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II. Der horizontale Verfassungsgerichtsverbund

§ 95 Verfassungsgerichtsbarkeit im europäischen Rechtsraum › II. Der horizontale Verfassungsgerichtsverbund › 1. Das Phänomen

1. Das Phänomen

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Die Verfassungsgerichtsvergleichung im europäischen Rechtsraum als Baustein des europäischen öffentlichen Rechts steht in einem engen Zusammenhang mit der verfassungsgerichtlichen Verbundbildung im europäischen Rechtsraum, einem neuartigen Phänomen, das nach mancher Beobachtung gar an die Identität der Gerichte rührt.[35] Während Behauptungen einer „global community of judges“ eher im spekulativen Raum verbleiben,[36] gibt es solide Hinweise auf eine solche institutionelle Realität im europäischen Rechtsraum. Über die letzten Jahre hat sich eine entsprechende Interaktion substantiell verstärkt, ja institutionalisiert. Viele Richter stehen in dauerhaftem und bisweilen engem Kontakt mit Kollegen aus anderen Mitgliedstaaten. Nicht selten beschäftigen sie polyglotte, europäisch und international ausgebildete Mitarbeiter.[37] Regelmäßig informieren und beraten sich mit der Verfassungsgerichtsbarkeit betraute Richter heute auf Kongressen, bei Besuchen, per E-Mail,[38] und es gibt zumindest anekdotische Evidenz für weitere Formen von informellen Kontakten zwischen Richtern verschiedener Gerichte.[39] Mitarbeiter werden zu längeren Aufenthalten an anderen Gerichten entsandt. Man kann diese Praxis soziologisch als Netzwerk, rechtlich als Verbund und methodisch als Rechtsvergleichung deuten.

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Viele nationale Höchstgerichte machen inzwischen wichtige Urteile in englischer Sprache online verfügbar:[40] Man will „außerhalb der nationalen Zielgruppen Gehör […] finden“.[41] Die Gründe hierfür bleiben zu erforschen. So wird etwa vermutet, dass die innerstaatliche Stellung eines Gerichts zunehmend auch von seiner internationalen Anerkennung abhängt.[42] Doch es gibt auch eine genuin europäische Dimension. Die Verfassungsgerichte stärken durch die Verbreitung ihrer Entscheidungen in anderen Staaten und Sprachen ihren europäischen Verbund, denn diese Entscheidungen sind wesentlicher Gegenstand der sie verbindenden Kommunikation.[43] Daneben nehmen einzelne Verfassungsrichter an einem europäischen Diskurs auf wissenschaftlichen Tagungen und in Kongressen teil, in denen sie Denkweisen und Linien der Rechtsprechung nicht nur in die wissenschaftliche und in die politische Diskussion tragen, sondern eben auch mit Vertretern anderer Verfassungsgerichte in einen Austausch treten. Man darf sagen, dass „die heutige Praxis der Verfassungsgerichtsbarkeit (…) nicht die isolierte Tätigkeit von Höchstrichtern ist, die eine klar abgegrenzte Rechtsschicht interpretativ zu erschließen und verbindlich zum Maßstab zu machen hat. Vielmehr liegt ihr ein komplexer und integrativer Interpretations- und Rechtsanwendungsvorgang zugrunde.“[44] Entsprechend lassen sich fünf spezifische Funktionen der Verfassungsgerichte im Verbund ausmachen: eine Verbindungs- bzw. Umsetzungsfunktion, eine Übersetzungsfunktion, eine Legitimationsfunktion, eine Funktion zur Schließung von Rechtsschutzlücken und nicht zuletzt eine auf das Zusammentreffen von Unionsrecht und Verfassungsrecht bezogene Kontrollfunktion.[45]

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In der Verbindungs- und Umsetzungsfunktion kommt zum Ausdruck, dass die Verfassungsgerichte ein besonders wichtiges Bindeglied zwischen den staatlichen Gerichten und den europäischen Gerichtshöfen sind. Das Erfordernis der Rechtswegerschöpfung für Beschwerden an den EGMR erfordert regelmäßig die Befassung des Verfassungsgerichts. Verfassungsgerichte sind häufig die ersten Gerichte, die sich mit neuer Rechtsprechung von EuGH und EGMR auseinandersetzen und so neue europäische Rechtsprechung im innerstaatlichen Recht, verarbeiten und in diesem Sinn umsetzen. In der damit eng zusammenhängenden Übersetzungsfunktion verbreiten Verfassungsgerichte „europäische Rechtskultur“ in den staatlichen Rechtssystemen. Entscheidungen der Verfassungsgerichte sind umgekehrt Grundlage für Entscheidungen der europäischen Gerichtshöfe, weil und insoweit sie parallele Rechtsgarantien, insbesondere im Bereich der Grundrechte, in europarechtskonformer Weise zur Anwendung bringen.

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Verfassungsgerichte haben aber auch eine Legitimationsfunktion. Dadurch, dass sie europäische Entscheidungen rezipieren und zustimmend zitieren, verleihen sie ihnen zusätzliche Legitimation, die für die Rezeption durch innerstaatliche Gerichte oft entscheidend ist. Dort, wo Verfassungen Bestimmungen europarechtlichen Ursprungs zum Inhalt haben, konkretisieren die Verfassungsgerichte mit Hilfe europäischer Vorgaben verfassungsrechtliche Pflichten und Gebote.

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Verfassungsgerichte sind auch in der Lage, Rechtsschutzlücken zu füllen. Sie haben in dieser Funktion im Grundrechtsbereich über die Kontrolle durch den EGMR hinaus die Aufgabe, Rechtspositionen zeitnahe und mit effektiver Durchsetzung innerstaatlich zur Wirksamkeit zu verhelfen. Dort, wo keine Zuständigkeit des Gerichtshofs der Europäischen Union besteht, also insbesondere auf der Ebene des Primärrechts, haben sie eine ergänzende Rechtsschutzfunktion, die unabdingbar ist, damit die Mitgliedschaft in der EU nicht in Konflikt mit den Anforderungen der EMRK gerät. Verfassungsgerichte haben schließlich eine spezifische Kontrollfunktion an der Schnittstelle zwischen europäischem und nationalem Verfassungsrecht. Diese Kontrollfunktion wird auf zweierlei Weise erfüllt, zum einen in Gestalt der sogenannten Identitätskontrolle, d.h. zur Wahrung von Verfassungsinhalten und Grundprinzipien des Verfassungsrechts. Die Kontrolle der Wahrung eines Mindestniveaus des Grundrechtsschutzes ist als Teil dieser Identitätskontrolle begriffen. Zum anderen wird sie in Gestalt der ultra vires-Kontrolle ausgeübt, nämlich dahingehend, dass sie vor massiven Kompetenzüberschreitungen europäischer Organe schützt. Verfassungsgerichtliche Kontrolle vertieft und rationalisiert den Prozess der Erarbeitung gemeineuropäischer Lösungen.

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Dieser Verbund der Verfassungsgerichte leistet einen besonderen Beitrag zur Entfaltung des europäischen Rechtsraums, dessen unterschiedliche Rechtsordnungen nicht bundesstaatlich zusammen gezurrt sind, sondern in einem lockeren, rechtspluralistischen Zusammenhang stehen.[46] So hat die horizontale Interaktion der nationalen Gerichte eine Kontrollfunktion gegenüber der europäischen Judikative, also gegenüber EuGH und EGMR. So gewiss auch ein Gericht alleine diese Funktion erfüllen kann: gemeinsames Handeln verspricht wirkungsvoller zu sein, wie die Entwicklung der Schranken- und Identitätsdogmatik zeigt. Entwickeln mehrere Verfassungsgerichte im Konzert und im zeitlichen Zusammenhang ähnliche Judikaturlinien, stehen sie nicht im Verdacht einen nationalen Sonderweg gegenüber „Europa“ zu verteidigen. Zugleich kann die horizontale Interaktion der gemeinsamen Verantwortung mitgliedstaatlicher Gerichte für den europäischen Rechtsraum dienen, Orientierungen und Arbeitsweisen der nationalen Richter fortbilden sowie eine gemeinsame Begrifflichkeit und damit eine gemeinsame Rechtskultur fördern.

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Was immer Rechtskultur bedeutet,[47] auf jeden Fall hat sie, wie jede Kultur, etwas mit Orientierungen, Selbstverständnissen und sozialen Praktiken zu tun.[48] Daher können eine europäische Rechtskultur und das europäische öffentliche Recht nicht allein aus dem Unionsrecht oder der Rechtsprechung des EGMR wachsen. Vielmehr verlangt sie die Vernetzung der mit der Rechtspflege betrauten nationalen Organe. Dies bestätigt die Bedeutung der Überwindung der Sprachgrenzen, des institutionalisierten Austauschs von Entscheidungen, des regelmäßigen Dialogs sowie der Entwicklung von europaweit verwandten Rechtsfiguren und Argumentationsmustern.[49]

§ 95 Verfassungsgerichtsbarkeit im europäischen Rechtsraum › II. Der horizontale Verfassungsgerichtsverbund › 2. Foren, Institutionen und Probleme

2. Foren, Institutionen und Probleme

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Ein besonders wichtiges Forum der Verbundbildung ist die Konferenz der Europäischen Verfassungsgerichte. Sie geht auf das Jahr 1972 zurück und sollte zu Beginn vor allem die Verfassungsgerichtsbarkeit in den sozialistischen Ländern stärken.[50] Zunächst erschöpfte sie sich in einem diplomatisch geprägten Erfahrungsaustausch. Dank der europäischen Integration repräsentiert sie heute ein Netzwerk, welches Institutionen mit verfassungsgerichtlichen Zuständigkeiten aus ganz Europa in einen inzwischen dichten Interaktionszusammenhang bringt.

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Der europäischen Vielfalt in der Verfassungsgerichtsbarkeit Rechnung tragend geht der Kreis der vertretenen Gerichte über die Verfassungsgerichte im engeren Sinne hinaus. Als Verfassungsgericht gemäß § 6 des Statuts gilt etwa auch das Schweizer Bundesgericht, obwohl es weder ein spezifisches Verfassungsgericht ist noch Bundesgesetze verwerfen darf. Dasselbe gilt für den Hoge Rad der Niederlande. EuGH und EGMR genießen seit 1981, die Venedig-Kommission des Europarats seit 1996 Beobachterstatus.[51] Nach der Präambel und der in § 3 der Satzung niedergelegten Zielsetzung geht es, abstrahierend formuliert, um die Einpassung der eigenen Funktion in den neuen gesamteuropäischen Kontext.

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Zumindest in offiziellen Verlautbarungen hat diese Verbundbildung erhebliche Wirkkraft. Der Präsident des litauischen Verfassungsgerichts Egidijus Kūris sprach 2007 in seiner Funktion als Repräsentant der Konferenz der Europäischen Verfassungsgerichte auf der 5. Konferenz der asiatischen Verfassungsgerichte sogar von einer „community of European constitutional courts“.[52] Wie immer man die Dichte des europäischen Zusammenhangs begrifflich deuten will: Sicherlich ist er vielfach stärker als der globale.[53]

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Nicht nur ein Forum, sondern gar eine Institution, welche die europäischen Verfassungsgerichte vernetzt, ist die Venedig-Kommission.[54] Sie wird von einem Präsidenten geleitet und vor allem von aktuellen und ehemaligen Verfassungsrichtern getragen. Spätestens seit ihrer Auseinandersetzung mit dem neuen ungarischen Grundgesetz von 2011 ist ihr Gewicht offensichtlich.[55] Die Venedig-Kommission verfolgt zwei Initiativen mit rechtsvergleichender Stoßrichtung. Das seit 1993 erscheinende Bulletin on Constitutional Case-Law enthält Zusammenfassungen wichtiger Entscheidungen von über 60 Verfassungs- und Höchstgerichten, die von Mitarbeitern der Gerichte erstellt werden. Es soll „den Informationsaustausch zwischen den Gerichten fördern und den Richtern helfen, heikle Rechtsfragen, die sich gleichzeitig in mehreren Ländern stellen, zu lösen.“[56] CODICES, die InfoBase on Constitutional Case Law,[57] ist noch breiter und umfasst weitere 7000 Entscheidungen in englischer und französischer Sprache. Sie ist mit dem Anspruch verbunden, in hohem Maße die vergleichende Arbeit der Juristen zu unterstützen.[58] Eine bessere und spezifischere Erschließung ihres Potentials steht auf der Agenda der nächsten Jahre.

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Im sogenannten „Sechser-Treffen“ existiert ein engeres Forum für die deutschsprachigen Verfassungsgerichte, welches neben den Verfassungsgerichten von Deutschland und Österreich, den Staatsgerichtshof des Fürstentums Liechtenstein, das Schweizer Bundesgericht sowie EGMR und EuGH umfasst. Mitunter werden Referate auf diesen Treffen veröffentlicht.[59] Ein ähnliches Forum stellen die regelmäßigen trilateralen Treffen (Incontri) zwischen dem italienischen, dem portugiesischen und dem spanischen Verfassungsgericht dar.[60] Daneben gibt es zahlreiche weitere Kontakte wie im Gesprächskreis zwischen Mitgliedern des BVerfG, des britischen Supreme Court und des französischen Conseil d’État[61] oder bei zahlreichen Besuchen, von denen etwa die Pressemitteilungen des Bundesverfassungsgerichts oder die Internetseiten des spanischen und des österreichischen Verfassungsgerichts berichten.

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Es ist ein bemerkenswertes, aber konsequentes Moment der diversen Institutionen europäischer Verbundbildung, dass sie sich nicht mit der Mitgliedschaft in der Europäischen Union decken. In der Tat nutzen die staatlichen Organe des europäischen Rechtsraums für ihre horizontale Vernetzung ebenso weitere wie auch engere Foren. Dies mindert den Einfluss der unionalen Organe und so die Gefahr einer unionalen Vereinnahmung. Zweifellos bilden die Gerichte von EU-Mitgliedstaaten eine Art „Kerngruppe“, welche die Ausrichtung in vielen Bereichen bestimmt. Gleichzeitig kommt es zu einem Austausch und zu einer Stärkung rechtsstaatlicher Strukturen über den Raum der EU hinaus. Eigendynamik und Relevanz der horizontalen Verbundbildung werden aber auch innerhalb der Union gestärkt.

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Das Konzept eines Verbunds sollte nicht verdecken, dass es deutliche Asymmetrien gibt. So zeigen die Länderberichte für den XVI. Kongress der Konferenz der Europäischen Verfassungsgerichte, dass der rechtsvergleichende Ausblick sich kaum jemals auf die Rechtsprechung aller beteiligten Verfassungsgerichte erstreckt, sondern meist selektiv erfolgt. Einigen wenigen Gerichten kommt regelmäßig eine besondere Rolle zu, vor allem dem Bundesverfassungsgericht.[62] Unabhängig von sprachlichen oder regionalen Gesichtspunkten wird es besonders häufig zitiert.[63]

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Die Gründe für diese Asymmetrie dürften vielseitig sein. Der Präsident des tschechischen Verfassungsgerichtes führt aus, sein Gericht hätte sich mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts „identifiziert“ und „darin wiedererkannt“.[64] Eine solche Identifikation mag unter anderem daran liegen, dass das Bundesverfassungsgericht sich in einer besonders starken und daher für andere Gerichte erstrebenswerten Rolle befindet.[65] Weiter würde eine Analyse der Rechtsprechung aller Gerichte die oft knappen Ressourcen überstrapazieren. Sicherlich spielen die Sprache und die Vertrautheit eine wichtige Rolle: Die herausgehobene Rolle des Bundesverfassungsgerichts hat auch etwas mit dem Gewicht Deutschlands und der vergleichsweise ressourcenstarken deutschen Forschungsförderungspolitik zu tun.[66] Nicht wenige Verfassungsrichter anderer europäischer Staaten haben kürzere und längere Forschungsaufenthalte in Deutschland verbracht und sprechen deutsch. Rechtsordnungen mit weniger günstigen Randbedingungen rücken dagegen seltener ins Blickfeld.[67]

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Die weitere horizontale Verbundbildung sollte solche Asymmetrien, im Lichte der prinzipiellen Gleichwertigkeit der verschiedenen verfassungsrechtlichen Arrangements, kritisch im Auge behalten. Dies unterstreicht die Bedeutung der Mitwirkung aller Verfassungsgerichte an der CODICES-Datenbank und ihre Bereitschaft, Urteile in englischer Sprache online verfügbar zu machen.[68]

§ 95 Verfassungsgerichtsbarkeit im europäischen Rechtsraum › III. Eckpunkte innereuropäischer Verfassungsgerichtsvergleichung

III. Eckpunkte innereuropäischer Verfassungsgerichtsvergleichung

§ 95 Verfassungsgerichtsbarkeit im europäischen Rechtsraum › III. Eckpunkte innereuropäischer Verfassungsgerichtsvergleichung › 1. Ein „europäisches Modell“ der Verfassungsgerichtsbarkeit? Grundlagen und Grenzen einer Denkfigur

1. Ein „europäisches Modell“ der Verfassungsgerichtsbarkeit? Grundlagen und Grenzen einer Denkfigur

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Es würde die weitere Verbundbildung und die einschlägige Rechtsvergleichung enorm erleichtern, wenn die Verfassungsgerichtsbarkeit in den europäischen Staaten einem einheitlichen Modell folgen würde. Und in der Tat: auf den ersten Blick gibt es ein solches Modell für das europäische öffentliche Recht, eben das europäische Modell der Verfassungsgerichtsbarkeit. Es ist Kelsens Innovationskraft sowie dem österreichischen, dem tschechoslowakischen und dem spanischen Verfassunggeber der Zwischenkriegszeit sowie dem erfolgreichen Wirken des Bundesverfassungsgerichts und der Corte costituzionale seit den 1950er Jahren zu verdanken. Eine Reihe von Staaten, die im vergangenen Jahrhundert autoritäre Staatsformen überwunden und einen demokratischen Rechtsstaat eingeführt haben, hat sich in diesem Sinne orientiert.[69] Eine Studie des Europarats bestätigt die besondere Leistungskraft dieses Modells zur Gewährleistung des europäisch geforderten Rechtsschutzes.[70] Modellkonstituierend ist dabei die zentralisierte, allein einem spezifischen Gericht zustehende allgemeine Kompetenz zur Prüfung von Gesetzen am Maßstab der Verfassung und zur Verwerfung im Fall der Verfassungswidrigkeit.[71]

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So großartig dieses Modell ist, so wenig mag es die Vielfalt der Verfassungsgerichtsbarkeit in Europa abzubilden. Es eignet sich daher weder als Grundlage für den innereuropäischen Vergleich der Verfassungsgerichtsbarkeit, noch kann sich die Ausbildung des Verfassungsgerichtsverbunds alleine auf dieses Modell stützen. Vielmehr sollte man sich für die weitere Gestaltung des europäischen öffentlichen Rechts von der Idee eines europäischen Modells der Verfassungsgerichtsbarkeit geradezu verabschieden, auch wenn Konvergenztendenzen vor allem im europaverfassungsrechtlichen Selbstverständnis unübersehbar sind. Genauer: Wir behaupten nicht die Existenz eines europäischen Modells der Verfassungsgerichtsbarkeit. Wie wir vielmehr anhand von 13 Rechtsordnungen zeigen, gibt es kaum einen Modus des Schutzes liberaldemokratischer Verfasstheit, der in Europa fehlt. Es wird daher weder ein analytisches Modell gezeichnet, das die nationalen Mechanismen erkenntnisstiftend zusammenfasst, noch gar ein normatives, das eine bestimmte Ausprägung in Ablehnung anderer empfiehlt.[72] Dies entspricht einer klaren Wertung der Vertragsgeber: Wenn die mitgliedstaatlichen Verfassungsordnungen gleichwertig sind, so Art. 4 Abs. 2 EUV, dann umschließt das die Vielfalt der Mechanismen, welche die Normativität der Verfassung schützen. Dies bedeutet notwendig die Akzeptanz von großen Divergenzen.

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Immerhin 9 der 28 EU-Mitgliedstaaten, Dänemark, Estland, Finnland, Griechenland, Irland, die Niederlande, Schweden, das Vereinigte Königreich und Zypern, verfügen über kein spezielles Verfassungsgericht. Mit dem Vereinigten Königreich verzeichnet der europäische Rechtsraum eine Rechtsordnung, deren Grundordnung zuvörderst in Konventionen und nicht in höherrangigem Recht niedergelegt ist, so dass schon Gerichten jedenfalls bis in die jüngste Vergangenheit nur eine minimale verfassungsgerichtliche Rolle zukommen konnte.[73] Europa besitzt somit nicht nur kein einheitliches Modell der Verfassungsgerichtsbarkeit, sondern sogar die prominenteste Ausnahme zur globalen Praxis freiheitlicher Demokratien. Aber auch die rigiden Verfassungen ordnen keineswegs europaweit eine gerichtliche Kontrolle des Gesetzgebers an. Die finnische Verfassung lässt die Gesetze in erster Linie durch einen parlamentarischen Ausschuss und nicht durch Gerichte kontrollieren.[74] Die niederländische Verfassung verbietet den Gerichten ausdrücklich, Gesetze wegen eines Konflikts mit der Verfassung zu verwerfen.[75] Gleiches besagt, für Bundesgesetze, die Schweizerische Bundesverfassung.[76] Diese Regelungen verstehen sich nicht als defizitäre Reminiszenzen früherer Zeiten, sondern waren Gegenstand ausführlicher verfassungspolitischer Diskussionen in der Hochzeit des Konstitutionalismus, dem ausgehenden 20. Jahrhundert.[77]

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Doch auch innerhalb der Gruppe der spezifischen Verfassungsgerichte gibt es eine so große Vielfalt, dass die Annahme eines einzigen Modells für eine mit der gebotenen Differenziertheit arbeitende europäische Rechtsvergleichung problematisch erscheint. So ist die Karlsruher Kompetenzfülle und Wirkungsbreite mit Kelsens Kernidee unvereinbar, die das Verfassungsgericht auf die Kontrolle des Gesetzgebers ausrichtet. Zwar könnte man das Bundesverfassungsgericht seinerseits als das „europäische Modell“ begreifen.[78] Doch auch eine solche Heraushebung vernachlässigt, analytisch betrachtet, die Vielfalt und die Varianten der Verfassungsgerichtsbarkeit in Europa, und normativ das Prinzip der prinzipiellen Gleichheit der Staaten und ihrer jeweiligen Verfassungsidentität. Zwar haben sich die meisten neueren Prozesse der Verfassunggebung oder Verfassungsreform intensiv mit „Karlsruhe“ beschäftigt und auch teilweise rezipiert. Aber es gibt es eben auch Fälle, in denen die Rezeption bewusst nicht stattfand. In Finnland etwa war die ausgreifende Praxis des Bundesverfassungsgerichts ein wichtiges Argument, warum man eben keine spezifische Verfassungsgerichtsbarkeit eingeführt hat.[79]

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Die europäische Ebene selbst präsentiert ebenfalls kein einheitliches Modell. Sie reproduziert vielmehr die Differenz zwischen einem zur Letztentscheidung berufenen Gericht, das über verfassungsrechtliche Fragen entscheidet, weil es nun mal für alle Rechtsfragen zuständig ist, und einer fokussierten Grundrechtsgerichtsbarkeit, die ein spezialisiertes Organ wahrnimmt (EGMR). Die in dieser Aufstellung strukturell angelegten Konflikte[80] lassen es als unwahrscheinlich erscheinen, dass die europäische Ebene in Zukunft ein „europäisches Modell“ ausbildet.

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Die Gemeinsamkeit zwischen den diversen mit verfassungsgerichtlichen Aufgaben betrauten Gerichten ergibt sich nicht aus ihrer Struktur, sondern aus den gemeinsamen Anforderungen und Herausforderungen, die aus der Mitgliedschaft in den beiden Organisationen, in der EU wie im Europarat, entspringen.[81] Materiell bildet die Rechtsprechung des EGMR einen autoritativen Bezugsrahmen für das Verständnis vieler Grundrechte, des häufigsten verfassungsgerichtlichen Maßstabs; daraus folgt eine gewisse Harmonisierung der Rechtsprechung der diversen nationalen Gerichte.[82] Aus der Rechtsprechung des EuGH ergibt sich sogar die Kompetenz und Pflicht aller staatlichen Gerichte, parlamentarischen Gesetzen den Gehorsam zu verweigern, wenn sie Unionsrecht verletzen. Das gilt auch für Großbritannien, Schweden oder Finnland. Die Gerichte verfügen so über die wohl charakteristischste verfassungsgerichtliche Befugnis, selbst wenn sie nur eine konkrete Nichtanwendung, nicht aber ein abstraktes Vernichten ermöglicht.[83] Die Maßgeblichkeit des „europäischen Modells“ lässt sich damit gleichwohl nicht begründen, denn die Zentralisierung dieser Verwerfungskompetenz gilt ja gemeinhin als Merkmal des sog. „europäischen Modells“, im Gegensatz zum dezentralen Modell, das aus den Vereinigten Staaten stammt.[84] Die Europäische Union, der Europarat und die EMRK verlangen von ihren Mitgliedstaaten die Gewährleistung einer Reihe justizieller Garantien, insbesondere den Schutz eines breiten Spektrums individueller Rechte gegenüber allen Formen öffentlicher Gewalt einschließlich des Gesetzgebers, aber eben nicht die exklusive Kontrolle parlamentarischer Gesetze durch ein hierzu spezifisch berufenes Gericht.

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Wir bestreiten nicht, dass es Fragestellungen gibt, die legitim mit einem „europäischen Modell“ der Verfassungsgerichtsbarkeit arbeiten. Wenn man globale Vergleichung betreiben, historische Linien ziehen, politiktheoretische Thesen über institutionelle Dynamiken treffen oder rechtspolitische Forderungen formulieren möchte, ist es hilfreich, bestimmte gemeinsame Merkmale zu identifizieren, für welche der österreichische Verfassungsgerichtshof, das Bundesverfassungsgericht oder der Conseil Constitutionel exemplarisch stehen.[85] Dem anstehenden innereuropäischen Vergleich im Lichte des Rechtsraums und europäischen öffentlichen Rechts stehen Ideen eines einheitlichen „europäischen Modells“ aber eher im Wege.[86]

§ 95 Verfassungsgerichtsbarkeit im europäischen Rechtsraum › III. Eckpunkte innereuropäischer Verfassungsgerichtsvergleichung › 2. Identifikation des Forschungsgegenstands Verfassungsgerichtsbarkeit

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