildert und im Uebermaße von Dankbarkeit sich sogar einzelne Andeutungen, wie: »Frau Geheime Commissionsräthin X. nebst Tochter,« »Frau Gräfin C ...,« erlaubt; mehrere Bälle waren in den vornehmsten Häusern der Stadt gegeben worden, und tausend andere derartige wichtige Ereignisse und Begebenheiten, die gerade fällig, hatten die gewohnten und gewöhnlichen Wechsel in dem alltäglichen Leben bewirkt.

Aber auch von manchem ungewöhnlichen Wechsel der Dinge wäre zu erzählen gewesen, wenn man sich nur die Mühe gegeben hätte, danach zu forschen; von Veränderungen und Verwandlungen, so groß und merkwürdig, daß man beim Anblicke derselben seinen eigenen Augen kaum traute und sich verwundert fragte, wie es denn eigentlich möglich sei.

Eine derartige gründliche Umwandlung machte sich indessen nirgends in höherem Grade bemerklich, als in der kleinen Hofwohnung des verrufenen Hauses, welche Doctor Bergmann und Renate vierzehn Tage früher als eine Entsetzen erregende Höhle kennen gelernt hatten.

Die Wände waren freilich noch die alten und nichts weniger, als in baulichem Zustande, eben so der Fußboden und der kleine Feuerherd; allein eine ganz andere Atmosphäre herrschte in dem Gemache, eine Atmosphäre, von der man kaum zu entscheiden wagte, ob sie von dem regelmäßigen Durchlüften und künstlichen Erwärmen herrühre, oder von der übrigen Einrichtung, die, obwohl sehr einfach, doch der Räumlichkeit einen gewissen Charakter des Wohnlichen verlieh.

In dem Winkel, der als der am mindesten feuchte erkannt worden war, stand ein sauberes Bett, und neben diesem ein kleineres, beide mit Matratzen, Kopfpfühlen und Decken zur Genüge versehen.

Ein Tisch, eine Commode, ein Vorrathsschränkchen und vier Stühle standen außerdem noch an den Wänden umher, und leicht entdeckte man, daß Kasten und Fächer nicht leer waren, sondern eben so wohl Kleidungsstücke und die unentbehrlichste Wäsche, als auch gesunde und nahrhafte Speisevorräthe enthielten.

Die Sachen waren allerdings nicht mehr neu, doch entsprachen sie ihrem Zwecke vollkommen, und es gehörte eben kein großer Scharfsinn dazu, zu errathen, daß die einzelnen Gegenstände mit weiser Sparsamkeit, augenscheinlich, um recht weit mit einer bestimmten Summe zu reichen, ausgewählt worden waren.

Die Frau selbst, obwohl noch immer das Bild einer Schwerkranken, saß auf einem bequemen Armstuhle neben dem Küchenherde, wo die von dem kleinen Feuer ausströmende Hitze ihr am meisten zu Gute kam. Ein warmes Kleid umschloß ihre hinfällige Gestalt, eine wollene Haube ihr dünnes, aber wohlgeordnetes Haar, und mit einem unbeschreiblichen Ausdrucke des Schmerzes und der Wehmuth blickte sie auf ein zwischen ihren hageren Fingern befindliches Strickzeug, welches sie indessen mehr aus Lust zur Arbeit aufgelegt hatte, als daß sie wirklich schon etwas mit ihren Händen zu verdienen im Stande gewesen wäre.

Ihre Tochter saß ihr gegenüber auf der anderen Seite des Herdes und blätterte in einem Bilderbuche, welches zugleich die Stelle einer Fibel vertrat, und richtete zuweilen Fragen betreffs der großen, bunten Buchstaben an ihre Mutter.

Das Kind zeigte den Ausdruck vollständiger innerer Zufriedenheit; es war ja warm und zweckmäßig bekleidet, trug feste Schuhe auf den Füßen, besaß also mehr, als zu erlangen es jemals zu hoffen sich getraut hätte.

In demselben Maße aber, in welches es sich in seiner neuen Lage zurechtfand, ging auch viel von der ängstlichen Scheu verloren, mit der um sich zu spähen ihm schon längst zu einer schwer abzulegenden Gewohnheit geworden war. Gesprächig, wie andere Kinder seines Alters sonst zu sein pflegen, war es indessen nicht. Das Buch schien seinen Geist ausschließlich eingenommen zu haben, und selbst wenn es Fragen an seine Mutter richtete, geschah dies mit dürftigen, leisen Worten.

Die Nacht war wieder hereingebrochen, und neben der rothen Beleuchtung, die von dem Herdfeuer ausging, erhellte eine kleine Lampe das stille Gemach spärlich. Einzelne Schüsseln und Näpfchen waren auf dem Feuerherde symmetrisch neben einander hingestellt worden, ein Beweis, daß die beiden einsamen Bewohnerinnen ihr frugales Abendbrod verzehrt hatten und vielleicht daran dachten, sich bald zur Ruhe zu begeben.

Die Mutter hatte eben wieder einmal ihre Hände mit dem Strickstrumpfe matt in den Schooß sinken lassen und blickte grübelnd zu ihrem Kinde hinüber, als der in den nahe gelegenen Wohnungen zunehmende wilde, bacchanalische Lärm sie plötzlich in ihrem dumpfen Brüten störte.

»Welch' schreckliche Nachbarschaft,« sprach sie leise vor sich hin, worauf sie sich mit lauter Stimme an ihre Tochter wendete: »Nicht wahr, Riekchen, Du freust Dich ebenfalls auf's Frühjahr, wenn wir erst von hier fort und in eine ruhigere Gegend ziehen, wo wir, wie der Herr Doctor versprochen hat, Gelegenheit finden, etwas zu verdienen?«

»Warum wollen wir fortziehen?« fragte das Kind verwundert. »Es ist ja so schön hier! Wir haben Betten, Essen und Holz - nein, bleiben wir lieber hier; ich bin am feinsten im ganzen Hause gekleidet, und alle Kinder sehen mich böse an, weil es mir so gut geht und sie es nicht eben so haben.«

»Dauern Dich denn die anderen Kinder nicht?« fragte die Mutter, mit einem tiefen Seufzer die eine Hand über ihre Augen legend.

»Zuerst thaten sie mir leid; als sie mich aber schlugen und mir sagten, ich gehöre nicht mehr zu ihnen, freute ich mich, daß sie so viel schlechter seien, als ich.«

»O Gott, o Gott,« stöhnte die Mutter in sich hinein, »wie leicht gelangt man in's Elend, und wie schwer ist es, sich dem Elende und seinen nothwendigen Folgen zu entwinden!«

»Was sagst Du, Mutter?«

»Nichts, mein Kind; ich äußerte nur, Du solltest recht freundlich gegen den Herrn Doctor sein - er meint es so gut mit uns.«

»Warum will aber der Vater nichts von ihm wissen, und warum soll ich immer sagen, ich habe keinen Vater?«

»Später, später, mein Kind, soll Dich nichts mehr hindern, die reine Wahrheit zu sprechen,« versetzte die Mutter, ihr Antlitz wieder verbergend; »nur vorläufig geht es noch nicht, denn böse Menschen haben Deinen Vater an sich gezogen und er muß sich vorher von diesen losmachen.«

Sie wollte fortfahren, ihrer Tochter das Benehmen ihres Mannes in dem möglichst besten Lichte zu zeigen und zu erklären, obwohl sie selbst nicht wußte, wie dies mit Aussicht auf den gewünschten Erfolg zu beginnen sei, als die Stubenthür geräuschvoll aufgerissen wurde und Merle, der Gauner, hastig eintrat.

Die Mutter erschrak und hob mechanisch ihren Strickstrumpf wieder empor, das Kind schlug ein Blatt in dem Bilderbuche um, aber aufzuschauen wagten sie nicht, weil sie die brutale Begegnung des Eintretenden fürchteten.

Doch ganz gegen seine Gewohnheit begrüßte Merle Frau und Kind mit freundlichen Worten, und dann an den Feuerherd tretend, begann er, seine Pfeife zu füllen und anzurauchen.

Hier nun entdeckte die Frau, daß sein Gesicht förmlich glühte, doch nicht etwa, weil er geistigen Getränken zugesprochen hatte, sondern weil er innerlich über irgend etwas triumphirte, das gänzlich zu verstecken er entweder nicht die Kraft besaß oder auch nicht für der Mühe werth hielt.

Dabei hafteten seine Blicke zuweilen spähend auf dem leidenden und niedergeschlagenen Antlitze seiner Frau, als ob er in deren Seele habe lesen wollen, in wie weit er ihrer Verschwiegenheit trauen dürfe.

»Für Euch ist jetzt ganz gut gesorgt,« hob er endlich mit erheuchelter Ruhe an, »und wenn Ihr es nur gescheidt anfangt, wird es immer besser werden, nicht wahr, Riekchen?«

Das Kind nickte schweigend mit dem Kopfe, ohne zu seinem Vater aufzublicken.

»Ja, Euch geht es gut genug, und da ich, um die Geschichte nicht wieder zu verderben, weder bei Euch wohnen, noch essen darf - das Bißchen Tabaksrauch ist morgen früh wieder abgezogen - so muß ich eben sehen, wie ich es mache. Hoffentlich wird es mir ebenfalls glücken, und was ist dann für Noth? Hahaha, solch ein Leben! Riekchen, geh' schnell nach vorn zu unserem Wirthe, Du weißt ja, wo die Uhr hängt, und bringe mir ganz genau Bescheid, wie spät es ist; aber hörst Du, ganz genau!«

Das Kind entfernte sich schweigend; kaum aber hatte es die Thür hinter sich zugezogen, da trat Merle dicht zu seiner Frau heran.

»Frau,« sagte er plötzlich wie umgewandelt mit unheimlichem Ernste, indem er seine Hand schwer auf deren Schulter legte, »ich muß gleich wieder fort, und nur um zwei Worte mit Dir unter vier Augen zu sprechen, schickte ich das Kind weg. Höre mir daher aufmerksam zu und vergiß nicht, daß Dein Leben, das Leben unseres Kindes und dann auch wohl das meinige von der genauen Befolgung meiner Anordnungen abhängen; Du kannst Dir wohl denken, was ich damit meine. Also nie, und würde Dir das Messer an die Kehle gesetzt oder böte man Dir Millionen, sprichst Du eine Silbe über das Blatt aus dem Kirchenbuche; nie erwähnst Du vor irgend einem Menschen die Namen der bei dem Diebstahl mittelbar Betheiligten; ich sage Dir noch einmal: nie, wenn Du nicht zur Mörderin an uns Allen werden willst. Befolgst Du indessen meine Weisungen, so daß meine Zukunft nicht durch Deine Albernheit untergraben wird, so verspreche ich Dir, Dich fortan nicht mehr zu belästigen; Du magst hinziehen, wohin Du willst, magst Dir jede beliebige Beschäftigung suchen, ohne in irgend einer Weise von mir gehindert zu werden, es sei denn ...«

»Es hat eben zehn Uhr geschlagen,« sagte das wieder eintretende Kind.

»Zehn Uhr?« rief Merle erschreckt aus. »Dachte ich doch nicht, daß es schon so spät sei! Keine Minute habe ich zu verlieren. Also, Frau, denke an mich - Ihr mögt immerhin schlafen gehen - ich kehre heute nicht wieder zurück, vielleicht auch morgen nicht.« Und nachdem er seine Taschen prüfend betastet, entfernte er sich ohne ein Wort des Abschieds.

Die Frau saß noch immer wie zerschmettert da. In ihrem Kopfe wirbelte Alles wild durch einander, und kaum vermochte sie etwas Anderes zu denken, als daß ihr Mann auf verbrecherischen Wegen wandle und gerade an diesem Abende mit Hülfe des verhängnißvollen Blattes irgend einen verderblichen Anschlag in Ausführung bringe. Wie sollte sie es hindern, ohne ihr Kind der schrecklichsten Gefahr preiszugeben - an sich selbst dachte sie nicht einmal - und wie wäre es ihr, die sich ohne fremde Hülfe kaum von ihrem Stuhle zu erheben vermochte, möglich gewesen, überhaupt einzuschreiten oder die bedrohten Personen zu warnen?

Da vernahm sie, wie Merle von dem Hofe in das Hauptgebäude eintrat, und zugleich fielen ihre Blicke auf das Kind. Nur einen Augenblick besann sie sich, und dann rief sie dasselbe mit Angstvoller Stimme zu sich.

»Riekchen,« begann sie bebenden Herzens, »Dein Vater schwebt in der gräßlichsten Gefahr, und Du mußt ihn retten! Du bist warm angezogen - schnell, schnell - hier, nimm mein Tuch und schlage es um Deine Schultern. Folge Deinem Vater nach, aber heimlich, ganz heimlich und leise; wenn er Dich sieht, ist es sein Unglück. Folge ihm nach und sieh, mit wem er zusammentrifft; suche die Worte zu erhaschen, die gesprochen werden, und dann, wenn Du glaubst, daß Alles vorbei ist, kehre wieder zu mir zurück. Geh' jetzt schnell, meine Tochter,« fügte sie hinzu, indem sie noch einen Kuß auf des Kindes Stirn drückte, »laß Dich nicht entdecken, und glaube Deiner Mutter, wenn sie Dir sagt, daß Du ein gutes Werk thust und der liebe Gott über Dich wacht. Fort jetzt, ich höre die Hausthür gehen, fort, oder Du findest ihn nicht wieder!«

Das Kind, von jeher gewohnt, bis tief in die Nacht hinein die Straßen bettelnd zu durchstreifen, zeigte nichts weniger als Abneigung, der Mutter Gebot zu erfüllen, um so mehr, als es aus dem dringenden Tone instinctartig herausfühlte, daß es sich wirklich um eine Sache von der größten Wichtigkeit handle. Es schlug daher schnell das ihm dargereichte wollene Tuch um Kopf und Schultern, und seiner Mutter mit einem schlauen Lächeln zunickend, schlich es in seiner geräuschlosen und behenden Weise davon.

Als die Frau sich allein sah, ließ sie das Haupt wieder, wie vor Mattigkeit, auf die Brust sinken und gleichsam willenlos faltete sie die Hände auf ihren Knieen.

»Gott verzeihe mir, wenn ich mich an meinem armen Kinde versündige,« betete sie leise, »aber ich kann nicht anders! Vielleicht reiße ich ihn vom Rande des Abgrundes zurück, ehe er von ...«

Ein Schauder durchrieselte sie; die Worte, die ihr auf den Lippen schwebten, vermochte sie nicht auszusprechen; ihre Hände klammerten sich fester in einander, und erfüllt von unnennbarer Angst begann sie die Minuten zu zählen, die Zeit zu berechnen, bis zu welcher ihre Tochter wieder zurück sein könne.

Merle, nachdem er auf die matt erleuchtete Gasse hinausgetreten war, warf einen spähenden Blick um sich. Nur vereinzelte Personen verfolgten schweigend und hastigen Schrittes ihren Weg nach verschiedenen Richtungen hin, und unter diesen befand sich Niemand, der durch sein Benehmen Argwohn erweckt und zur Vorsicht gemahnt hätte.

Er zog daher den Kragen seines Rockes noch höher empor, und zwar wohl mehr, um sein Gesicht zu verstecken, als daß er die Kälte sehr empfunden hätte, und dann schlug er eiligst die Richtung nach einem belebteren Stadttheile ein, immer sorgfältig das Licht der Laternen vermeidend, sobald er Menschen in der Nähe derselben gewahrte. Seine Bewegungen führte er dabei so natürlich aus, daß selbst der schärfste Beobachter nicht im Stande gewesen wäre, seine Absicht, unerkannt zu bleiben, zu errathen. Da er sich wohlweislich hütete, durch Rückwärtsschauen Aufmerksamkeit zu erregen, so entging es ihm auch, daß ein kleines, vermummtes, schattenähnliches Wesen ihm in sicherer Entfernung auf Schritt und Tritt nachfolgte und die geübten, scharfen Augen beständig auf ihn gerichtet hielt.

Etwa zehn Minuten mochte der Gauner durch das Labyrinth von engen Gassen dahingeeilt sein, als er plötzlich in eine kurze, breitere, aber ebenfalls nur spärlich erleuchtete Straße einbog, in deren Mitte ein Gebäude thorwegartig die beiden Häuserreihen mit einander verband. Unter dem Thorwege bemerkte er mehrere Gestalten, einzelne, die gerade durch denselben hindurchschritten, zwei dagegen, welche etwas abseits standen und eifrig mit einander zu berathen schienen.

Zu diesen letzteren, die, in weite Pelze gehüllt, nur einen geringen Theil ihrer Gesichter der kalten Nachtluft preisgaben, trat er festen Schrittes heran.

»Verzeihen Sie, meine Herren,« sagte er höflich, den Rand seines Hutes leicht mit den Fingerspitzen berührend, »kann ich durch Ihre Güte vielleicht erfahren, wie spät es ist?«

»Ich sollte denken, es wäre die höchste Zeit,« antwortete es mit verstellter Stimme aus dem umfangreicheren der beiden Pelze.

»Gut, Herr Graf, dann begleiten Sie mich; dies ist nicht der Ort, an welchem man ohne Scheu Geheimnisse verhandeln dürfte, und außerdem ist es auf offener Straße zu kalt für die gnädige Frau Schwester des Herrn Grafen,« entgegnete Merle mit entschiedenem Wesen.

»Wenn wir aber nicht geneigt wären, Sie weiter zu begleiten?« fragte der Graf leise. »Wir kennen Sie nicht, und dann versprachen Sie auch, uns Ihr Geheimniß in gedrängter Kürze anzuvertrauen. Uebrigens haben wir Ihrer seltsamen Aufforderung weniger, weil wir Wichtiges von Ihnen zu vernehmen erwarteten, Folge geleistet, als aus - nun, nennen wir es: Lust an Abenteuern.«

»Sie erwarten also, nichts Wichtiges von mir zu hören, hm, dann haben Sie auch wohl kein Geld mitgebracht?« fragte der Gauner höhnisch zurück.

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9783754176504
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