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Antanas Škėma

APOKALYPTISCHE
VARIATIONEN

Aus dem Litauischen

und mit einem Nachwort

von Claudia Sinnig


INHALT

ANGST

FORT

SCHWELBRÄNDE UND FUNKEN

DIE STILLE DER NACHT

DER EGOIST

DER KALENDER

DIE BIRKE UND DER MENSCH

IN DEN BERGEN

GEFANGEN

DAS KLEID

IM KRANKENHAUS

DAS LÄCHELN

HINTER DER MEMEL

DIE HEILIGE INGA

SONNENTAGE

DER GLÄSERNE MENSCH

DAS KARUSSELL

IŠA-AK

MURKSA

DIE VERDAMPFTE APRIKOSE

DER WEG ZUR STRASSE

SALTO MORTALE

ROMANTISCHES FINALE

ÜBER DIE EISENBAHN

DER WAGGON DES ZAREN

ALTER POSTWEG 16

APOKALYPTISCHE VARIATIONEN

CELESTA

HOLOFERNES

SCHRITTE UND STUFEN

HEIMWEH

DER SPAZIERGANG

ŽIIILVINAS

FREITAG

DIE FEUERWEHR KOMMT

IM ANFANG WAREN ZWEI

DIE BEGLEITER

DER GESANG

DAS MEER

DIE MADONNA

ANTANAS ŠKĖMA WIRD 40

ANHANG

EDITORISCHE NOTIZ

ANMERKUNGEN

NACHWORT DER ÜBERSETZERIN

ANGST

Zum ersten Mal bin ich ihm in einem Kaunaser Café begegnet, das ich an einem kalten, regnerischen Herbstabend aufsuchte. Die kleinen Tische waren alle besetzt. Da entdeckte ich in einer Ecke ein Tischchen, an dem ein einzelner Mann saß. Ich ging hin und fragte: »Darf ich?« Tiefe melancholische Augen sahen mich an … »Bitte.« Ich setzte mich. Bestellte eine Tasse Kaffee. Mein Blick schweifte durch den vollen Raum, blieb eine Weile bei den Musikern auf der Bühne und schließlich an meinem Tischnachbarn hängen. Ein Mann von dreißig bis fünfunddreißig Jahren. Ebenmäßiges Gesicht mit scharfen Zügen, klassisch gerade Nase, schöne hohe Stirn mit tiefen Falten, nach hinten gekämmtes schwarzes Haar, aber seine Augen … Ich habe das Glück, viele schöne, ja sogar wunderbare Augen von Frauen gesehen zu haben, doch solche Männeraugen begegneten mir zum ersten Mal. Sie sahen ganz dunkel aus in dem trüben elektrischen Licht, obwohl sie es in Wirklichkeit vermutlich nicht waren. Ihr Blick drang gleichsam durch die Menschen in dem Café, durch das nichtssagende Bild an der Wand und auch durch die Wand hindurch. Es hatte den Anschein, als würden seine Augen sehen, was hinter der Wand vorging. Sie verströmten eine ruhige und zugleich bittere Niedergeschlagenheit. Da ich mir die Augen des Unbekannten genauer ansehen wollte, bat ich ihn um Streichhölzer für meine Papirossa. Sein an die Wand des Cafés gehefteter Blick glitt ab, er schien zu verlöschen und blieb dann an mir hängen. Jetzt sahen mich andere farblose, aber noch genauso traurige Augen an. »Verzeihen Sie, ich habe nicht gehört, was Sie gesagt haben.« Ich wiederholte meine Bitte. Er holte ohne Eile aus seiner Tasche Streichhölzer hervor, entzündete eines und gab mir Feuer. Ich bedankte mich. »Bitte«, klang es traurig. Und dann richtete sich sein Blick wieder auf die Wand des Cafés. Plötzlich, als sei ihm etwas eingefallen, schärften sich seine Gesichtszüge, auf seiner Stirn erschienen neue Falten und seine Pupillen erweiterten sich. Seine Haltung, die bis dahin ruhig, wie erstarrt, gewesen war, veränderte sich. Sein ganzer Körper spannte sich nervös an und geriet krampfartig in Bewegung. Er sprang von seinem Platz auf, rannte fast zur Theke, warf einige Münzen hin und verschwand durch die Tür des Cafés. ›Seltsamer Typ‹, dachte ich und konnte den ganzen Abend sein eindrückliches Gesicht mit den trübsinnigen Augen nicht vergessen.

Zum zweiten Mal sah ich ihn in einem Kino. Die Vorstellung hatte bereits begonnen, es war dunkel im Saal. Ich hatte mich auf den ersten besten Platz gesetzt. Als das Licht anging, schaute ich mich in dem vollen Zuschauerraum um. Da entdeckte ich links von mir im Profil sein bekanntes Gesicht. ›Das ist dieser Typ aus dem Café‹, dachte ich. Sein Blick war, wie im Café, auf gar nichts gerichtet, sondern verlor sich irgendwo in der Tiefe des Saals. Plötzlich schien er zu spüren, dass ich ihn anstarrte, er wandte sich träge zu mir um, und sein melancholischer und ein bisschen spöttischer Blick begegnete meinem. Fast unmerklich bewegten sich seine Mundwinkel. ›Wahrscheinlich hat er mich erkannt‹, dachte ich und war – ich weiß selbst nicht, warum – erfreut. Das Licht verlosch wieder, es begann der nächste Akt. Der Film war langweilig. Ein abgedroschener amerikanischer Western. Ich schaute zu ihm hinüber. Obwohl es ziemlich dunkel war, konnte ich die Konturen seiner ausgeprägten Gesichtszüge erkennen. Mitten im Film begann er, sich im Zuschauerraum umzusehen, er zuckte ähnlich wie beim letzten Mal zusammen, setzte sich mit einer schnellen Handbewegung den Hut auf und verließ gebeugt den Saal. In mir erwachte die Neugier. Ich erhob mich von meinem Platz und ging hinaus auf die glitzernde Freiheitsallee. Er lief quer über die Straße. Langsam, in einiger Entfernung, folgte ich ihm. Nachdem wir die Freiheitsallee überquert hatten, bogen wir in die Gediminasstraße ein. Er bewegte sich mit großen Schritten voran und wankte dabei leicht. Plötzlich blieb er, wie vom Blitz getroffen, stehen. Auf der Straße waren fast keine Leute. Sofort verbarg ich mich im Schatten eines Hauseingangs. Er stand etwa zwanzig Schritte von mir entfernt, und ich konnte deutlich sein bleiches Gesicht mit diesem seltsamen Ausdruck sehen, den ich im Café bemerkt hatte. Mit weit aufgerissenen Augen schaute er sich auf der Straße um. Ein Autobus kam mit hoher Geschwindigkeit angefahren. Er gab ihm kein Zeichen anzuhalten, stürzte direkt auf ihn zu und sprang auf. Kurz darauf verschwand der Bus in einer Abbiegung. Ich ging zurück zur Freiheitsallee. Lange habe ich mir den Kopf über diese beiden Begegnungen zerbrochen und das Gesicht dieses seltsamen Unbekannten mit den traurigen, ein bisschen ironischen Augen nicht vergessen können.

Einige Monate vergingen. Es war ein schöner Frühlingsabend. Die Uhr am Militärmuseum schlug acht. Das Dong, Dong, Dong, Dong … hing feierlich in der Luft. Ein Invaliden-Orchester spielte einen traurigen Walzer, die Melodie ging unter die Haut. Dong, tönte es zum letzten Mal und verging in der linden Abendluft. Die Akkorde der Musik wurden eindringlicher und strenger. Hier und da spazierten Pärchen umher, glücklich mit sich und diesem Abend. Es wurde dunkel. Ich erhob mich von meiner Bank und ging zum Ausgang des Museumsgartens. Auf der gegenüberliegenden Seite der Donelaitisstraße lief wankend ein Mann. ›Wahrscheinlich ein Betrunkener‹, dachte ich. Da fiel das Licht der elektrischen Straßenlaterne auf sein Gesicht. Er war es! Doch wie sehr er sich verändert hatte! Seine ausgeprägten Gesichtszüge waren ganz kantig geworden. Er sah aus, als hätte er eine schwere Krankheit durchgemacht. Sein Haar war nicht mehr sorgfältig nach hinten gekämmt, sondern hing wirr herunter. Seine eingesunkenen Augen blickten nicht mehr traurig und ein wenig spöttisch drein wie damals. Sie waren durch ihre Dunkelheit und ihren Ausdruck furchterregend. Ihr Blick irrte unstet und suchend umher. Der Mann stützte sich schwerfällig auf das Geländer an einem Schaufenster. Sein offener Mund schnappte gierig nach Luft. Ich weiß nicht, welches Gefühl mich trieb, über die Straße zu rennen, ihn am Arm zu packen und zu fragen: »Ist Ihnen nicht gut?« Er sah mich mit einem schweren, nachdenklichen Blick an. »Ach, Sie sind es«, sagte er ohne jedes Erstaunen. »Ja, ich fühle mich ein bisschen schwach.« Ich schaute mich um. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite standen Bänke für Spaziergänger. »Gehen wir dort hinüber, dort können wir uns setzen. Halten Sie sich an mir fest, ich werde Ihnen helfen.« Ich nahm ihn am Arm, führte ihn über die Straße und setzte ihn auf die Bank. »Danke«, sagte er und senkte den Kopf. Ich schwieg und überlegte, was ich sagen könnte. Plötzlich hob er den Kopf, starrte mich mit seinen großen Augen an, die jetzt seltsam funkelten, und begann hastig und unablässig mit gesenkter Stimme zu sprechen.

»Vermutlich werden Sie mich nicht verstehen und sich über das wundern, was Sie jetzt hören. Aber das ist mir egal. Ich kann es nicht länger ertragen. Ich kann mit dieser Benommenheit nicht leben. Angst, Angst und noch mal Angst. Sonst nichts.« Seine Pupillen wurden noch weiter. In ihnen stand Schrecken. »Hören Sie! Damals, in dem Café und im Kino, habe ich gesehen, dass Sie mich mit Mitgefühl betrachten. Die anderen Menschen sind so kalt, so egoistisch. Vielleicht sind Sie ja imstande, mich zu verstehen. Ich quäle mich schon seit zwei Jahren so. Früher war ich nicht anders als alle Menschen. Doch dann begann mich diese Angst zu verfolgen. Warum, das weiß ich nicht. Mir scheint, ich habe nichts Besonderes erlebt. Aber ich fühle, dass die Angst mich auf Schritt und Tritt verfolgt. Sie taucht plötzlich auf, wenn ich sie überhaupt nicht erwarte. Ganz gleich, ob ich allein oder in Gesellschaft bin. Ich laufe vor ihr davon, dorthin, wo viele Menschen sind und Lärm. Anfangs ging es mir dann besser. Inzwischen findet sie mich aber auch dort. Ich fühle, wie sie sich mir nähert, ihre unbezwingbare Macht … Der Schrecken hat in meiner Seele die Oberhand gewonnen. Menschen, Häuser – alles verschwindet in einem Dunst. Und er wird immer größer, der Schrecken. Meine ganze Seele zittert vor dieser unverständlichen Angst. Ich laufe davon – ich weiß selbst nicht wohin. Ich kann ihr nicht entfliehen. Ich habe verschiedene Ärzte aufgesucht. ›Ihre Nerven sind geschwächt. Sie müssen sich erholen, ans Meer fahren …‹, sagen sie meistens. Aber ich weiß, dass ich diese Angst selbst am stillsten Ort der Welt nicht abschütteln könnte.« Er stöhnte. Er tat mir leid. »Beruhigen Sie sich, ich habe etwas Ähnliches erlebt«, sagte ich, weil ich ihn beschwichtigen wollte. »Ja? Dann werden Sie mich verstehen! Wissen Sie, ich kann niemals ruhig einschlafen. Wenn ich mich ins Bett lege, fühle ich, dass sie mich belauert. Ich verkrieche mich unter der Decke und habe Angst, ins Dunkel meines Zimmers zu schauen. Mir kommt es so vor, als würde ich, wenn ich in die Tiefe des Zimmers blickte, etwas unvorstellbar Schreckliches zu Gesicht bekommen. Es vergehen eine, zwei, drei Stunden, und ich liege da mit der Angst im Herzen, bis ich endlich einschlafe. Und so geht es jede Nacht. Jeden Tag. Wird das jemals aufhören?!« Er sprang von der Bank auf, packte mich an den Schultern und sah mir mit stechendem Blick in die Augen. Ich stand auf. Etwa zwei Sekunden lang schauten wir einander an. Dann ließ er mich los, murmelte irgendetwas in sich hinein und verschwand in der Abenddämmerung.

Ich habe ihn nie wieder gesehen.

[1929]

FORT

Heimweh ist eine chronische Krankheit. Thüringens blaue Wälder können sie nicht heilen. In Friedenszeiten würdest du vielleicht zwischen den hochstämmigen Kiefern umherwandern, sacht die rötlichen Felsbrocken berühren und mit weiten Lungen die Luft, die wunderbare Luft des atmenden Waldes einsaugen. Und dann würdest du dich im Moos ausstrecken, und aus den kleinen Gräsern würden auf einmal gewaltige märchenhafte Dschungel wachsen, in denen es keine Wege gibt, wo eine üppige, kämpfende Pflanzenwelt wächst, die Kiefernzapfen seltsam gemaserte Felsen sind und die Ameisen längst ausgestorbene, vorsintflutliche Tiere. Und wenn es ein bisschen ungemütlich, wenn es gar zu unfreundlich würde, würdest du aufspringen, auf einen rötlichen Fels klettern, und unten, dir zu Füßen, würden Thüringens Wälder flimmern in der diesigen Luft, als lägen sie hinter großen, klaren Ozeanen. In Friedenszeiten vielleicht … Aber jetzt … Ach, Heimweh – chronische Krankheit! Finster, so finster die hochstämmigen Kiefern, und die Tannen werfen kalte Schatten auf die Erde, und die steinigen Abhänge sind unüberwindliche Hürden: Und wenn du dir die Fäuste wundschlägst an den Steinen, und wenn du noch so sehr schreist, das Echo wird dir den vielfachen Schrei in den Mund stopfen und … – du wirst dich nicht durchschlagen, wirst dich nicht durchzwängen, du wirst nicht zurückkehren. Dann wird dir, wie Wasser einem Verdurstenden in der Sahara eine Fata Morgana erscheinen.

Vilnius … Türme … Türme und Kreuze. Kreuze wie warnende Zeigefinger. »Hier ist unsere Stadt. Sie gehört uns, den Türmen und Kreuzen. Rührt sie nicht an!« Die engen Gassen dort und die alten Häuserblocks, geheimnisvoll wie kleine Städtchen, sind in eine einzigartige Atmosphäre des Gestern gehüllt.

Für euch ist es das Gestern, für uns sind es unwiederbringlich verlorene Jahrhunderte. Irgendwo, in den größeren Straßen, versuchen Automobile, Radioapparate und die dreiste gehaltlose Sprache des heutigen Menschen, die Gegenwart auszurufen. Hier aber können Schreihälse und Hohlköpfe nicht hinein. Hier sind die Türme und Kreuze, hier sind die Schriftrollen auf den Reliefs, hier sind die mächtigen, kühnen, stummen Häupter der Großen mit ihren toten gemeißelten Augen – körperlose Häupter, die unter grünen Kupferdächern hängen, hier sind die muskulösen Nackten, ihre vom Regen rissigen Rücken beladen mit Steingebirgen, hier sind die vergessenen Heiligen in den dunklen, nicht mehr besuchten Kirchen, die Heiligen mit den drohenden, unerbittlichen Gesichtern, in deren tiefen Falten dieselben unauslöschlichen Worte eingeschrieben sind: »Der Tag des Zorns wird kommen. Er wird kommen. Wir wissen es. Wir warten. Dies irae, der einzige, der wichtigste Tag in deinem Leben!« Hier ist viel Elend von einst. Deshalb kommen Schreihälse und Hohlköpfe schwerlich hierher.

In den Ausläufern der labyrinthischen Gassen, in den Höfen mit mehreren Ausgängen durch gedrungene Torbögen und zwischen den von kapriziösen Architekten gebauten Häusern war es so leicht, so unausweichlich, sich mutwillig zu verirren und stundenlang herumzuwandern. Herumzuwandern und zu lauschen. Zu lauschen und versuchen zu verstehen. Vielleicht verschenkt ja dieser gebeugte Riese mit dem rissigen, bröckelnden Rücken ein vergessenes Geheimnis, vielleicht wird sich in jenen barocken Girlanden aus Blumen und Blättern eine Prophezeiung erfüllen, vielleicht wirst du in der kalten, trüben, in ihrer ewigen Stille furchterregenden Kirche nach langem Warten endlich sehen, wie der schreckliche Heilige vom Sockel steigt und mit schweren, steinernen Schritten das Gewölbe erschüttert wie der Komtur im Don Giovanni, und dir gleich einen zentnerschweren Schmetterling auf die Schultern legen und ein Wort aussprechen, ein bedrückendes Wort, das die schwarzen Gewölbe erbeben und die verrostete Orgel Töne der Vergeltung posaunen lässt. So leicht, so unvermeidlich war es, sich im alten Vilnius zu verirren.

3. Juli 1944. Die Stadt war zeitig erwacht. Die Türme und Kreuze ruderten noch schlank und ruhig in den ersten Sonnenstrahlen, aber zu ihren Füßen eilten schon die Menschen, mit Bündeln und Koffern beladen, waren Straße und Gehweg nicht mehr zu unterscheiden.

»Raus aus der Stadt, fort, nur fort …« – der einzige, drängende, treibende Gedanke in ihren Augen. Und die blitzenden Automobile, die gestern noch langsam und feierlich wie Eroberer durch die Straßen geglitten waren, zogen heute früh in scharfen Kurven davon.

»Raus, fort aus der Stadt …«

Bekannte begegneten sich und sprangen auseinander. Eilig, nicht stehenbleiben, die Zeit ist kostbar. Der Gruß rutschte tonlos oder kehlig heraus, fremd. »Gut …« – mehr nicht. Schon standen die altertümlichen Häuser fremd da, mit eingeschlagenen Fenstern. Schon ließen sich die Schriftrollen auf den Reliefs nicht mehr entziffern, und die Sphinx-Köpfe der Großen – mochte man noch so flehen – würden die gespitzten steinernen Lippen nicht öffnen. Aber wer konnte das wissen? Vielleicht waren sie so furchtbar gefasst, weil der Tod bevorstand. Vielleicht wussten sie es schon. Vielleicht würde bald eine Fliegerbombe oder ein Artilleriegeschoss ihr jahrhundertealtes Leben zerschmettern. Splitter würden auf den Gehsteigen verstreut, und mit gekreuzten Armen würden langsam, schwer und endgültig die unerbittlichen Heiligen aus ihren staubigen Nischen stürzen. Aber wer weiß, ob die in ihre tiefen Falten eingeschriebenen unauslöschlichen Worte verschwinden würden: »Der Tag des Zorns wird kommen. Er wird kommen! Wir wissen es. Dies irae, die einzige, die wichtigste Stunde deines Lebens!«

Die Luft, die Augen der Menschen, das nervöse Zucken ihrer Körper, die brummenden Automobile – alles war beherrscht von einem einzigen Wort:

Pa-nik!

Wir waren am Bahnhof. Durchgeschwitzt, atemlos. Wir sanken mit unseren Bündeln und Koffern auf die Eingangstreppe. Ein paar Schauspieler. Später fand sich ein Chirurg mit einigen Universitätsprofessoren ein. Um uns herum, in der bereits drückenden Sonne, keuchten Hunderte Niedergesunkener. Hunderte aufgesperrter Münder schnappten nach der staubigen Luft. Einige schienen zu lächeln. Lächelnde Zähne. Gesichter gequälter Tiere, die Augen unruhig, suchend. Wann werden wir auf den Bahnsteig gelassen? Wann in den Zug? Hunderte Menschen, hinter ihren Klamotten verbarrikadiert, verpackt in verschiedenfarbigen Bündeln und Koffern. Und du gehst vorüber – und mancher Blick wird dich zwingen wegzusehen, und dann wird er sich dir in Nacken und Rücken bohren.

»Hier sind meine vier Sachen. Eins, zwei, drei, vier. Ja, das ist alles, Gott sei Dank! Nicht das, das ist meins! Vier Sachen, hörst du! Eins, zwei …«

Ein Halbwüchsiger verkauft Zigaretten. Viermal so teuer wie gestern. Wir kauften Zigaretten, rauchten, bis uns schlecht wurde. Wir versuchten zu essen, nur ein bisschen, ein Stück Brot, ein Stück Speck. Es ging nicht runter. Plötzlich verbreitete sich Gelächter auf dem Platz. Siebzehnjähriges Gelächter. Ein junges Mädchen lachte aus voller Kehle. Ein Tuch um den Kopf, ein halbleeres Aktentäschchen in der Hand, ein Leberfleck auf der linken Wange. Sind die beiden jungen Männer, ihre Begleiter, so witzig? Oder genügt allein ihre Jugend, dass sich das Gelächter auf dem ganzen Platz ausbreitet? Die Leute, die sich auf die Bündel fallengelassen hatten, wandten wie auf Kommando die Köpfe, aber nur kurz. Das Gelächter war verletzend. Jetzt?! Nur kurz hatten sich die Köpfe umgewandt, und der noch ungeborene Trost verlosch wie ein Strohfeuer. Eine Sache, die wirklicher war …

»Das sind meine, hörst du! Drei, vier …«

Ein Bekannter kam. Der Bekannte hatte es gesehen. In der Chopinstraße. Am Molkereigeschäft und weiter, wie ausgestreut, fünf männliche Leichen. In eleganter Kleidung. Es hatte einen Wortwechsel gegeben und ein kurzes Feuergefecht. Die, die geschossen hatten, trugen deutsche Uniformen und hatten Maschinenpistolen. Die Pistolen der eleganten Leichen waren keine automatischen, sie schossen langsamer. Die Leichen waren stumm, wie üblich, und die Menschen konnten nur rätseln:

»Partisanen? Banditen?«

Ein Mann, an einen kleinen Eisenzaun gelehnt, sagte laut:

»Die Anarchie fängt an. Es wird noch schlimmer.«

Die Augen ringsum warteten. Was wird schlimmer? Die Augen erwarteten konkrete Kleinigkeiten. Was, wen und wie? Aber der Mann wusste es selbst nicht. Wusste nicht, was er den wartenden Augen noch sagen sollte, und schämte sich. Er wühlte in einem abgewetzten Rucksack. Doch die Nachricht verbreitete sich schnell, sie wurde gierig aufgenommen.

»In der Stadt herrscht Anarchie. Auf den Straßen liegen Tote. Es wurde aus den Fenstern geschossen. Die Partisanen wüten. Am Abend gibt es noch mehr Leichen. Es gibt keine Ordnung. Anarchie.«

Die Menschen sind nicht mehr niedergesunken. Wellen schweißüberströmter Gesichter und verschiedenfarbiger Bündel. Eine Welle sickert ins Innere des Bahnhofs, an den schmalen Türen, hinter denen die Dampfloks, die Waggons und die Felder sind. Aber an den engen Türen stehen breitschultrige Gendarmen mit eisernen Schildern auf der Brust und verwehren den Einlass. Trotzdem werden die Wellen kleiner. Sie sickern durch die Umzäunungen. Einer klettert über den Zaun. Einer geht außen herum. Auch durch die engen Türen kommen sie unbemerkt. Der Chirurg hat eine Flasche mit Spiritus und spricht gut Deutsch. Der Chirurg wagt es, mit dem eisernen Schild zu verhandeln. Das Schild schreit etwas von Ordnung, gibt aber schnell nach, und die Freiheit, hindurchgehen zu dürfen, wird eilig gegen die Flasche mit der klaren Flüssigkeit eingetauscht.

Wir saßen auf dem Bahnsteig. Es kam kein Zug. Wieder rauchten wir bis uns schlecht war, tranken warmes, graues Wasser, warteten. Die Stunden schleppten sich träge dahin. Lange, lange bewegen sich die Zeiger der Uhr vom Elektrizitätswerk nicht, bis sie plötzlich springen und sich wieder beruhigen. Fünf Minuten vergingen. Die Anspannung ließ nach. Zuerst gähnten die Menschen auf den Bündeln ein langes, erstarrtes Gähnen. Ein Gähnen wie die Reglosigkeit des Uhrzeigers. Dann schlummerten viele ein. Die anderen schwiegen. Einzelne Worte platzten heraus, blieben ohne Antwort. Sie unterstrichen die schläfrige Mittagsstille. Es war, als würde der Zug aus dem bedrohlichen Osten niemals kommen. Als würden die auf ihren Bündeln Zusammengesunkenen nie mehr aufwachen. Sie würden schlafen, eingeschnürt in die Mittagsstille wie Mumien. Und die Sonne würde hier stehenbleiben, über diesem grauen Häuschen mit den weißen Fensterläden. Und der Uhrzeiger würde auf zwanzig nach zwei zeigen, nur noch auf zwanzig nach zwei. Und dieser vierjährige Junge da zwirbelt ständig die Schnur seines Rucksacks, immer rechts herum, rechts herum …

Die Mittagsstille – ein Albtraum, der nicht weicht. Und …

Die Bündel …

Die weißen Fensterläden …

Der Uhrzeiger …

Die Schnur, immer rechts herum, rechts … – ich schlummerte.

Doch dann kam der Zug. Um fünf Uhr nachmittags. Ein Militärzug. Der Bahnsteig ruckte. Ein fernes Grollen zerstreute den Schlummer. Schwere, gerötete Lider rissen auf, und wieder übermannte der quälende, bohrende Gedanke den Bahnhof.

»Raus aus der Stadt, fort, nur fort …«

Über den Bahnsteig ergoss sich ein Trupp von Blitzmädeln. Ach, wo ist das schwungvolle Stolzieren auf den Straßen von Vilnius geblieben? Noch vor kurzem waren die Töchter des auserwählten Volkes auf den Gehwegen spaziert. Uns Parias haben sie nicht gesehen, man musste höflich zur Seite springen, die graue Kleidung ging geradeaus. Ein menschliches Hindernis hatte sich zu verziehen, die graue Kleidung glitt wie ein Panzer. Nur geradeaus. Jetzt waren uns die Blitzmädel so ähnlich. Sie schleppten Bündel wie wir, ihre Kleidung war zerknittert. Auch ihre Achseln waren genauso schweißgetränkt wie unsere, und in ihren Augen der gemeinsame quälende, bohrende Gedanke.

»Fort, nur fort …«

Am Ende des Zugs zwei Waggons für zivile Deutsche! Wir stürzten hin. Vielleicht irgendwie, irgendwo in einem Eckchen, wir brauchen nicht viel Platz, wir machen uns ganz klein, winzig! Man ließ uns nicht. Der Bahnhofskommandant erklärte betont ruhig:

»Kein Grund zur Beunruhigung. In zwei Tagen wird es Sonderzüge für die Bevölkerung geben. Das ist ein Militärzug, der ist verboten. Gehen Sie nach Hause und essen Sie in Ruhe zu Abend. Schneiden Sie sich eine Scheibe Speck und streichen Sie die Butter dick aufs Brot.«

Das Gesicht des Offiziers war intelligent. Sauber, hohe Stirn, blitzende Brille. Die letzten Sätze rochen nach Ironie. Und kaum spürbarer Panik. Da tauchte zufällig im Wortwechsel ein gemeinsamer Bekannter des Bahnhofskommandanten und eines der Professoren auf. Ein Bekannter, den beide verehrten. Und der Offizier stieg vom Podest.

»Steigen Sie ein, wo Platz ist.«

Wir waren ein paar Dutzend Erwählter. Wir stürzten zu den vollgestopften Waggons. Plötzlich hatten wir einander vergessen. Die einen drängten sich ins Innere, andere landeten im Gepäckwagen. Der Schaffner pfiff. Ich allein stand auf der Erde. Für mich war kein Platz mehr. Einige Jugendliche hatten sich auf die Puffer geschwungen und an die schmalen Brettchen zwischen den Waggons gehängt.

O wie schnell ich an das Dach kam, mit welch zirkushafter Behändigkeit ich meine Koffer festschnürte! Ich hing fast in der Luft, meine Beine baumelten über den Puffern, meine Hände krallten sich in das Dach. Endlich war ich ein Erwählter. Der Zug ruckte an. Ich fuhr. Die auf den Bündeln zurückgebliebenen Leute schauten böse, neidisch. Aber sie verschwanden sofort. Sie und der Bahnsteig, und Vilnius.

An jenem Abend wurde die Stadt bombardiert. Und danach – jeden Tag. Und keine Züge für die Einwohner mehr. Die Menschen flohen so wie wir oder erbettelten sich Plätze auf den Lastwagen [Zeile fehlt im Original] ihre Klamotten auf dem Rücken.

Damit zwischen Unbekannten Sympathie aufkommt, bedarf es eines gemeinsamen Bekannten. Unbedingt. Sonst kann es einem schlecht ergehen.

Jawohl, Herr Bahnhofskommandant!

[1945]

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9783945370841
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