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Читать книгу: «Frosch, König und Königin», страница 2

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Kapitel 2

Camilla erwachte. Eine Straßenbahn fuhr am Haus vorbei. Irgendwo hupte ein Auto, bellte ein Hund.

Sie öffnete die Augen. Die diffuse Finsternis im Zimmer war von einer tonlosen Stille. Sie drehte den Kopf. Neben ihr lag ein Kerl, besser gesagt, sie lag neben einem Kerl – in dessen Bett. Sein Atem ging verhalten und regelmäßig.

Camilla erhob sich, setzte die Füße neben das Bett auf den Boden und strich sich über die nackten schweren Brüste. Wo waren ihre Sachen? Und wo die Wohnungstür? Sie würde alles finden. Sie war geübt darin.

Erneut drehte sie den Kopf. Noch immer konnte sie ihn nicht erkennen. Wie sieht er aus? Wie heißt er? Sie erinnerte sich nicht. Es war auch bedeutungslos, die Antworten gehörten zum Gestern.

Er hatte sie zum Lachen gebracht, letzte Nacht, in einem Club in Mitte. Sie hatten geflirtet und gelacht. Seine zufällig absichtsvollen Berührungen waren angenehm gewesen, auch hatte er gut gerochen. Wie beinahe jeden zweiten oder dritten Freitagabend war das für sie ausreichend, um mit und bei einem Kerl den Abend zu beenden.

Der Sex war annehmbar, zwei bis drei. Daran erinnerte sie sich. Aber das ... es war bedeutungslos, es gehörte einfach dazu.

Er hatte sie zum Lachen gebracht, das war es, was sie gebraucht hatte. Alles andere war nur Spiel.

Sie musste nach Hause, am besten ohne ein Wort.

»Du bist schon wach?«

Zu spät.

»Schlaf weiter.«

»Möchtest du einen Kaffee?«

Camilla schüttelte stumm den Kopf.

Er schien es zu sehen. »Soll ich dich fahren?«

Wieder schüttelte sie den Kopf.

»Sehen wir uns wieder?«

»Ich weiß, wo ich dich finde. Schlaf weiter«, sagte Camilla, ohne lange zu überlegen. Die beiden Sätze waren eingeübt, schon manches Mal benutzt.

»Es war schön mit dir.« Seine Hand berührte ihren Rücken, Camilla zuckte zusammen. Nun gehörte er endgültig zum Gestern.

Durch das gardinenlose Fenster drang trüb der Morgen ins Zimmer. Er schien im Chaos zu leben, vielleicht irrte sie sich auch – es war belanglos. Endlich erblickte Camilla ihre Sachen. Ohne zu zögern, sprang sie hoch, zog sich an und vermied es, ihn anzusehen.

»War ich so schlimm?«

»Es war schön gewesen. Aber das war gestern.« Mitunter musste sie deutlich werden - so wie jetzt.

»Schade.«

Wie sie das an den Kerlen hasste: Am Abend sind sie Riesen, am nächsten Morgen wimmernde Zwerge.

Sie musste weg, ganz schnell.

*

Bald eine Stunde später stieg Camilla aus einem Taxi. Endlich zu Hause.

Hier, in Neu-Westend, war alles ruhig, hier fuhr keine Straßenbahn, hier bellte selten ein Hund, hier war samstags um neun Uhr kaum ein Mensch zu sehen. Aber daran verschwendete sie keinen Gedanken.

Camilla durchschritt den Vorgarten, vorbei an einem leeren Springbrunnen, der seit Jahren, marode und funktionslos, darauf wartete, abgebrochen zu werden.

Mit gesenktem Kopf verschwand sie in der Villa, in der sie und ihre Mutter wohnten. Auch hier lag vieles im Argen. Das Dachgeschoss, nie wirklich genutzt, hatten sie dem Verfall preisgegeben, lediglich auf das Dach darüber achteten sie peinlich genau. Im ersten Obergeschoss befanden sich ihre privaten Räume. Jede Frau hatte ein Wohnzimmer, ein Schlafzimmer und ein eigenes Bad, das ihnen sehr wichtig war. Konstanze, ihre Mutter, mochte es nicht, ihrer Tochter ungeschminkt zu begegnen. Obwohl ... Begegnungen gab es selten genug. Der weitläufige Wohnraum im Erdgeschoss, die Bibliothek und das sogenannte Herrenzimmer betraten sie nur hin und wieder - um zu lesen, zu feiern oder Freunde zu empfangen – und das bald stets getrennt. In der Küche - dem Reich von Sylvia Mertens, ihrer Haushälterin, der »mütterlichen Schnittstelle« zwischen den beiden Frauen, wie Camillas Vater, der das alles hier bezahlte, gern und oft erwähnte - stand in der Ecke ein großer weißer Tisch, an dem sie frühstückten oder Häppchen aßen, um nichts weiter als den kleinen Hunger zu stillen. Und das selten gemeinsam. Sie hatten sich arrangiert, mit der Villa, mit dem Leben darin.

Im Flur sah sich Camilla um, und sie horchte. Alles war still. Wo ist sie? Schon unterwegs? Dann fiel es ihr ein, und Camilla grinste missbilligend. Wie konnte sie das vergessen. Seit ein paar Wochen war ihre Mutter beinahe jedes Wochenende auf einem »Tantraseminar«, wie sie es nannte. Davor hatte sie sich ganz »normal« mit Männern in Cafés getroffen und sich anschließend in irgendeinem Hotelzimmer amüsiert. Das war ihr zu langweilig geworden. »Zu intim, da fehlt der Kick«, hatte sie gesagt. Den hatte sie vor Wochen auf einem Tantra-Wochenende das erste Mal verspürt. »Es war wie ein Erwachen«, hatte sie ihrer Tochter Tage später anvertraut. Beim Erzählen über ihren Sex war sie immer schon hemmungslos gewesen. »Er gehört zum Leben wie das Essen. Und da tauscht man auch gern Rezepte aus«, war ihr Credo. Und genau so erzählte sie, als ginge es allein um Rezepte. Nie hatte sie Details ausgelassen, auch wenn deutlich war, dass Camilla sie nicht hören wollte. Darüber sah sie schlicht hinweg.

Und so erfuhr Camilla auch alles über ihr »neues Erwachen«. »Man nimmt sich in den Arm und streichelt sich gegenseitig. Das ist der Anfang.« Viel wichtiger war ihrer Mutter das öffentliche und hingebungsvolle Vögeln, das demonstrative Einssein zweier Körper neben anderen Körpern.

Stets ging sie allein oder mit einer Freundin zu diesen Seminaren. Da die Örtlichkeiten und Zusammensetzungen der Gruppen Woche für Woche wechselten, war die Auswahl an Partnern für »die hoheitsvolle Vereinigung«, wie sie es nannte, schier unerschöpflich.

Sie war fünfundvierzig, erste Fältchen, Lachfalten, obwohl sie kaum lachte, gruben sich erkennbar ins Gesicht. Noch immer war sie von berückender Schönheit. Anders als mit zwanzig, und genau das störte sie. Das lange rote und wellige Haar, die grünen Augen, die atemraubenden Lippen und auch die Sommersprossen auf Nase und Wangen, der Busen, nicht zu groß und beinahe so fest wie bei einer Dreißigjährigen, die vollendete Figur, die langen makellosen Beine und letztlich auch das Tattoo – eine Schlange, die über die linke Schulter gekrochen kam und jedem, der sie betrachten durfte, züngelnd in die Augen sah – gaben ihrem Aussehen etwas Betörendes. All das wollte sie nicht hören. Sie war keine zwanzig mehr. An diesem allzu natürlichen Makel verzweifelte sie – von Jahr zu Jahr mehr.

Dass die männlichen Teilnehmer der Tantraseminare sie gleichwohl begehrten, dass sich bald jeder mit ihr »vereinen« wollte, war da lediglich ein schwacher Trost. Viele weibliche Beteiligte, oft jünger als sie, verachteten sie. Am Ende war das ihr wirklicher Kick.

Immer wieder erzählte sie Camilla davon, obwohl die kaum zuhörte, es ihr oft genug sogar unangenehm war. Andere Themen gab es eher nicht. Die beiden Frauen lebten in der Villa, ohne sich zu »berühren«.

Camilla störte das nicht. Und ihre Mutter?

Camilla zuckte die Achseln, ging in ihr Zimmer, zog sich aus und stellte sich unter die Dusche. Der Kerl der letzten Nacht war lange vergessen, nun galt es eben noch, ihn von der Haut zu spülen.

Zehn Minuten später stand sie nackt vor dem Spiegel in ihrem Bad und betrachtete sich. Sie war bildhübsch. Und sie war zweiundzwanzig. Ging ihre Mutter ihr deshalb aus dem Weg? Oder am Ende auch, weil sie die tiefbraunen Augen und das schwarze Haar, das sie zurzeit kurz geschnitten, gegelt und links gescheitelt trug, von ihrem Vater hatte? Nichts an ihr erinnerte an ihre Mutter. Die kleine Nase, die leicht geschwungenen Augenbrauen und auch die »hinreißenden Ohren«, wie ihr Vater immer gern sagte, waren genetische Erbstücke von ihm.

Camilla rubbelte sich die schweren Brüste trocken und warf nun einen etwas anderen Blick auf sich, diesen Blick, den sie bekommen hatte, vor Jahren, als ihr Vater sie das letzte Mal nackt gesehen hatte. Ihre vollendeten Hüften, die Scham, kahl und glatt, wie die Kerle es gernhatten, würde er heute nicht mehr betrachten wollen. Nein, gewiss nicht. Aber all das bewachte er, all das war sein Schatz. Sie war sein Schatz, und sie war es gern.

Den Kerlen bot sie viel für ein Lächeln. Niemals ihre Mobilnummer, ihre Adresse oder ihren richtigen Namen. Das hatte ihr Vater ihr schon früh nahegelegt, ohne heute zu wissen, wie sehr sie diese Ratschläge nötig hatte – alle zwei, drei Wochenenden.

Und Camilla hörte auf ihren Vater. In jeder Hinsicht.

Vor etwa achtzehn Jahren, Camilla war vier Jahre alt gewesen, hatten sich ihre Eltern getrennt. Ihr Vater war zu seinem alten Leben zurückgekehrt. Es hatte diese vier, fünf Jahre neben Konstanze, seiner Frau, gebraucht, um seine Tochter, die er über alles liebte, in sein unstetes Leben, das ihm immer sehr wichtig war, väterlich einbeziehen zu können. Er liebte Frauen um fünfundzwanzig. Schon als er achtzehn war, hatte er das getan – damals mit wenig Erfolg. Im Laufe der Jahre hatte sich das beträchtlich geändert.

Damals, bei der Trennung, war Konstanze siebenundzwanzig, ein Alter, das eben noch akzeptabel war. Ihr Nachteil war, dass er sie zu lange kannte. Er wusste, wie sie roch, er wusste, wie sie stöhnte, er wusste, was sie zum Höhepunkt trieb – nichts an ihr war neu, nichts an ihr geilte ihn noch auf.

Konstanze ging es ebenso. Die Trennung war einvernehmlich, zumal er nicht kleinlich war. Bis heute nicht.

Camilla zog sich an. Stets wählte sie samstags einen kurzen weiten Rock und rote oder weiße Kniestrümpfe. Ihr Vater, mit dem sie gleich, wie jeden Samstag, frühstücken und den Nachmittag verbringen würde, liebte das Mädchenhafte an ihr. Und auch da wollte sie ihm gefallen, zumal ihr das leichtfiel. Sie war gern sein »kleines Mädchen«, seine Prinzessin.

Ein letztes Mal ging sie in die Küche, trank ein Glas Kakao und wischte sich die Schnute ab. Immerfort hatte er von Schnute gesprochen, damals, als er hier noch lebte. Er wusste sicher noch heute, wie gern sie dieses Wort hörte.

Sie freute sich auf ihn, und sie lachte. Ja, auch er brachte sie zum Lachen. Anders, als sie es an den Freitagen in den Clubs nötig hatte.

Camilla schlüpfte in ihre schwere Lederjacke und verließ die Villa. Bevor sie in ihren schwarzen Mini stieg, zog sie die Jacke wieder aus. Erst gegen Mittag, wenn es hinausging in den Wald, zum Hochstand, würde sie die Jacke brauchen.

*

Camilla kannte die junge blonde Frau nicht, die nackt, lediglich mit schwarzen High Heels bekleidet, vor dem offenen Kühlschrank in der Küche ihres Vaters hockte.

»Hallo«, sagte die Unbekannte, während sie sich erhob. Ihr Blick galt weder Camilla noch dem Joghurt, den sie in der Hand hielt. Sie schien in Gedanken. Aus einer Schublade nahm sie einen Teelöffel und verließ gazellenhaft stöckelnd die Küche. Die weißen Pobacken verschwanden als Letztes im dämmrigen Licht des Flurs.

»Hallo«, erwiderte Camilla in aller Gelassenheit, legte die mitgebrachte Brötchentüte auf die Arbeitsplatte und sah sich um. Alles stand an seinem Platz, alles war aufgeräumt. Nichts anderes hatte sie erwartet.

Als Erstes füllte sie Wasser in die Kaffeemaschine. Blonde Haare, dachte sie, dann werde ich ihr wohl in den nächsten Wochen ab und an begegnen. Hätte sie schwarze Haare gehabt, wie Camilla, am Ende ebenso kurz geschnitten, wäre sie mit Sicherheit lediglich ein One-Night-Stand gewesen.

Camilla schaltete die Kaffeemaschine ein. Gleich würde er neben ihr stehen. Einen längeren Abschied wird es oben, in seinem Schlafzimmer, nicht geben. Aber einen Abschied gab es. Nie hatten sie je zu dritt gefrühstückt. Ihr Vater »liebte« seine Freundinnen und er liebte Camilla. Beides würde er nie vermengen, niemals verwechseln.

Camilla bereitete den Frühstückstisch vor. Zwei Teller, Messer und Gabeln und auch zwei Servietten legte sie auf die Teller. Schließlich ging sie hinüber zum Kühlschrank und öffnet ihn.

»Da bist du ja schon, mein Mädchen.«

Was für Worte. Und schon? War sie zu früh? Hatte er an einen »ausführlichen« Abschied gedacht? Es war kurz nach zehn, ihre Zeit.

Sie lachte ihren Vater an.

Er hatte einen leeren Joghurtbecher in der Hand, den er beiläufig in den Abfall fallen ließ, einen benutzten Teelöffel sortierte er in die Spülmaschine ein. Im Hintergrund hörte man das Klappen der Haustür.

»Lass dich in den Arm nehmen«, sagte er und stand schon vor ihr.

Sie genoss es, in seinem Arm zu liegen. Er roch frisch geduscht. Anders würde er ihr am Samstagvormittag auch nicht begegnen. Einen »ausführlichen« Abschied hatte er wohl nicht vorgehabt. Vielleicht hatte Camilla ein Gespräch unterbrochen. Das würde er heute Abend fortsetzen oder nachholen.

Jasper Dammers, ihr Vater, war von athletischer Gestalt, mehr als einen halben Kopf größer als Camilla. Der Dreitagebart und die tiefbraunen Augen, die sein Gegenüber durchdringen oder auch liebevoll streicheln konnten, wie jeweils erforderlich, unterstrichen sein Wesen deutlich. Er war ein Frauentyp.

Camilla war gern seine Tochter.

Dass er in diesem Jahr fünfzig werden würde, störte weder ihn noch die vielen Geliebten, die für kurze Zeit halb so alt sein würden wie er. Camilla war zweiundzwanzig. In vier, fünf Jahren würden seine Geliebten jünger sein als sie. Was für eine absurde Gewissheit. Darüber mochte sie jetzt nicht weiter nachdenken.

Langsam kroch Camilla aus seinen Armen und wendete sich erneut dem Kühlschrank zu, ihre Lieblingsmarmelade, Brombeer-Kirsch, fehlte auf dem Tisch.

Jasper setzte sich und beobachtete sein kleines Mädchen aufmerksam. »Wie war deine Woche? Hast du brav studiert?«

Camilla hasste diese Frage. Sie war gern sein Mädchen, aber ... konnten sie nicht erst einmal frühstücken? Musste er sie gleich mit dem Unangenehmsten der letzten Tage und Wochen überfallen? Normalerweise tat er das nicht.

Und nein, sie studierte nicht brav. Architektur »machte« sie für ihn. Er wollte sie neben sich, bei sich haben. In seinem Büro. Als seine rechte Hand. »Aber nur mit abgeschlossenem Studium«, betonte er immer wieder.

Gern würde sie mit ihm arbeiten. »Du kannst mir doch alles beibringen«, hatte sie vor zwei Jahren versucht, ihm einen anderen Weg aufzuzeigen. »Wir könnten morgen schon gemeinsam arbeiten.«

»Nein, das geht nicht. Man würde dich nicht ernst nehmen. Und nie könntest du meinen Laden übernehmen.«

Als sie versucht hatte, dem etwas hinzuzufügen, hatte er bereits unmissverständlich und Einhalt gebietend die Hand gehoben. Und sie war stumm geblieben.

Sein Wort war Gesetz. Daran hatte sich bis heute nichts geändert.

Von Woche zu Woche hatte sie weniger Spaß an diesem Studium. Und langsam trieb sie sich zusätzlich in eine entsetzliche Falle, denn seit beinahe zwei Wochen hatte sie keine Vorlesung mehr besucht. Was sollte sie auch da? Den Matheschein, egal wann sie sich der Klausur stellen würde, würde sie sowieso nie erhalten.

Nein, sie war nicht brav. Aber das durfte er nicht erfahren, nicht jetzt, nicht heute ... am liebsten nie.

»Alles bestens«, sagte sie, nahm das Glas Marmelade aus dem Kühlschrank, sah ihren Vater kurz an, spürte, dass er etwas erwidern wollte, und ergänzte: »Frühstücken wir wieder allein?«

Diese Frage mochte er nicht, nicht von ihr. Er wendete sich ab und blickte erbost in den Garten. Und schon tat es Camilla leid.

»Was hältst du davon: Ich mach uns Rühreier, Papa«, schob sie nach - im kindlichen Ton, den ausschließlich er kannte. »Ich hab gesehen, du hast Eier und Bacon da. Möchtest du drei Scheiben?«

Ihre Stimme, lieblich naiv, schien ihn zu beruhigen, und er lächelte sie an. Wie sie dieses Lächeln brauchte. Und augenblicklich lächelte auch sie.

Das Frühstück verlief ruhig wie jeden Samstag. Sie unterhielten sich dabei über Belanglosigkeiten, nie sprachen sie über Wichtiges. Das kam später. Auf dem Hochstand.

Jasper Dammers hatte eine Jagd bei Berlin. Nach dem Frühstück fuhren sie gemeinsam dorthin, Samstag für Samstag. »Nach dem Rechten sehen«, wie er immer sagte. Wozu auch Gespräche über ihre Gedanken, Absichten und Lebenspläne gehörten.

Bevor sie losfuhren, füllte Jasper eine Thermosflasche mit Kaffee, holte ein paar Landjäger aus dem Kühlschrank, packte alles in einen vorbereiteten Rucksack und räumte den Frühstückstisch ab. Er hasste es, unaufgeräumte Räume zu betreten, also verließ er sie selbst stets aufgeräumt. Eine Macke von ihm, sie wollte so gar nicht zu den vielen anderen Facetten seines Lebens passen.

Camilla verschwand wie jeden Samstag für ein paar Augenblicke in einer kleinen Wohnung, die gleichfalls zu seiner Villa gehörte, und zog sich um.

Jasper hatte die Villa hier in Zehlendorf selbst entworfen und dabei auch an eine Wohnung für sein Mädchen gedacht. Zwei Zimmer mit Küche, Diele und Bad. Die Wohnung hatte zwei Eingänge. Einen von außen und einen vom Windfang der Villa. Für beide Türen hatte allein Camilla die Schlüssel, ihr Vater hatte darauf bestanden. Zum achtzehnten Geburtstag hatte er ihr die Schlüssel symbolisch überreicht. »Das ist ab jetzt dein Reich. Und es ist auch deine Verantwortung«, hatte er gesagt. Und diese Verantwortung war auch Teil des Samstagsrituals geworden. Aber im Grunde gab es dort nichts zu verantworten. Nicht einmal Blumen waren zu gießen. So staubte sie ab und an lediglich die Möbel ab. Bett, Schrank, Tisch, Couch und Sessel. Alles neu, alles nie benutzt. Die Symbolik war nicht zu übersehen.

Während er aufräumte, machte Camilla sich für den Wald fertig. Kurzer Rock und Kniestrümpfe waren da unpassend. Und am Nachmittag, wenn sie wieder zurück waren, würde sie sich dort auch wieder umziehen. Mehr gab diese kleine Wohnung nicht her.

Noch nie hatte sie in der Wohnung übernachtet. Camilla liebte ihren Vater, aber nachts gehörte sie nicht in seine Nähe, nicht in die Nähe seiner Freundinnen. Es war eine stillschweigende Abmachung.

Wie immer fuhren sie mit Camillas Auto. Er liebte es, von ihr gefahren zu werden. Sie liebte es, für einen kurzen Augenblick sein Leben in ihrer Hand zu wissen, wie es ihr vor langer Zeit einmal durch den Kopf gegangen war. Dieser Gedanke hatte sie erschreckt und auch beeindruckt. Nie hat ihr Vater ihn erfahren.

Bald schon waren sie im Wald. Eingehakt, den Kopf vertraut an ihn gelehnt, gingen sie stumm einen langen Waldweg entlang. So mochte er sein Mädchen, so mochte sie ihren Vater.

Sie waren allein. Weit und breit war kein Mensch zu sehen. Der Boden war gefroren, die Luft von einer kalten Klarheit, die es einzig an Wintertagen gibt. Irgendwo in einem nahe gelegenen Dorf läutete eine Kirchenglocke. Es war zwölf Uhr mittags.

Am Hochstand angekommen, erklomm Jasper als Erster prüfend Sprosse für Sprosse.

»Alles gut. Du kannst kommen.«

Blind folgte Camilla ihm. Und bald schon saßen sie da. Eine wärmende Decke zog er aus dem Rucksack und legte sie ihr über die Beine. Sie schenkte ihm ein Lächeln dafür.

»Möchtest du Kaffee?«

Camilla nickte und sah sich um. Eine große Lichtung tat sich vor ihnen auf. Frost umhüllte Grashalme, Sträucher und abgestorbene Äste. Der Schrei einer Krähe hallte aus dem Wald jenseits dieser Waldwiese, eine andere Krähe erwiderte den Ruf.

Jasper Dammers liebte diese Stimmung, diesen friedlichen Zauber. »Hier komme ich zur Ruhe«, sagte er bald jedes Mal, wenn sie hier saßen. Hege und Pflege seines Reviers überließ er geschultem Personal. Noch nie hatte er ein Gewehr in der Hand, und daran würde er auch nie etwas ändern. Es reichte ihm, hier zu sitzen, das stets gleiche, dennoch Woche für Woche im Kleinen veränderte Bild der Natur zu betrachten, über wichtige Themen nachzudenken und sie ab und an auch anzusprechen.

»Da, schau«, flüsterte Camilla aufgeregt und zeigte bedachtsam auf das hintere Ende der Lichtung. Ein Rehkitz stand dort geschützt, recht gut getarnt, trotzdem sichtbar, unter Bäumen. »Ist das nicht süß?«

Ihr Vater schmunzelte.

Für einen langen Moment genossen sie die Ruhe des Waldes, tranken Kaffee und sahen sich um. Fuchs und Wildschweine ließen sich heute nicht blicken – alles blieb still.

Schulter an Schulter saßen sie nebeneinander. Camilla suchte die Hand ihres Vaters, er reichte sie ihr und packte fest zu.

»Und jetzt erzähl: Wie ist das mit deinem Studium?«, sagte er ruhig und blickte dabei weiter über die Lichtung. Er hatte ihr angsterfülltes Verhalten von eben am Frühstückstisch nicht vergessen.

Camilla zuckte und versuchte, die Hand zurückzuziehen. Er hielt sie fest.

»Wie meinst du das?«

»Ich habe gehört, du lässt Vorlesungen schleifen?«

»Von wem?«

»Das spielt keine Rolle.«

»Hat Konstanze geplaudert?«

»Konstanze? Wie kommst du darauf?«

»Na, wer sonst?«

»Du vergisst, ab und an arbeitet der eine oder andere Professor für mich. Als Sachverständiger.«

Ja, in der Tat, das hatte Camilla vergessen. Ihr Vater »saß« überall.

»Also, was ist?«

Er ließ nicht locker. Camilla schwieg. Wenn er wusste, dass sie ihre Vorlesungen nicht besuchte, wusste er ganz sicher alles. Warum hatte er vorhin dann so scheinheilig getan? Das war etwas, das sie an ihm nicht mochte. Sagen konnte sie es ihm nicht – nur schweigen konnte sie.

»Und was ist das mit diesem Tutorial für darstellende Geometrie?«

Er wusste wirklich alles. Camilla schwieg.

»Wollen wir uns darüber unterhalten?«

Es würde keine Unterhaltung werden. Camilla wusste es, und sie schwieg.

»Sei nicht so kindisch. Hier geht es um deine und auch um meine Zukunft. Hast du unseren Plan, gemeinsam die größten und schönsten Häuser bauen zu wollen, vergessen oder gar aufgegeben?«

Ja, das hatte sie gewollt, mit ihm zusammen, aber da war sie acht gewesen. Nichts vergaß er. Camilla schwieg weiter.

»Schweigen hilft hier nicht. Sprich endlich mit mir.«

Camilla schluckte trocken. Nein, sie konnte nicht. Sie presste die Lippen fest zusammen, und sie blieb stumm.

»Schade. Dann hat dieser Platz hier wohl seine Magie verloren. Meine Tochter, die ich über alles liebe, schweigt. Sie vertraut mir und unserer Gemeinsamkeit hier nicht mehr. Wirklich schade«, sagte er, schüttete einen Rest Kaffee aus dem Becher, verschloss die halb volle Thermosflasche und erhob sich langsam.

Nein, das nicht, das bitte nicht. Sie hatte doch nur ihn. Sie hätte ihm schon längst von ihrer Matheschwäche erzählen müssen. Es tat ihr leid.

»Nein, bitte, Papa, bleib sitzen.«

»Willst du mit mir reden?«, fragte er und sah sie eindringlich an. Er schwebte zwischen sitzen und stehen.

»Ja. Natürlich.«

Er setzte sich wieder, öffnete den Thermos, goss Kaffee nach, blickte über die Lichtung und wartete.

Camilla sah hinüber zum Wald. Das Rehkitz war lange verschwunden. Und zögerlich begann sie: »Es ist ... Ich verstehe diese Geometrie, dieses Räumliche einfach nicht. Und ich weiß, als Architektin gehört das zum Handwerkszeug.

In der Schule ... Da hab ich diesen ganzen Mathequatsch immer geschafft. Nicht gut. Es hat gelangt. Aber hier ... Und ohne den Matheschein ...?«

»Und darüber kannst du mit mir nicht sprechen?«

»Es tut mir leid, Papa«, sagte Camilla und leise murmelnd schob sie nach: »Ich wollte dich nicht enttäuschen.«

»Das ... enttäuscht mich.

Weißt du nicht mehr: Wir haben uns vor langer Zeit ein paar Versprechen gegeben. Und Versprechen halten wir, oder?«

Camilla erinnerte sich sofort. An das erste und wichtigste: Versprochen ist versprochen und wird auch nicht gebrochen, hatte er damals wieder und wieder laut vernehmbar beteuern müssen, damals, als ihr Vater ausgezogen war und sie sich an ihn geklammert hatte, ihn nicht gehen lassen wollte, aus Angst, er könne sie vergessen. Er hatte sie nicht vergessen. Keinen Tag. Er hatte sein Versprechen gehalten.

Auch wollten sie immer ehrlich sein, zu sich und auch zu anderen. Das hatten sie sich ebenfalls versprochen – Vater und Tochter.

»Bitte, Papa. Sag mir, was soll ich denn tun?«

»Was ist mit diesem Tutorial?«

»Ich hatte gehofft, meine Lücken da schließen zu können. Aber meine Fragen ... Ich weiß nicht, sie klingen selbst in meinen Ohren lächerlich.«

»Du hast also Angst davor, dich lächerlich zu machen, und gibst dafür lieber unsere gemeinsamen Pläne auf? Oder wie soll ich dich verstehen?«

Camilla schloss die Augen, eine Träne drückte. Frauentränen in einer solchen Situation mochte er nicht.

»Nein, natürlich nicht. Was soll ich tun, Papa?«

»Dir helfen lassen.«

»Und von wem?«

»Von mir, mein Mädchen.«

»Und wie? Wie willst du mir helfen?«

»Dieser Tutor, der soll recht kompetent und auch nett sein.«

Nett? Camilla erinnerte sich kaum daran, wie er aussah. Kompetent war er sicherlich. Ob er nett war, hätte sie nicht sagen können. Offensichtlich war ihr Vater auch da schon gut informiert.

»Ja, er ist kompetent. Und vielleicht ist er auch nett. Aber wie hilft mir das?«

Jasper drehte sich zu seiner Tochter hin, nahm ihre Wangen in beide Hände, und er sagte: »Mein Gott, mein Mädchen, lade ihn zum Essen ein und frag ihn, ob er bereit ist, dir private Stunden zu geben. Am Geld soll es nicht scheitern. Du bist hübsch und eine Essenseinladung wird er ganz sicher nicht ausschlagen.«

Ja, natürlich, das könnte eine Lösung sein. Aber was, wenn er am Ende keine Zeit hatte?

»Ich überleg es mir«, sagte sie. Ihre Worte waren noch nicht verklungen, da wusste sie, sie würde nicht überlegen dürfen. Ihr Vater hatte längst entschieden.

Und richtig. Ernst, aus kalten Augen sah er sie an. »Wann ist das nächste Tutorial?«

»Am Dienstag.«

»Gut. Überleg dir bis Dienstag, wie du ihn dazu bringen kannst, dass er dir hilft. Wie gesagt, Geld spielt keine Rolle.«

Ihr Vater hatte entschieden, wieder einmal. Ängstlich sah Camilla ihn an. Und wenn nicht? Wenn er nicht will?, konnte er deutlich in ihren Augen lesen.

»Du schaffst das. Du bist doch mein Mädchen, oder?«

Bin ich das? Noch immer? Und was ist, wenn ich nicht will?

Woher diese Frage auch immer kam, sie beunruhigte Camilla. Und sie erschreckte, dass sie ihrem Vater nicht verborgen geblieben war.

»Und da wir nicht ewig Zeit haben, erwarte ich am Ende des Semesters diesen Schein in darstellender Geometrie. Du bist gescheit genug, um das schaffen zu können.«

Sätze wie ein Paukenschlag, Sätze wie ein Gesetz.

Noch immer hielt er ihre Wangen in beiden Händen. Sie wärmten nicht. Camilla mochte ihn nicht ansehen. Auch drückte diese eine Träne nicht mehr. Andere Tränen drückten, ganz andere.

Wie gern hätte Camilla sich jetzt verkrochen. In seinen Armen. Still und stumm und blicklos. Wie früher, wenn ihr ein Missgeschick passiert war und er sie getröstet hatte.

Warum war heute alles so kompliziert?

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9783753194158
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