Читать книгу: «Apokalyptische Variationen», страница 4

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IN DEN BERGEN

Ein rutschiger Fahrdamm, der sich bergauf wand. Zu beiden Seiten geschützt von dunklen Fichtensäumen. Zwei Menschen gingen ihn langsam hinauf. Am Vortag hatte es geschneit, man konnte ausgleiten. Deshalb stützte der Mann mit seiner Hand öfter den Ellenbogen der Frau. Die Frau lief gleichgültig weiter, als würde sie seinen stillen Beistand nicht bemerken. Der Fahrdamm wand und wand sich. Dort oben, hoch über den Fichtenkronen, erwarteten sie die gestreiften Gebirgskämme. Felsen, Schnee und in Wellen ziehende Wolken warteten auf sie.

Rasch wurde es dunkel, deshalb konnte der Mann den Blick der kleinen Frau nicht sehen. Ihre winzigen Schritte und ihre kleinen Schühchen mit den schiefen Hinterkappen ließen den Mann schweigen. Wie verzaubert beobachtete er ihre schlanken Füße und zählte die Schritte. Sechshundertvierundzwanzig, oder vielleicht … achthundert. Die Zahlen gerieten ihm durcheinander …

Sie hatte ihn am Bahnhof empfangen und, nach eineinhalb Jahren Trennung, nur vier Worte zu ihm gesagt: »Bist du nicht müde?« Aus irgendeinem Grund hatte sie sich nicht an seine wartende Brust geschmiegt und war nicht eingetaucht in die Seen seiner blauen Augen. Vier Worte, sonst nichts. Und der rutschige Fahrdamm, die dunklen Fichtensäume, die schiefen kleinen Schuhe, das Durcheinander der Zahlen. Warum? Diese Frage würgte ihm die Kehle ab, sie stieg unwillkürlich in ihm hoch. Nach eineinhalb Jahren …

Wo war sie gewesen? Die Bedeutung dieser drei Wörter verstand der Mann ganz genau, sie hatten sich in sein Gehirn eingebrannt. Damals, dort, in Litauen – plötzlich war die Front da – war er im Gebell der Maschinengewehre als Erster durch diesen engen Graben gekrochen. Als Erster, um sie zu beschützen. Um als Erster der Gefahr ausgesetzt zu sein. Dann endete der Graben, und ganz in der Nähe ragten die Mauern eines Gehöfts auf, aber dorthin musste man etwa einhundert Meter rennen, und die Maschinengewehre bellten zudringlich. Sie hatte Angst und beschloss zurückzubleiben. Bis die MGs verstummen würden und er sich in diesem Gehöft umgeschaut hätte. Und der Mann war mit angehaltenem Atem diese einhundert Meter gerannt. Er erreichte den verfallenen Hof. Dort warteten Menschen, Fuhrwerke und Pferde auf Ruhe. Um zu fliehen, fort. Und wirklich, eine Stunde später schwiegen die Maschinengewehre, und er traf einen guten Bekannten und erbat zwei Plätze auf einem Fuhrwerk.

Dann kehrte er zu dem Graben zurück. Der Graben war leer. Sie war weg. Was nützte es, dass der Mann auf dem Feld herumirrte und schrie, bis er heiser wurde, und dass er später weinte. Und als er das Weinen vergessen hatte, kitzelte das Salz der Tränen seine Wangen, und dieses seltsame Gefühl weckte in ihm den Wunsch, leise zu heulen. Dennoch holte ihn der Wahnsinn wieder ein; gegen Abend bellten, wie auf Verabredung, die Maschinengewehre wieder los, und der Mann ging allein weiter, fort. Ins Ungewisse.

Und eineinhalb Jahre lang …

Oh, er kannte die in sein Gehirn eingebrannten Wörter: Wo ist sie?

Deshalb suchte, deshalb fand er sie. Und jetzt, da sie zu zweit höher und höher hinaufgingen, betrachtete er furchtsam die gestreiften Gebirgskämme und zählte die Schritte ihrer schlanken Füße. Sechshundertvierundzwanzig, oder vielleicht achthundert …

Plötzlich endeten die dunklen Fichtensäume, der Fahrdamm vollzog eine jähe Wendung, und das Gebirge stand direkt vor ihnen, auf der rechten Seite. Sie fürchteten sich nicht vor der Nacht, denn auf den Gipfeln leuchtete der Schnee, vielleicht auch der Widerschein der am Himmel aufgegangenen Sterne. Hier, auf der rechten Seite des Fahrdamms, lauschte der Abgrund ihren Schritten. Unten drängten sich die Lichter des Dorfs aneinander, und die unerträgliche Stille entrang dem Gaumen des Mannes fünf Wörter:

»Wie hast du dich gerettet?«

Die Frau wandte ihm ihr Gesicht nicht zu. Er hörte zum zweiten Mal ihre geliebte Stimme. Sie war ein bisschen heiser und sehr eintönig:

»Ich habe abgewartet, bis es ruhig war, und dann wurde ich von Soldaten entdeckt. Sie waren mit einem Lastwagen unterwegs, du weißt, auf dieser Landstraße. Sie haben mich mitgenommen.«

»Warum bist du nicht in das Gehöft gekommen?«

Die Frau wandte sich noch immer nicht zu ihm um. Den folgenden Satz sprach sie ganz heiser aus:

»Sie hatten keine Zeit. Sie hatten es eilig. Sie haben mich auf die andere Seite mitgenommen.«

Jetzt verschwanden die Sterne. Die Frau und der Mann spürten den lautlosen Schnee fallen. Eine Schneeflocke taute auf den langen Wimpern der Frau. Sie schüttelte ihren Kopf, und das erinnerte den Mann an ein Spiel, das die beiden gespielt hatten, als sie jung waren. Damals war er gern überraschend an sie herangetreten und hatte ihre Nackenbeuge geküsst. Hier, ein kleines Stück unter dem Hinterkopf. Und dann hatte sie genau so ihren Kopf geschüttelt. Und sie hatten beide gelacht, wie kleine Kinder. Und dann hatten sie sich richtig geküsst. Jetzt wurde die Frau von einer Schneeflocke geküsst, und seine Berührung an ihrem Ellenbogen spürte sie nicht einmal. Der Mann schüttelte selbst seinen Kopf, und sein Blick glitt nach rechts, aber das Gebirge war nicht mehr auf der rechten Seite.

Milliarden Schneeflocken hingen zwischen dem Gebirge und den beiden, die seinen grauen Schleier erklommen. Und hinter dem Schleier, schien es, war die Unendlichkeit. Und sie schien bedrohlich, diese Unendlichkeit, es war, als lauerte hinter dem undurchsichtigen Grau ein grausamer Herrscher – das Schweigen der Berge, das sie zerschmelzen konnte wie die Schneeflocke, die sich auf den Wimpern der Frau aufgelöst hatte. Dieser Gedanke machte dem Mann Angst, seine Nerven waren in diesen eineinhalb Jahren zermürbt, das Entscheidende war die ständige Frage – wo ist sie? Deshalb drückte er, nach Rettung suchend, ihren Arm zusammen. Etwas zu hart, ein wenig über dem Ellenbogen.

Da wandte sich die Frau zu ihm um. Ihre Gesichtszüge waren undeutlich und grau, und er verstand nicht, was sie fühlte. Der Mann hielt sie fest, er zog sie mit beiden Armen an sich, wahrscheinlich zu stark, denn die Frau stöhnte auf. Und dann sog er mit dem Blick ihr geliebtes Gesicht ein. Er sehnte sich sehr danach, die blauen Seen ihrer Augen zu sehen. Aber das, was er sah, war schlimmer als diese bedrohliche Unendlichkeit. Sie lächelte, töricht, ja geradezu idiotisch. Dieses Lächeln war ihm neu und unbekannt, ein Erzeugnis der vergangenen eineinhalb Jahre. In diesem Lächeln mischte sich alles: Angst, der Wunsch zu gefallen, und ganz gewöhnliche Unterwürfigkeit. Und außerdem erinnerte ihn dieses Lächeln an andere, betrunkene, schiefe Arten von Frauen zu lächeln. Er versuchte ein letztes Mal, die Seen ihrer blauen Augen zu finden, doch ihre Augenhöhlen waren von derselben Farbe wie die wenigen Fichten, die im Schneegestöber zu sehen waren. Er spürte selbst nicht, wie er laut aufschrie, und der Abgrund gab seine Worte zehnmal zurück.

»Warum bist du nicht auf den Hof gekommen?«, schrie er und drückte heftig mit den Fingern ihre schlanken, einst so reizvollen Hände zusammen.

»Sie waren zu zehnt. Glaube ich. Sie begehrten mich. Sie flößten mir ein starkes Getränk ein. Genau erinnere ich mich nicht, wahrscheinlich waren es zehn. Und dann … war ich mal hier, mal da. Bis ich wieder hinausgeworfen wurde. Und das geht so bis jetzt. Gehst du mit mir in ein Lager? Möchtest du vielleicht die genauen Zahlen dieser eineinhalb Jahre wissen? …«

Den letzten Satz schrie die Frau mit der heiseren Stimme einer Trinkerin. Und die dunklen Fichten warteten auf ein Urteil. Die Schneeflocken fielen lautlos. Und einige schmolzen auf den Wimpern der Frau. Der Mann verstand nicht, warum die Schneeflocken, die auf ihrem Gesicht schmolzen, salzig waren. Er wusste, dass er heulen wollte, wie damals in den Feldern an dem Gehöft.

Jetzt drückte er sie sehr sanft an sich und küsste ihre Augenhöhlen. Dort hatten vor langer Zeit blaue Seen gestrahlt. Die beiden standen in einer Umarmung da und schwiegen. Bis sie von Milliarden lautlosen Schneeflocken weiß wurden. Und die versteckten Gebirgskämme und die im Dunkeln schmelzenden Fichten – warteten. Schon kam die Nacht.

Doch die beiden blieben nicht zusammen stehen. Sie lösten sich ohne Worte voneinander, und der Mann ging bergabwärts, und die Frau bergauf. In der Stille, der bedrohlichen Stille der Berge. Sie trennten sich zum letzten Mal. In einer dunklen Nacht in den Bergen, als der Krieg schon längst zu Ende war.

GEFANGEN

Endlich hängt diese stark zerstörte Stadt in Bayern Laternen in den Straßen auf.

Klar, die Lampen hängen ziemlich weit auseinander und leuchten wesentlich fahler als vor dem Krieg. Wenn ein Mensch von einer Laterne zur nächsten geht, spielen Schatten auf seinem Gesicht. Sowohl von den Ruinen der Häuser als auch von den hohen Linden auf den zahlreichen Freiflächen. Manchmal toben in der Stadt die starken Wellen des Gebirgswinds, sodass die in der Straßenmitte hängenden Lampen hin und her baumeln – und dass manchmal, plötzlich, ein Lichtstrahl direkt auf einen Passanten fällt, natürlich, sehr kurz, aber den Menschen kann man dann erkennen.

Diese Stadt zeichnet sich durch eine Vielzahl von engen und kurzen Straßen und Gassen aus. Dort hat die Stadtverwaltung nur wenige Laternen aufgehängt, sie tauchen meist unvermittelt auf, an Kreuzungen. Dunkelheit und scharfe, aus Ritzen von Fensterläden hervorbrechende Lichtstrahlen, ein flimmerndes Glänzen und … plötzlich eine dieser gehenkten Laternen, die einen magischen, klar umrissenen Lichtkreis wirft. Und dann wieder Dunkelheit und wieder scharfe Lichtstrahlen, die an den Beinen der Passanten lecken.

Otto Kranz mag die gefällige Verborgenheit der Gassen. Wenn die Stadtverwaltung diese spärlichen Belege der Friedenszeit wieder abhängen würde, wäre Otto Kranz nicht allzu sehr beunruhigt. Er würde jeden Abend spazieren gehen, ohne sich zu verirren, ganz gleich ob das Wetter gut oder schlecht wäre. Frische Luft tut der Gesundheit gut, während es in der kleinen Küche im zweiten Stock heiß und stickig ist.

Otto Kranz zeigt sich nicht in der Stadt. Tagsüber sitzt er an einem kleinen Tischchen in der Ecke der Küche, den groben Schädel mit dem kurz geschorenen Haar auf seine Pranken gestützt, und blättert in alten Ausgaben der Wehrmacht. Darin sind viele vergangene Dinge. Unzählige Züge von Stahlhelmen marschieren über die Seiten, es flimmern die Namen eroberter Länder und Städte, und der großartige Führer hebt unaufhörlich seine alles zermalmende Handfläche in die Höhe.

Zu jeder vollen Stunde knarrt die Wanduhr von der Gestalt eines Bauernhauses, das Türchen öffnet sich, ein hölzerner Kuckuck springt heraus und schreit krächzend.

Kuckuck, kuckuck!

Dann löst Otto Kranz den Blick von der alten Wehrmacht und schaut geradeaus, zur Wand. An der Wand ist nichts Besonderes. Ein kleines Bildchen aus dem vergangenen Jahrhundert. Eine Wiese an einem Hang, ein Mädchen, das Blumen pflückt, und in der Ferne schlecht gemalte Berge. Es hat den Anschein, als würden sie jeden Augenblick in die steile Wiese fallen.

Manchmal betrachtet Otto Kranz das Bild, bis eine Stunde später wieder der heisere Kuckuck ruft. Dann starrt er wieder den großartigen Führer an, der die alles zermalmende Handfläche in die Höhe hebt, und in seinen runden blauen Augen spiegelt sich eine ungelöste Frage.

Warum?

Die Besitzerin der kleinen Küche, Erna Zerfling, fürchtet sich vor diesen ungemütlichen Augenblicken. Sie kennt Otto Kranz schon lange, sie ist jetzt fünfzig, aber vor dreißig Jahren …

Dieses kleine Abenteuer, als Otto eine Fleischerei in einem Städtchen in Thüringen leitete und seine Augen noch vollkommen blau waren. Ja, was soll man machen, jungen Mädchen passiert so etwas oft. An den Sonnabenden ist im Hotel lange Tanz, das starke Bier berauscht, und die Begleitung auf dem Heimweg dauert bis zum frühen Morgen …

Später gerät das Abenteuer in Vergessenheit, sie muss einen anderen heiraten. Nur, wenn man fünfzig wird, dann wünscht man sich, wünscht man sich sehr, sich an das zu erinnern, was vor dreißig Jahren geschah. Besonders, wenn dieser Mensch unglücklich ist und Schutz und Betreuung braucht.

Frau Zerfling weiß, warum Otto den ganzen Tag lang in der Wehrmacht blättert und abends spazieren geht. Gut, dass sie eine einsame Witwe und geflüchtet ist, sodass man sie hier kaum kennt. Trotzdem bebt ihr Herz, wenn jemand an die Tür klopft und sich Otto im Flur versteckt. Doch eigentlich hat er keine schlechten Papiere, er hat sie sich kurz vor dem Kriegsende beschafft …

Nur … man liest jeden Tag in den Zeitungen, dass wieder einer geschnappt wurde.

Aber … vor dreißig Jahren hat er sie bis zum frühen Morgen begleitet, und daran kann sie sich aus irgendeinem Grund hervorragend erinnern, bis ins letzte Detail, an alles.

Und so sitzt sie auch jetzt da und strickt und wartet. Es ist später Abend, fast halb elf, Sperrstunde, und Otto ist immer noch nicht da. Sonst kommt er immer kurz vor zehn.

Heute Abend ist der Himmel bestirnt, die Sterne funkeln nicht allzu sehr; da die Spitzengardinen beiseite geschoben sind, kann man sie durch das Küchenfenster sehen. Sie findet einen ziemlich verblassten Stern und versinkt in Gedanken.

Und wenn sie nun Otto geheiratet hätte? Ein Großteil ihres Lebens wäre angenehm verlaufen und einige Jahre königlich. Wenn Otto guter Stimmung ist, dann erzählt er von der Tschechoslowakei und von Litauen. Das letztere Land ist Frau Zerfling unbekannt, aber daran erinnert sich Otto besonders gern. Essen im Überfluss, ein schickes Auto und freie Hand. Frau Zerfling wird sogar ärgerlich, während sie auf den verblassten Stern starrt. Wenn sie nur vor dreißig Jahren …

Man sollte nicht immer auf die Eltern hören. Natürlich, das Ende wäre dasselbe, diese kleine Küche, aber eine Reihe von Jahren …

Otto sagt, in Litauen habe es spezielle Geschäfte für die Deutschen gegeben, wo man nicht habe anstehen müssen, man sei im eigenen Auto angefahren gekommen und habe nur einkaufen müssen. Und das sei nur ein Teil der Annehmlichkeiten gewesen. Den Rest hätten Lastwagen aus Warenlagern herangeschafft.

Frau Zerfling schaut nicht mehr auf den Stern, sie schließt die Augen, und vor ihr breitet sich ein fantastisches Land aus. Wie im Märchen, für Kinder. »Hans im Land der Vielfraße«. Deshalb zuckt Frau Zerfling zusammen, als der hölzerne Kuckuck aus dem Türchen springt und elf Mal ruft, so als wäre sie gerade erwacht.

»Mein Gott!«, ruft sie aus, ergreift ihr Strickzeug und legt es wieder auf den Tisch. Wird es denn wirklich morgen in der Zeitung stehen?

»Otto Kranz festgenommen, ein bekannter Nazi, der sich besonders in der Tschechoslowakei und in Litauen hervorgetan hat.«

Frau Zerfling ist im Begriff, endgültig die Nerven zu verlieren. Sie stellt sich vor den Spiegel mit dem Holzrahmen und streicht mit den Handflächen über ihr glattes, ergrauendes Haar, dann greift sie wieder nach dem Strickzeug und versucht, die Maschen zu zählen. Die Zahlen geraten durcheinander. 12, 13, 8, 6, 13 …

Sie geht ans Fenster und riecht aus irgendeinem Grund an den Leberblümchen in der kleinen blauen Vase. Da zuckt sie zum zweiten Mal zusammen, es klopft an die Tür. Dreimal lang, zweimal kurz …

»Gott sei Dank! Otto!«

Sie schließt die Tür auf, hilft ihm aus dem Mantel.

»Wo bist du so lang gewesen? Es ist schon elf!«

Otto Kranz schweigt. Frau Zerfling stellt sich vor ihn hin, ihr volles, aber schon kleiner werdendes Gesicht (mit vielen kleinen Fältchen) nähert sich den Tränensäcken an seinen blauen Augen und wartet auf eine Antwort. Doch Otto Kranz wendet sich ab, geht ans Fenster und zieht plötzlich die Gardinen zu. So plötzlich, dass die blaue Vase mit den Leberblümchen vom Fensterbrett fällt. Frau Zerfling hockt sich auf den Boden und sammelt langsam die Scherben und die Erdklümpchen ein, während ihr Gesicht nach oben gerichtet ist. Ihr Gesicht wartet noch immer auf eine Antwort. Da hockt sich auch Otto Kranz nieder.

So hocken sie einander gegenüber, sammeln Scherben und Erde auf und schweigen.

Bis Ottos geschwollene Augenlider rot werden und er schnaufend Atem holt. Dann wirft er die eingesammelten Scherben Frau Zerfling in den Schoß, richtet sich, auf das Fensterbrett gestützt, wieder auf und stößt kurz hervor:

»Dieser Jude.«

Frau Zerfling versteht nicht. Sie hockt noch immer da und starrt in seine blauen Augen. Otto Kranz meint, er hätte ihr längst alles erzählt und Erna wäre die Bedeutung des Gesagten klar.

»Ich habe diesen Juden gesehen«, sagt er wieder. Und erst, als er sie sagen hört:

»Ja, hier sind viele Juden. Aus den KZs«, versteht er, dass Erna nichts weiß. Da zieht er mit seinen noch immer starken Fleischerarmen Frau Zerfling vom Boden hoch, starrt in ihr schrumpfendes Gesicht und fängt an:

»Ich habe diesen Juden gesehen, dem ich …«

Er redet nicht weiter. Er stößt sie von sich weg und setzt sich an den Tisch.

Auf ihm liegt eine aufgeschlagene Ausgabe der Wehrmacht. Die Abbildung eines Schlachtfelds. Verstreute Leichen von Soldaten, die meisten verkrümmt. Ihre Posen sind unnatürlich. Warum hält dieser Verstorbene mit beiden Händen seinen Hals umklammert und ist das Bein von jenem so unnatürlich angezogen? Selbstverständlich wurden sie von Schüssen hingestreckt. Von Schüssen?

Otto Kranz starrt die Toten an und versucht, sich so genau wie möglich, bis ins letzte Detail, zu erinnern.

Natürlich, diese litauische Stadt ähnelt den Städten seines eigenen Landes nicht allzu sehr. Enge Gassen und alte Häuser kann man auch in seinem heimatlichen Thüringen oder auch hier, in Bayern, finden. Nur diese quadratische deutsche Ordnung gibt es in Litauen nicht. Die kleinen Straßen sind gewunden, sie hüpfen nach rechts und links und schlängeln sich kapriziös. Und die Häuser … Zu viele gerundete Linien, unverständliche Reliefs, lebendige Statuen (die, scheint es, jeden Augenblick herabsteigen und umhergehen werden) und Kirchen, Kirchen, Kirchen. Die verschiedensten.

Man sagt, diese Stadt sei schön. Vielleicht. Ihm ist sie fremd. Aber es lebt sich hier gut. Lebensmittelmarken? Ha! Im Dienst des Gebietskommissars? Das Essen ist üppig und frisch. Und auch die Getränkelager wurden rechtzeitig konfisziert. Und für Essen und Getränke … konnte man auch immer eine hübsche und füllige Frau finden. Ja, sie würde nicht treu sein, nicht die Augen einer gehorsamen Hündin haben, wie eine Ehefrau, die den ganzen Tag geschäftig zwischen Blumen, Kuchen, Strickzeug und Servietten zubringt. Trotzdem, wenn man von der Fähigkeit zu lieben spricht … oh, da ist Gehorsam nicht immer das Passendste!

Aber … manchmal wird man auch Kreaturen dieser Art überdrüssig. Manchmal muss man sich an seinen Freund Müller wenden. Müller regiert ein ganzes Städtchen in der Stadt. Müller ist ein ausgezeichneter, freundschaftlicher Mann. Man muss nur abends bei einer Flasche französischen Cognacs seinen Abenteuern im Getto zuhören.

Vergnüglicher aber ist es, selbst an Abenteuern teilzunehmen. Besonders wenn der Kopf von einem edlen Getränk berauscht ist.

Und wenn er an jenem sonnigen Sommermorgen nicht hingegangen wäre? Wie sollte man denn da nicht hingehen!

Die Nacht war in rein männlicher Gesellschaft verflogen. Bis zum Morgen hatten die zwei stärksten Köpfe durchgehalten – seiner und der von Müller.

»Vielleicht wäre es nicht schlecht …«, schlägt Otto Kranz seine Kaffeetasse schwenkend vor. Müller versteht sofort. Er lächelt. In seinen Mundwinkeln blitzen Goldzähne auf. In seinen Augen blitzt ironisches Verständnis auf. Er streckt die Hand nach dem Telefon aus.

»Soll ich anrufen?«

Otto Kranz erinnert sich an etwas und verzieht ein bisschen die Stirn. Müller ist ein hilfsbereiter und freundschaftlicher Mann. Er erwartet keine Antwort. Seine Hand greift nicht zum Telefon. Müller überlegt. Dann springt er plötzlich auf, geht ans Fenster (seine Bewegungen sind präzise und angenehm anzuschauen, seine Figur ist elegant, schön und sportlich), wirft einen Blick auf die unten in einer Reihe stehenden Autos, dreht sich um und bietet ihm an:

»Ich würde vorschlagen, ein Stückchen herumzufahren. Herumzufahren und hinzufahren. Wir werden sicher etwas Neues finden.«

Müller lächelt ironisch und selbstgewiss. Seine Goldzähne blitzen, es blitzen die ausgezeichnet geputzten Schuhe, es blitzen der Brillant an seiner linken Hand und seine Schulterstücke, seine Haare blitzen und die grauen Augen. Unten blitzt das wartende Auto.

Es ist angenehm, den tollen Müller anzusehen! Man hat das Gefühl, das Leben ist prächtig!

Das Auto fährt nicht lang auf breiten Straßen. Die eleganten Plätze, Kirchen und Grünflächen verschwinden. Enge, gewundene Gassen lassen das Zweigespann nur unwillig passieren. Hier gibt es keine Bürgersteige, die Leute gehen mitten auf der Straße, sogar die Kinder spielen hier. Doch auch die Gassen verschwinden.

Ein morgendlicher, leerer, ausgestorbener Platz.

Er ist nicht leer, weil er morgendlich ist. In dieser Gegend lässt sich niemand gern sehen. Die fest verschlossenen Tore werden gemieden und die gelangweilten Wächter mit den gebogenen Mützen. Nur am Rand des Platzes, an der düsteren Kirche, bleiben zwei fromme Mütterchen stehen und wechseln Blicke, als das blitzende Auto an einem Tor anhält. Sie beobachten das Zweigespann in den braunen Uniformen aufmerksam. Das Zweigespann verschwindet hinter dem fest verschlossenen Tor, die Mütterchen in der düsteren Kirche.

Der Platz ist wieder leer.

Das Getto bereitet sich erst auf das Erwachen vor.

Vor den munter voranschreitenden Freunden liegt eine stille kleine Straße. Ein- und zweigeschossige Häuser, schmutzig, bröckelnd. Wie Schiffsflaggen, die verschiedenfarbigen Wäschestücke der Kriegszeit. Häufig ist statt fehlender Scheiben in den Fenstern Papier oder ein Fetzen Stoff angebracht.

Und was nützt es, dass die ersten Sonnenstrahlen die gespaltenen Dachziegel in Edelsteine verwandeln? Trotzdem ist es hier armselig und düster.

Die beiden Männer schreiten voran, manchmal bleibt der prächtige Müller stehen, schaut in irgendein Fenster hinein, runzelt die Stirn und geht weiter. An einem kleinen, im Erdboden eingesunkenen Häuschen (in dessen Fenster man gebeugt schauen muss) bricht Müller in scharfes, kehliges Gelächter aus. Er lacht und klopft sich auf die Schenkel. Mit dem Zeigefinger winkt er Otto Kranz heran. Dieser kommt näher.

Hinter dem Fenster steht eine Alte – ein Skelett nur im Hemd, ihre Gesichtsknochen stehen wahrscheinlich wegen der anhaltenden Unterernährung stark hervor, sodass es den Anschein hat, ihre Haut würde gleich zerreißen. Die Alte kratzt sich mit ihrer rechten Hand die Seite und sieht mit verblassten Augen die beiden Männer in den braunen Uniformen an. Dann beschließt sie, erschrocken, zu lächeln. Zwei vergilbte Zähne kommen hinter ihrer Oberlippe zum Vorschein, die Unterlippe zittert. Er kann nicht mehr an sich halten. Zu Müllers kehligem Tenor gesellt sich der heisere Bass von Kranz.

»Verlockend …«, stöhnt Müller, und das Duett tobt, von Gelächter zerrissen. Sie klopfen einander freundschaftlich auf die Schulter und an die Brust. Dann gehen sie mit Tränen in den Augen weiter.

Seltsam. Vor ihnen ist keine Menschenseele. Aber wenn man sich umdreht, dann sind aus Fenstern und Türen Köpfe zu sehen, die den beiden nachblicken.

Was werden sie wohl jetzt denken, diese Köpfe?

›Sie freuen sich, dass wir vorübergegangen sind‹, geht es Otto Kranz durch den Kopf, und in seiner Brust flackert Stolz auf.

Schließlich bleibt Müller an einer Tür mit einer Glasscheibe in Augenhöhe stehen. Irgendwann war hier einmal ein kleines Geschäft, die Haustür führt direkt ins Zimmer. Müller reckt sich, schaut ins Innere, lächelt zufrieden, zwinkert Otto Kranz zu und öffnet plötzlich die Tür.

Eine halbnackte Jüdin wäscht sich mit dem Rücken zu den Hereingekommenen. Als die Tür zuschlägt, wendet sie sich ihnen zu, bedeckt mit ihren Händen hastig die vollen Brüste und erblasst. Obwohl es blass ist, gefällt ihr Gesicht Otto Kranz.

Ja, ihre ausdrucksstarken Lippen, die gerade Nase, ihre blauschwarzen Haare, und die Augen …

Können menschliche Augen wirklich so groß und durchdringend sein? Jetzt sind sie erschrocken, aber wie wunderbar, man kann sagen, kunstvoll erschrocken sie sind. Wie viel …

Otto Kranz hat keine Ahnung, wer dort hinter diesen geweiteten Pupillen wohnt. Er wendet den Kopf langsam seinem Freund Müller zu. Dieser lächelt ironisch, er lächelt breit, er entblößt alle seine Goldzähne und erforscht Otto Kranz. Otto Kranz senkt seine geschwollenen Lider. Müller ist ein famoser und hilfsbereiter Mann. Er befiehlt mit seinem kehligen Tenor:

»Sie sind für Sonderarbeiten eingeteilt. Sie werden mit diesem Herrn mitgehen. Machen Sie sich schnell bereit.«

Die Jüdin verschwindet hinter einem Paravent.

In diesem Augenblick ist im Zimmer ein Stöhnen zu hören. Das Duo sieht sich um. Aus der Tiefe des halbdunklen Zimmers nähert sich ihnen langsam, sehr langsam, mit lautlosen Schritten ein junger Jude. Er bleibt vor ihnen stehen. Sein Gesicht ist reglos, wächsern. Solche Figuren hat Otto Kranz im Wachsfigurenkabinett gesehen. Der Jude hat seine Hände auf dem Rücken, er bewegt sich nicht, nur die Muskeln über seinen Ellenbogen zucken ein wenig. Offenbar presst der Jude seine Finger zusammen. Schmerzhaft.

»Was starrst du uns an?«

Müllers Gesichtszüge werden schärfer. Die Winkel seiner Lippen neigen sich nach unten, seine Augen schließen sich ein wenig. Dies ist sein »dienstlicher« Ausdruck, wie er selbst sagt.

»Verzeihen Sie … Sie arbeitet … Als ständige Angestellte. In der Näherei der Wehrmacht. Vielleicht …«

Dem jungen Juden fehlen die Worte. Die Muskeln über seinen Ellenbogen zucken häufiger.

»Und wer bist du?«

Müller wirft diesen Satz besonders streng hin. Die Strenge erreicht er, indem er die Konsonanten betont.

»Ich bin ihr Mann.«

Aus irgendeinem Grund ist Müller über diese vier Worte erstaunt. Er lockert die Muskeln seiner Lippen und Augen. Er wirkt freundschaftlich.

»Ach, so ist das! Und seid ihr beiden schon lange verheiratet?«

Der Jude presst seine Finger nicht mehr zusammen. In ihm keimt Hoffnung auf.

»Nein. Wir haben vor der Ankunft im Getto geheiratet.«

»Aha! Beide jung, beide schön! Das ist schwer, natürlich. Was soll man machen, das ist Schicksal.«

Oh, der famose Müller könnte ein guter Schauspieler sein. Und er spielt so, als würde er seinen besten Freund aufheitern wollen.

Jetzt denkt er sich einen neuen Scherz aus. Er winkt dem jungen Juden mit dem Finger. Er lässt ihn näherkommen. Der Jude macht vorsichtig einen Schritt. Müller legt ihm die Hand auf die Schulter, beugt sich zu seinem großen wächsernen Ohr hinunter und fragt, mit einem Auge Otto Kranz zuzwinkernd, intim:

»Sage uns in aller Freundschaft und offen: War deine Frau vor der Hochzeit unschuldig?«

Der Jude öffnet wegen der unerwarteten Frage den Mund. Sein ohnmächtiges, erstauntes Gesicht erheitert das Duo. Der kehlige Tenor und der heisere Bass hallen wider im halbdunklen Zimmer. In diesem Augenblick kommt die angekleidete Jüdin hinter dem Paravent hervor. Müller verleiht seinem Gesicht den »dienstlichen« Ausdruck. Er weist auf die Tür.

Da geschieht etwas Überraschendes für die im Gehen Begriffenen. Der Jude stürzt zu seiner Frau, drückt sie mit seinen mageren Armen an sich und brüllt. Mit hoher, sehr hoher Stimme:

»Ich gebe sie nicht her! Ich gebe sie nicht her!«

Oh, wie bleich manchmal ein Mensch werden kann! Einen derart weißen Juden hat Otto Kranz noch nie gesehen. Und wie charmant der famose Müller orientiert ist! Er wirft nur den linken Arm nach vorn, und der Jude fällt wie eine Säule zu Boden. Mit dem anderen Arm stößt er die Jüdin durch die Tür.

Sie machen sich auf den Rückweg.

»Ich benutze immer den linken Arm. Er ist besser trainiert.«

Müllers Nasenlöcher blähen sich auf, er schreitet stolz und kräftig aus mit seinen blitzenden Stiefeln. Die neugierigen und erschrockenen Köpfe verschwinden von Türen und Fenstern. Sie lassen das Trio vorübergehen und verfolgen es dann wieder von hinten. Bis die drei das verriegelte Tor erreichen.

Hier verabschiedet sich Müller:

»Ich habe noch dienstlich zu tun.«

Er schenkt Otto Kranz ein strahlendes Lächeln und verschwindet.

Das kurvende Auto verlässt den ausgestorbenen Platz und biegt in das Netz der engen Gassen ein. Aus der düsteren Kirche kommen die beiden frommen Frauen, sie begleiten das eilige Paar mit Blicken. Sie flüstern.

Schon gegen Abend wird ihm ungemütlich. Er muss mit großen Schlucken Cognac trinken. Die schweigende Frau hockt zusammengekrümmt in der Ecke.

Das Abenteuer ist einfach geschehen. Sie hat gelächelt, viel gelächelt. Sogar gelacht. Ja … ihre großen dunklen Augen … Vielleicht täuschte er sich. Aber dort, auf dem Grund dieser Pupillen-Brunnen, war Hass. Alt, jahrhundertealt. Doch vielleicht war es ihm, dem Eroberer, nur so vorgekommen?

Jetzt muss er sie loswerden.

Otto Kranz geht ins Nachbarzimmer, greift nach dem Telefonhörer. Ruft seinen Freund Müller an. Als er den fröhlichen, kehligen Tenor hört, versucht er zu lächeln.

Nein, ihm ist nicht fröhlich zumute.

»Loswerden?« Es knackt im Hörer. Müller lacht scharf.

»Schick sie nach Hause. Soll sich jetzt ihr Mann erfreuen. Hab keine Angst, sie wird nicht fliehen. Du kannst sie warnen, dass wir ihren Mann erschießen, wenn sie nicht zurückkehrt. Na, wie hat es dir gefallen?«

Otto Kranz murmelt etwas Unverständliches und legt auf.

Er geht zurück.

Noch einmal begegnen sich die blassblauen und die riesigen dunklen Augen. Jetzt kann Otto Kranz ihnen nichts mehr entnehmen. Da, auf ihrer Wange, ist ein Kratzer von seinem verbogenen vergilbten Fingernagel. Wie eine rote Träne, die auf der Wange erstarrt ist. Aus irgendeinem Grund sagt Otto Kranz leise:

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