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Читать книгу: «Frosch, König und Königin», страница 3

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Kapitel 3

Dominik drehte langsam den Kopf, und mit einem Auge blickte er zur Uhr. 09:47. Das war früh, für ihn, an einem Samstag. Aber er war ja auch schon kurz nach Mitternacht zu Hause gewesen.

Holger war bereits gegen zehn Uhr gestern Abend mit einer Frau verschwunden, neuer Rekord für ihn. Aber die Frau war allein gekommen und wie es schien, hatte sie Holger gekannt. Als Rekord galt es eher nicht. Stefan und er hatten darüber gelacht. Albert hatte sogleich aus Frust den Tequila für sich entdeckt. Stefan lächelte kurze Zeit später einer aparten blonden Frau zu, ohne eine Erwiderung zu erwarten. Routinemäßig, ohne große Hoffnung. Mit einer Cola in der Hand stand sie neben ihm und wartete wohl darauf, von ihm gesehen zu werden. Bald schon unterhielten sie sich angeregt und vergaßen die Welt um sich. Das lärmende Spektakel der Band, das kaum mehr als Brüllen und Zeichensprache zuließ, störte sie nicht. Was auch immer er erzählte, es beeindruckte sie oder brachte sie gar zum Lachen. Und ihr Blick hielt ihn liebevoll fest. Kurz nach elf gingen sie. »Wir wollen was essen gehen«, hatte Stefan ihm aufgeregt ins Ohr gebrüllt. Seine Augen hatten geglänzt. Und ... ganz sicher waren sie essen gegangen. Sie schienen aufrichtig fasziniert voneinander zu sein. Hatte es gefunkt? Nächsten Freitag würde er es erfahren.

Dominik stand auf. In Boxershorts und T-Shirt setzte er sich an seinen Computer. Er rief eine Seminararbeit auf, speicherte sie mit dem aktuellen Datum als Kopie ab und scrollte durch. Eine Abhandlung über Primzahlen. Dieses Wochenende würde er sich damit beschäftigen. Aus seiner braunen Ledertasche zog er ein Skript - ein Aufsatz eines japanischen Mathematikers zur ›goldbachschen Vermutung‹. Absolut aktuell. Er legte den Artikel auf die Tastatur und stand langsam auf. Diese Arbeiten würden das restliche Wochenende halbwegs erträglich machen. Er freute sich darauf.

Dominik zog sich aus, ging nackt über den Flur in sein Bad und duschte.

Seine Mutter rechnete um diese Zeit nicht mit ihm. Vielleicht las sie in ihrer Tageszeitung oder war einkaufen.

Mit zwei Marmeladenbrötchen und einem Pott Kaffee setzte Dominik sich an seinen Computer. Zeit und Raum verloren sich bald schon hinter mathematischen Thesen, die er überprüfte und durchdachte.

Er las, machte Notizen, stellte Beweise an, verzog nachdenklich den Mund oder blickte skeptisch. So vergingen die nächsten Stunden.

*

Das Klopfen an seiner Zimmertür am frühen Nachmittag bekam Dominik nicht mit. Wenn er für sein Mathematik-Studium arbeitete, was er samstags und sonntags stets ausgiebig tat, wagte seine Mutter nicht, ohne Anklopfen einzutreten. Eigentlich wagte sie nicht einmal, anzuklopfen. Umso verwunderter war er, ihren Schatten in der geöffneten Tür wahrzunehmen. Er erschreckte buchstäblich.

»Entschuldige, mein Junge. Angela ist da. Sie würde gern mit dir sprechen. Erlaubst du kurz ...?«

Angela?

Angela war der Widerspruch in Person. Sie kannten sich aus dem Sandkasten. Damals hatte er gern mit ihr gespielt. Heute mochte er sie nicht mehr. Ihre Mutter war mit seiner Mutter bekannt, nicht befreundet. Angela war ein Jahr jünger als er und sie, Angela, war für seine Mutter in den letzten Jahren beinahe so etwas wie eine Freundin geworden. Das war verrückt. Angela schien seine Mutter zu verstehen, sie schien sie zu mögen. Dass Angela seiner Mutter hin und wieder nett ihre Grenzen aufzeigte, wussten lediglich die beiden Frauen. Mehr als einmal hatte sich seine Mutter bei ihr ausgeheult und ihm später bruchstückhaft davon erzählt. »Sie ist so verständnisvoll und voll von Liebe. Wer die mal bekommt ... Was für eine unvergleichliche Frau. Und sie kann so geduldig zuhören«, schwärmte seine Mutter beständig, bald jede Woche, von ihr.

Angela war ihm über.

Dominik blieb keine Zeit zum Nachdenken. Angela stand mit ziemlicher Sicherheit im Flur neben der Tür und hörte mit – so war seine Mutter. Gleichwohl mit ihr kurz zu sprechen, würde das Wochenende mit seiner Mutter unbestritten behaglicher machen. Also, was soll es.

»Aber nur einen Moment.«

Dominik zeigte auf den Monitor und die Unterlagen, die aufgeschlagen neben der Tastatur lagen.

Monika Bendow nickte, und mit ernster Stimme sagte sie: »Ja, natürlich. Deine Arbeit geht vor. Sie möchte dich auch nur etwas fragen.«

Dominik zuckte die Achseln, stand auf und ging langsam zur Tür. Im nächsten Moment hatte seine Mutter schon Platz für Angela gemacht.

»Hallo, Dominik.«

Da stand sie. Wie hinreißend sie aussah. In den letzten zwei, drei Jahren war sie zu einer ... Nein! Sie stand neben seiner Mutter. Und das in jeder Hinsicht.

»Hallo, Angela. Was möchtest du mich -?«

»Es geht ganz schnell«, fiel sie ihm ins Wort. »Ich hab jetzt eh nicht viel Zeit.«

Dominik stand nun vor ihr, blickte ihr unaufgeregt in die grünbraunen Augen und wartete.

»Du hast gesagt, du würdest mal kommen. Wenn ich spiele. Und jetzt habe ich meine erste Hauptrolle.«

Dominik verstand nicht gleich. Erst als sein Blick auf zwei Eintrittskarten fiel, die sie ihm mit aufgeregter Hand hinhielt, erinnerte er sich. Angela studierte Schauspiel. Und wie es aussah, war das hier eine Einladung.

»Hauptrolle?«

»Ja. Es ist ein winziges Theater. Um die hundert Plätze. Nicht weit weg.«

»Und was wird gegeben?«

»Die Jungfrau von Orleans. Frei nach Schiller. Sehr frei nach Schiller. Und ich spiele die Jungfrau«, sagte Angela. Und sie errötete.

»Wie frei? Ohne Kostüme?«

Dominik wusste nicht, woher er die Frechheit zu diesen Worten nahm. Vielleicht galten seine flapsigen Fragen auch eher seiner Mutter, die mit gesenktem Kopf und geschlossenen Augen neben Angela stand und so tat, als sei sie nicht anwesend. Seine Fragen waren noch nicht ausgesprochen, da riss seine Mutter schon empört den Kopf hoch und die Augen weit auf. Wie kann man nur ...?, stand ihr ins Gesicht geschrieben. Sie schüttelte den Kopf. Ohne Kostüme war für sie gleichbedeutend mit ... nackt. Es gab auch andere Möglichkeiten. Egal, seine Worte hatten sie getroffen, so wie sie es verstehen sollte.

Touché.

»Nein. So nun nicht«, sagte Angela und lachte. »Es dauert eine Stunde und es gibt auch keine Pause. Man setzt sich hin und steht bald schon wieder auf. Wir spielen schnell. Wir wollen niemanden langweilen.« Nun lachte sie aus vollem Herzen. Es war ein wundervolles Lachen. Lange hatte er es nicht vernommen.

»Heute ist Premiere. Hier, zwei Karten. Außenplätze. Nah am Ausgang, wie du es magst.«

Dominik war beeindruckt. Sie hatte es nicht vergessen. »Wenn ich mal komme, dann bitte einen Außenplatz, neben dem Ausgang. Damit ich unbemerkt flüchten kann«, hatte er ihr vor ziemlich genau einem Jahr gesagt. Zu jener Zeit hatte sie an irgendeinem anderen bekannten Theater in Berlin eine Nebenrolle gespielt. Einen Satz. Sie war unermesslich stolz gewesen. Damals hatte er seine Karte verfallen lassen. Seine Mutter, die wie erwartet hingegangen war, hatte ihn entschuldigt. »Vorbereitungen auf eine schwierige Klausur«, hatte sie wohl entschuldigend hervorgebracht. Angela hatte es wortlos akzeptiert.

»Wäre schön, wenn du es schaffen würdest. Wenn nicht ...« Sie blickte zu seinem Schreibtisch und zuckte die Achseln.

»Premiere? Selbstverständlich komme ich. Wann? Zwanzig Uhr?«, sagte er. Ein winziges Theater. Er würde unter Menschen sein, ohne reden zu müssen. Unterhaltsamer, als den Abend neben seiner Mutter vor dem Fernseher zu beenden, war es in jedem Fall – denn darauf lief es samstagabends allzu oft hinaus. Und die Frage nach »der Frau?« da, freitags, neben dem vielen Bier, die seine Mutter sicher noch immer quälte, würde es heute nicht mehr geben.

Angelas Augen glänzten einen kurzen Moment.

Dominik räusperte sich. »Abendgarderobe?«

»Unsinn.«

»Hörst du?«, sagte er, wobei er seine Mutter versucht ernst ansah. »Ich kann bleiben, wie ich bin.«

»Ja«, sagte Angela, »du kannst bleiben, wie du bist.«

Dominik stutzte. Die Doppeldeutigkeit ihrer Wortwiederholung war sicher eher Zufall. Zumindest glaubte er das. Seine Mutter sah ihn stumm an, sie liebte Angela.

Dominik nahm die zwei Karten. »Und die andere ist sicherlich für meine Mutter.«

»Ja, sie hat mich drum gebeten.«

»Hast du?« Zynisch lächelnd sah Dominik seine Mutter an. Unverhofft war er gut gelaunt. Und einen Abend, besser gesagt, eine Stunde des Abends neben seiner Mutter in einem Theater zu verbringen, war auszuhalten – nicht nur, weil sie schweigen musste. In der Öffentlichkeit war sie von einer distinguierten Zurückhaltung, die Dominik fast ein wenig mit Stolz erfüllte. Beinahe freute er sich auf diese eine Stunde.

»Bis heute Abend. Und viel Erfolg oder wie sagt man am Theater?«

»Toi, toi, toi. Und man spuckt dem Schauspieler über die linke Schulter.«

»Na dann.« Dominik packte Angela leicht an den Oberarmen, schob den Kopf vor, zur falschen Seite, und berührte beinahe ihre Lippen. Er zuckte zurück.

»Meine linke Seite. Nicht deine«, sagte Angela lächelnd, wobei sie den Kopf noch immer leicht zur Seite gelegt hatte.

Einen Moment war Dominik irritiert. Noch nie hab ich ihre Lippen berührt. Was für ein Gedanke.

»Entschuldige«, sagte er, und langsam, diesmal sehr langsam schob er den Kopf vor – auf die richtige Seite. »Toi, toi, toi.«

Und augenblicklich waren sie wieder einen Schritt getrennt.

»Ich sage nicht Danke, das würde Unglück bringen. Und vielleicht sehen wir uns danach ja noch, falls ihr warten wollt, bis der Andrang meiner Fans vorüber ist.« Sie erzählte Unsinn und ihre Augen lachten. Das gefiel ihm.

Dominik blickte seine Mutter an. Die lächelte mit dünnen Lippen. Die Realität war zurück.

*

Das Theater war ausverkauft. Etwa hundert Personen saßen in dem kleinen Saal, unterhielten sich, lachten und warteten. Obwohl die Wände weiß und kahl waren – ein paar großflächige Fotos von früheren Aufführungen hingen links und rechts, ohne sonderlich aufzufallen –, war das Licht, das den Zuschauerraum ausleuchtete, von einer angenehmen Wärme. Eine wirtliche Atmosphäre erfüllte Saal und Zuschauer.

Seine Mutter neben ihm las aufmerksam und entspannt in der Theaterbroschüre. Auch Dominik war einigermaßen gelassen. Lange schon hatte es zwischen ihm und seiner Mutter nicht so viel Harmonie wie in den letzten Stunden gegeben. Kein boshaftes Wort war gefallen, keine missliche Frage gestellt worden. Sie hatte ihm sogar sein schwarzes Lieblingshemd gebügelt. Auch unterließ sie es, weiter von Angela zu schwärmen.

Bis jetzt.

»Hier, schau, eine ganze Seite über Angela«, sagte sie und hielt Dominik die Broschüre hin. »Sie geht ihren Weg, ganz bestimmt. Und wir dürfen uns glücklich schätzen, sie zu kennen. Dabei könnte da viel mehr ...«

Dominik wies das Heftchen barsch zurück. Und im Moment, als sie seine Ablehnung mit einem Kopfschütteln kommentieren wollte, erblickte sie Herrn Zangel, Angelas Vater. Winkend hatte er auf sich aufmerksam gemacht. »Was für ein stattlicher Mann.« Worte, die seiner Mutter vor Jahren einmal eher unbeabsichtigt über ihn herausgerutscht waren, und die sie auf der Stelle kleingeredet hatte. Seine grauen Schläfen hatten es ihr angetan – damals wie heute. Da war sich Dominik ziemlich sicher.

Sie hob die Hand, und mit einem dünnen Lächeln erwiderte sie das Winken. Ihre Augen glänzten einen kurzen Moment. Unbestritten, manchmal war seine Mutter tatsächlich eine Frau. Am Ende war Angelas Vater ihr vielleicht sogar näher als ihre Mutter, die sich nun ebenfalls nach ihnen umdrehte. Von ihr, sie war eine kleine Pummlige, hatte Angela wenig. »Ich bin so froh, dass im Krankenhaus die Babys vertauscht wurden«, war eine Bemerkung, die Angelas Vater immer gerne anbrachte, wenn es galt, seiner Frau, die allzu gern arrogant auf andere Menschen herabsah, ihre überschaubare Herzlichkeit und Attraktivität wie einen Spiegel vorzuhalten. Er hatte einen merkwürdigen Humor. Auch der gefiel Dominiks Mutter.

Zwei weitere Köpfe drehten sich nach ihnen um. Angelas Bruder, ein schlaksiger Kerl, zwei Jahre älter als er, mit seiner Freundin, die ihm Dominik nicht zugetraut hätte. Sie war ausgesprochen hübsch und hinter einer schwarzen Brille trug sie kaum versteckt einen wachen hinreißenden Blick. Wo die Liebe hinfällt. Eine andere Erklärung hatte Dominik nicht.

»Sieh nur, zweite Reihe Mitte. Da hätten wir auch sitzen können.«

»Geh hin, vielleicht tauscht jemand mit dir. Ich sitze hier sehr gut.« Dominik lachte abweisend.

Mürrisch vernahm sie seine Worte, gleichwohl lediglich am Rande. Angelas Mutter signalisierte ihr etwas mit den Händen.

»Wenn ich sie richtig verstehe, wollen sie uns nach der Vorstellung im Foyer treffen. Sie wollen wohl etwas trinken gehen. Mit uns. Ist doch nett, oder?«

»Nicht mit mir. Ich muss gleich wieder zurück an den Schreibtisch.«

Seine Mutter sah ihn empört an. »Merkwürdig, freitags interessiert dich dein Schreibtisch nie. Nur wenn du mal mit deiner Mutter zusammen -«

»Heute ist nicht Freitag. Und jetzt ...« Dominik brach ab. Die beiden Ausgänge wurden geschlossen und das Licht langsam gedimmt. Im richtigen Moment.

Sie saßen im Dunkeln. Zwei, drei Worte brachten verhalten irgendwo hinter ihnen einen Satz zu Ende. Ein letztes Husten eine Reihe vor ihnen. Schließlich war alles still.

Der Vorhang öffnete sich. Bereits zu Beginn der ersten Szene betrat Angela die Bühne. Im Gesicht weiß geschminkt, eine Kurzhaarperücke, auf der sich weiße Schminke mit grauer und schwarzer Farbe mischte, absichtsvoll unzulänglich über ihr braunes welliges Haar gezogen, mit einem roten, kegelförmigen Metallbüstenhalter, der vorn gefährlich spitz zulief, und einem Degen auf der linken Seite, den sie griffbereit festhielt, ging sie aufgeregt, dennoch in sich ruhend, von links zur Mitte der Bühne. Mit siegesgewissen Augen trotzte sie der Gegenwart, war sie bereit, die Zukunft zu verändern, zu bestimmen.

Was für eine Ausstrahlung. Sie, mit der er im Sandkasten gespielt hatte, war Jean d’Arc. Und er glaubte ihr. Er konnte den Blick nicht von ihr wenden. Angela war gut, sehr gut.

Die Stunde verging rasch. Zu rasch. Sie hatten sich doch eben erst gesetzt.

Der Applaus war stürmisch. Angelas Eltern standen auf, klatschten ihrer Tochter mit hocherhobenen Händen zu. Ihr Vater nahm seine Frau in den Arm, küsste sie. Beinahe schien es, als hätten beide Tränen in den Augen. Sie waren glücklich, und sie waren stolz.

Und Dominik? Er hielt es nicht mehr aus. Er wollte weg, einfach weg. Die Menschen um ihn, eben noch eine stumme Masse, begannen ihn mit ihren beseelten und verklärten Gesichtern zu bedrängen. Er bekam kaum noch Luft.

Als sich endlich die Ausgänge öffneten, sprang er auf. »Ich muss aufs Klo.«

»Wir treffen uns im Foyer.«

Dominik lief los und hatte Glück. Er war der Erste. Er stellte sich an das linke Pinkelbecken. Den rechten Fuß beinahe an der Wand, den Oberkörper ein wenig nach rechts gedreht, konnte ihm niemand auf den Schwanz glotzen.

Er schloss die Augen. Denken wollte er nicht, er wollte nach Hause. Ich hätte nicht kommen dürfen.

Beim Händewaschen wagte Dominik nicht, in den Spiegel zu schauen. Er starrte auf die Hände und lenkte sich ab. Er versuchte sich an einer Zusammenfassung der ›goldbachschen Vermutung‹. Es misslang. Den ganzen Tag hast du damit verbracht, und jetzt?

Dominik musste nach Hause, er musste alles noch einmal lesen. Er musste vergessen, was er hier gesehen hatte.

*

»War sie nicht toll?«

Im Foyer wurde er herzlich von Angelas Eltern begrüßt. Ihr Bruder klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter.

Dominik ließ Kopf und Blick gesenkt. Seine Mutter reichte ihm seinen Mantel.

»Danke.«

Er zog ihn an. Er wollte weg. Und ganz sicher wollte er Angela nicht begegnen. Nein, es war ihr Erfolg, ihr Triumph. Das alles hatte nichts mit ihm zu tun. Nichts hatte hier mit ihm zu tun.

»Wir warten auf Angela und gehen zusammen etwas trinken. Ihren Erfolg feiern. Du kommst doch mit?«

Ohne den Blick zu heben, schüttelte Dominik den Kopf. »Mir geht es nicht gut. Ihr müsst mich entschuldigen.«

Er sah seine Mutter kurz an. »Geh nur mit. Und sag ihr, sie war fantastisch.«

»Du siehst wirklich schlecht aus«, sagte Angelas Mutter und strich ihm sacht über das Haar. »Du bist so blass. Hast du etwas gegessen, das dir nicht bekommen ist?«

Dominik zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht ... Vielleicht ... nur die Luft hier ... Ich muss raus.«

»Ja. Natürlich. Und deine Mutter brauchst du jetzt nicht?«

Beinahe hätte er gelacht. Monika Bendow war in der Zwischenzeit zwei Schritte zur Seite getreten, stand ein wenig abseits, fast so, als gehörte sie nicht zu ihnen. Empört blickte sie zu Boden. Morgen würde sie ihn mit Verachtung strafen, ein, zwei Stunden. Das ist erst morgen. Und es geht vorbei.

Dominik schüttelte den Kopf, sagte kein Wort, und er ging. Allein.

*

Im Bahnhof Zoo stieg er in die U-Bahn. Wieder stand er in einer Ecke. Dominik blickte hoch, zum Streckenplan, versuchte dieses Bild, ihre siegesgewisse Ausstrahlung, ins bedeutungslose Grau zu verwischen. Und er lenkte sich ab. Wenn jeder Zug von außen kommend zwei Minuten für die Fahrt von Station zu Station benötigt, dort jeweils zehn Personen zusteigen, zwei Personen aussteigen, an den Knotenpunkten zwanzig Prozent der Fahrgäste umsteigen, an welchem Bahnhof gibt es das größte Gedränge? Diese Frage war so gänzlich sinnlos, aber eine andere ließ er nicht zu. Nichts weiter ließ Dominik zu.

An jedem Bahnhof schloss er die Augen und wartete sehnlichst auf die Dunkelheit der folgenden Strecke. Während der Fahrt studierte er die Werbeplakate. Im Sommer sollte ich mir endlich mal eine neue Sonnenbrille zulegen. Oder auch nicht. Er lachte. Stumm und verstört.

Dominik blickte über die Köpfe der anderen Fahrgäste durch den Waggon. Wo ist nur dieser ewig aufdringliche Musiker mit seiner Klampfe? Scheiße! Wenn man mal jemanden braucht!

›Kaiserdamm‹. Endlich. Er sprang auf den Bahnsteig und stieg hastig die Treppen hoch.

In der Wohnung angekommen, ging er in sein Zimmer, schloss die Tür hinter sich, ließ sich mit Mantel und Schuhe auf sein Bett fallen und blickte in die Dunkelheit.

Lediglich das leise Surren seines Computers war zu hören. Dominik wartete, hoffte auf Sicherheit. Sie kam nicht. Oh, Scheiße, sie kommt nicht.

Er blickte auf den Monitor. Dunkel. Dennoch wusste er, was es dort zu lesen gab: Primzahlen. Was für ein absurder Irrsinn. Was für eine Zeitverschwendung.

Er lachte. Laut und grell. Was bin ich für ein Idiot.

Jean d’Arc? Nein! Nie!

Camilla? Ja, Camilla.

Alles in Dominik rief nach ihr. Gleichwohl hatte er Mühe, sie zu finden.

Kapitel 4

Der achte Platz war heute besetzt. Camilla – sie war wieder da.

Nachdem sie sich gesetzt hatte, lächelte sie Dominik an. Das hatte sie noch nie getan. Einen Atemzug lang verwirrte, ängstigte ihn das, bis er sah, dass ihre Augen dem Lächeln ihres Mundes gänzlich freudlos auswichen. Das beruhigte ihn. Noch immer würde sie seine Hilfe benötigen. Nichts hatte sich in den letzten Wochen geändert. Er würde ihr Erlöser sein. Ganz bestimmt.

Nur wann? Und wie?

Vielleicht ... wenn er sie zu einer Tasse Kaffee einladen würde? Dieser Gedanke war ihm am Sonntag, als seine Mutter ihm strafend stumm aus dem Weg gegangen war, in den Sinn gekommen. Unter Umständen würde er dabei erfahren, warum ihre Augen so traurig waren. Fragen würde er sie nicht, weder heute noch morgen noch sonst wann. Bis Freitag wollte er das alles ein weiteres Mal durchdenken.

Oder sollte er heute ...? Oh Gott, nein. Heute war er zu diesem Schritt nicht bereit. Am Ende lacht sie mich aus und kommt nie wieder. Und dann?

Er würde alles verlieren.

Drei Fragen zu verschränkten, räumlichen Figuren richtete er an Camilla, dreimal sah sie ihn aufgeschreckt und bedauernd an. Es war kein Bloßstellen. Es ging ihm ausschließlich um ihren Blick, den er zumindest in diesem Moment für sich allein haben wollte. Und er bekam ihn. Und der war traurig. Das beruhigte ihn zusätzlich. Dominik beantwortete die Fragen schließlich selbst, wobei er ihren Blick dabei festhielt. Zu jedem Wort, das er sagte, nickte er selbst zustimmend - und bald nickte auch sie. Sie verstand ihn und antwortete durch ihn. So sah es aus. Was für ein blauäugiges Bemühen.

Dominik überzog das Tutorial um etwas mehr als zehn Minuten, bis ein erstes leises Murren den Raum erfüllte. Letztlich war heute die Zeit einfach zu rasch vergangen.

»Also dann. Bis Freitag. Lest euch bis dahin alles noch einmal durch. Fragen beantworte ich gern. Und denkt dran: Es gibt keine dummen Fragen.«

Dominik blickte ein letztes Mal in die Runde, wendete sich ab, ging ans Fenster, senkte den Kopf und tat, als würde er nachdenken. Auf keinen Fall wollte er Camilla beim Verlassen des Raumes ansehen. Er würde sie anstarren, was ihm peinlich wäre.

Gleich, wenn alle weg sind, werde ich ... Er schloss die Augen. Ihr Platz war stets ein paar Augenblicke von ihrem Duft, von ihrer Aura erfüllt. Bald jedes Mal hatte er das genossen. Ganz sicher würde es heute nicht anders sein. Auch das würde ihn tragen ... bis Freitag.

Es kam anders.

»Dominik, hättest du einen Augenblick?«

War sie das? Hatte sie ihn angesprochen? Er hob den Kopf und drehte sich um.

Tatsächlich, da stand sie. In der Tür. Alle anderen waren bereits gegangen.

Wie schön sie ist. Nein, nein, nicht diesen Gedanken. Er räusperte sich und trat verlegen einen Schritt ans Pult.

»Ja, sicher. Was ... was gibt es denn ... Camilla?« Sie vor ihm, und er ihren Namen auf der Zunge, was für eine innige Nähe.

Kummervoll, die Schultern hochgezogen, sich winzig klein machend, sah sie ihn an. Und sie schwieg.

Sie wirkte unsicher, das machte ihm mehr Angst, als dass es ihn hoffen ließ. Wollte sie am Ende aufgeben? Weil ihr die drei Fragen vielleicht gezeigt hatten, dass sie ...? Aber das wäre Unsinn. Viele Studenten benötigten ein, zwei Semester Anwesenheit in seinem Tutorial. Bald alle schafften die Prüfung anschließend problemlos.

Er musste etwas sagen, diese unangenehme Stille aufbrechen.

»Wie kann ich dir helfen?«

Wie kam er darauf, dass sie seine Hilfe benötigen könnte? Seine Tagträume? Er durfte jetzt nicht nervös werden.

»Könnten wir uns treffen? In einer halben Stunde? Ich würde dich gern etwas fragen. Dazu müsste ich ein wenig ausholen. Würdest du mir ein paar Minuten deiner Zeit schenken?

Ich hab noch eben eine Kleinigkeit zu erledigen. Dann ...?« Ihre Augen, tiefbraun und traurig, bettelten ihn an.

»Ja, sicher. Ich warte auf dich. Ich hab sowieso noch ...« Er zeigte auf seine ausgebreiteten Unterlagen.

»Könnten wir uns... nur wenn es dir nichts ausmacht ... an der großen Wasserfontäne auf dem Ernst-Reuter-Platz treffen?«

Dominik schreckte innerlich zusammen. Warum dort? Geht es um etwas Persönliches?

Oft, wenn er am Ernst-Reuter-Platz zur U-Bahn hinabstieg, fiel sein Blick auf die, die dort saßen. Glücklich und verliebt sahen sie aus, die, an die er sich erinnerte. Und immer war es Sommer.

Glücklich und verliebt?

Aber ... sie kannte ihn doch gar nicht. Auch war es jetzt mitten im Winter.

Halt! Sag einfach Ja.

»In Ordnung. In einer halben Stunde an dem leeren Becken?«

Camilla nickte, und ihre traurigen Augen lächelten ihn an.

»Danke, Dominik.«

Diese zwei Worte. Aus ihrem Mund.

Sie trugen ihn.

*

Camilla hatte nichts zu erledigen. Sie war mit ihrem schwarzen Mini über den Ernst-Reuter-Platz in die Bismarckstraße gefahren und hatte den erstbesten Parkplatz gewählt.

Sie hatte Angst. Sie hatte Angst davor, er könnte Nein sagen. Und dann? Weder in dem Seminarraum noch in einem Café könnte sie ihn ... Sie durfte ihn nicht ohne Zusage gehen lassen. Sie hatte es ihrem Vater und sich versprochen.

Camilla klappte die Sonnenblende herunter und blickte in den Spiegel. Sie hatte lediglich Lidschatten aufgetragen, ein wenig mattiert. »Nackt« und ehrlich und hilflos wollte sie ihm begegnen, so sollte er sie sehen.

Bei allem geht es wirklich nur um Nachhilfe und um Geld, sagte sie stumm und klammerte sich an ihren Blick.

»Um mehr nicht?«

Camilla schluckte trocken und schloss die Augen. Selbstverständlich ging es um mehr. Sie wollte ihren Vater nicht enttäuschen, nein, sie durfte ihren Vater nicht enttäuschen.

Also geht es um alles?

Wieder hob sie den Blick.

»Ja. Um alles.«

Und wenn er keine Zeit hat? Wenn er kein Geld will?

Camilla hielt den Blick starr auf sich gerichtet, und sie zuckte die Achseln.

»Wozu bist du bereit, Camilla?«, fragte sie sich laut und deutlich.

Und ohne mit der Wimper zu zucken, sagte sie: »Zu allem!«

Während des heutigen Tutorials hatte sie Dominik eingehend beobachtet, ihn, seine Gesten, sein Wesen, und nicht auf das geachtet, was er versucht hatte, ihnen beizubringen. Dreimal hatte er sie auf dem falschen Fuß erwischt, dreimal hatte er ihr geholfen. Alles schien so eingängig, wenn er es erklärte. Er musste ihr einfach helfen.

Ihr Vater hatte recht, Dominik war nett. Ein großer Junge. Seine Augen wirkten unbeholfen, naiv ehrlich. Beinahe gefiel ihr das.

Auf jeden Fall war an ihm nichts Abstoßendes. Manch ein Kerl, neben dem sie samstags aufwachte, war ... Nein, schlafen würde sie nicht mit ihm.

Oder doch? Wenn er kein Geld ...?

Angestrengt blickte sie sich in die Augen. »Oder doch? Sag! Oder doch?«

Camilla wartete. Auf eine Antwort. Auf die Antwort. Und verhalten sagte sie: »Vielleicht ... wenn es sein muss.«

Gestern hatte sie sich zur Matheklausur angemeldet. Vier Wochen blieben ihr. Sie hatte Angst.

»Ja, ich würde es tun. Auf jeden Fall.«

Sie klappte den Spiegel weg, verließ ihr Auto und zog ihre schwere Lederjacke an.

Er wird hoffentlich schon warten.

*

Dominik war zehn Minuten zu früh auf dem inneren Platz. Auf keinen Fall wollte er Camilla verpassen.

Er sah sich um. Er war allein. Die Sonne hatte ihren winterlichen Zenit überschritten und würde bald hinter dem Häusermeer verschwinden. Die Temperatur, eben über null Grad, war beinahe angenehm. Es war ein trockener, freundlicher Wintertag.

Dominik hatte auf seine Strickmütze verzichtet. Unter keinen Umständen wollte er wie ein Halbwüchsiger aussehen. Welche Frau lässt sich bereitwillig von einem Jungen helfen? Und eine Frau war sie, erwachsen und schön. Aber auch hilflos hatte sie ausgesehen. »Danke, Dominik«, hatte sie gesagt. Diese zwei Worte hatten gewiss keinem kleinen Jungen gegolten.

Dass sie seine Hilfe benötigte, dessen war er sich in der Zwischenzeit absolut sicher.

Nur worin sollte die bestehen?

Fiebrig aufgeregt, ohne Antwort, ging er auf und ab.

Eine nie endende Autoschlange umrundete den Platz. Aus allen Himmelsrichtungen kamen sie, in alle Richtungen fuhren sie. Niemand hatte einen Blick für die einzelne Person da auf der Mitte, alle versuchten einzig den Platz sicher und unversehrt hinter sich zu bringen. Was interessierte da ein Verrückter auf der Mittelinsel – im Winter, neben einem leeren Wasserbecken.

»Hallo, Dominik. Schön, dass du Wort gehalten hast.«

Er sah sie an. Er konnte nicht glauben, dass sie sich hier gegenüberstanden. Und er blieb stumm. Was sollte er auch sagen. Jede Bemerkung, egal ob angebracht oder nicht, würde sie verschrecken. Dessen war er sich sicher.

Lange und gründlich blickte sie ihm ins Gesicht. Beinahe sah es aus, als wollte sie sich ein Bild von ihm machen. Schließlich wendete sie sich ab und ließ den Blick über den leeren Platz wandern. »Bestimmt fragst du dich, warum ich dich hier treffen wollte?«

Ihre Worte klangen, als würden sie sich lange kennen und als hätten sie sich hier privat, sehr vertraulich verabredet. Oft trennt man sich im späten Winter, hatte er gehört, um für neue Abenteuer im kommenden Frühjahr, im bevorstehenden Sommer, bereit zu sein. Vielleicht an einem solch verlassenen Ort? Aber sie waren kein Paar. Was also wollte sie so vertraulich von ihm?

Eine sonderbare Aufgeregtheit stieg in Dominik auf. Die Unterlippe begann zu zittern. Das war ihm peinlich.

Camilla sah ihn an. »Wollen wir ein paar Schritte gehen?«

»Gehen? Wohin?«

»Nur so. Um das Becken. Im Gehen fällt es mir leichter, zu reden ... zu fragen. Das ist so bei mir.« Camilla senkte den Kopf, erschien augenblicklich hilflos und klein, und sie fuhr fort: »Und ich bin ehrlich, ich wollte dabei allein mit dir sein. Deshalb wollte ich dich auch hier treffen. Findest du das blöd?«

Mit mir allein sein? Nein, das war nicht blöd. Dominik schüttelte den Kopf.

Sie gingen los. Beiläufig wischte er sich über die Lippen, versuchte das Zittern, das stärker geworden war, zu verwischen. Sie hatte es bemerkt. Ganz sicher.

Camilla blieb stehen und sah ihn resigniert an. »Dominik, ich muss dir etwas sagen ... Das alles hier ist mir furchtbar unangenehm.

Wenn ich nicht wüsste, dass du ein so netter Kerl bist ... Entschuldige ... Ich ... ich bin so entsetzlich aufgeregt.«

Du auch? Siehst du nicht, wie es mir geht?

Bevor Dominik etwas sagen konnte, fuhr Camilla fort: »Weißt du, Dominik, mein Vater ... ich liebe ihn sehr ... Aber ... er setzt mich ganz furchtbar unter Druck.«

Camilla blickte auf ihre schwarzen Winterstiefel, stellte den Kragen ihrer schweren Lederjacke hoch und ging versunken weiter. Verwirrt folgte er ihr. Ihre Traurigkeit ... War am Ende ihr Vater ...? Dominik verstand sie nicht.

»Wie ist dein Vater so? Ist er auch entsetzlich streng?«, fragte sie.

Dominik räusperte sich: »Mein ... Ich hab meinen Vater nie wirklich kennengelernt. Ich ... ich war drei, als er von uns gegangen ist.« Von uns gegangen? Oh, mein Gott, was erzählte er. Dominik war verwirrt.

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