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Es gehört zu den Grunddispositionen des Menschen, dass die Welt ihm den Sinn nicht mitgibt. Der Weltenlauf hält beim Menschen für einen Augenblick an und hält seinen Sinn zurück, damit der Mensch selbst zum Sinnsucher und Sinnstifter werden kann. Das begründet seine Freiheit und seine Würde.15

Diese anthropologische Grundkonstante des Menschen nimmt die Anthroposophie in sich auf. Zwar mag sie zunächst so aussehen, als wollte sie die Menschheit mit Sinnangeboten versorgen, die denen der Religionen nicht nachstehen. Aber diese Sinnangebote sind nicht dazu da, um einfach und als äußerliche übernommen zu werden, sondern sie sind Vollzüge in Sinnstiftung, deren übender Mitvollzug zu eigener Sinnstiftung befähigt.

Insofern und in der Terminologie, die Gernot Böhme eingeführt hat, handelt es sich bei der Anthroposophie nicht um eine aufsteigende Spiritualität, die sich von der Welt abwendet, sondern um eine absteigende Spiritualität, die sich der Welt zuwendet:16 um eine radikale Diesseits-Spiritualität. Sie reflektiert, dass aus dem Menschen im Laufe der Evolution ein autonomes Wesen geworden ist. Denn «der Weltengrund hat sich in die Welt vollständig ausgegossen»17 – bis dahin, dass er den Menschen hervorgebracht hat und in ihm zu Bewusstsein und Selbstbewusstsein kommt. Den Sinn, den die Welt hat, erhält sie heute nur noch dadurch, dass wir ihn ihr geben und sie entsprechend gestalten. Auf dieser Diesseitigkeit beruht auch die Praxiswirksamkeit der Anthroposophie in Pädagogik, Medizin oder Landwirtschaft.

Für diese Diesseits-Spiritualität braucht es eine denkende, fühlende und wollende Individualität. Denn nur das Individuum kann Sinn stiften. Ohne Sinn bleibt die Welt leer und das Leben in und mit ihr ziellos. Ohne Sinn verrät der Mensch sein innerstes sinnstiftendes Wesen. Diesseits-Spiritualität ist nur mit einer denkenden, sinnstiftenden Individualität zu haben.

Einheitserfahrungen im Konkreten

Wie sieht das nun konkret aus? Was geschieht durch eine solche Meditation wie die oben vorgestellte?

Steiner hat verschiedene Stufen unterschieden, in denen sich die innere Erfahrung entfaltet. Anknüpfend an die Traditionen, die er in seiner Umgebung vorfand, hat er die in der Meditation zu machenden Erfahrungen zunächst als Hellsichtigkeit beschrieben; später hat er die Bewusstseinsform, die in der Lage ist, die Grenze zwischen Subjekt und Objekt zu überwinden, etwas philosophischer «schauendes Bewusstsein» genannt. Dabei verwandelt sich die Qualität der Verbindung von Ich und Welt, sie wird inniger und liebevoller, ja, sie kann sogar als heilend erlebt werden, sowohl im Hinblick auf den Inhalt der Meditation wie auch auf den Meditierenden selbst. Und mit diesem Eindringen in die tieferen Schichten der Wirklichkeit geht ein Zuwachs an Freiheit, an Ideen und an Initiative einher, woraus in innerer Stimmigkeit fruchtbares Tun erwachsen kann.

Allgemeiner kann man vielleicht sagen, es entsteht so etwas wie ein Organ für Sinn, ein Sinn für Sinn im Konkreten. Eine Fähigkeit zu Einheitserfahrungen mit dem Leben, nicht ein für alle Mal, sondern immer wieder neu. Der Spruch als Sinngebilde bildet in mir einen Sinn aus, das Wesen des Menschseins in seiner besonderen Ausprägung an diesem konkreten Menschen auch tatsächlich wahrzunehmen. Welche Geste hat das Haupt, das in seiner Abgeschlossenheit den Kosmos in seiner Kreisgestalt nachbildet? Welche Geste haben die Glieder, die ausgestreckt in ihrer Linienhaftigkeit potentiell ins Unendliche reichen? Wie werden diese beiden polaren Kräfte im Herzen miteinander verwoben? Und wie prägt sich die Dreiheit ganz konkret aus, in welchem Verhältnis stehen die drei Elemente zueinander? Es ist kein Nachdenken, sondern ein inneres Tasten im Umgang mit diesen Fragen, ein bewusstes Spüren und Erleben in und mit der inneren Tätigkeit.

So wird Sinn nicht zu einer Jenseits-Kategorie oder zu etwas willkürlich zur Welt Hinzugefügtem, sondern zum aufgeschlossenen Tor, das mich im Hier und Jetzt erleben lässt, worum und wohin es geht. Sinn wird zur Brücke, über die Ich und Welt sich miteinander verbinden und – vielleicht am wichtigsten – aneinander verwandeln. Und hierin liegt auch die Kulturwirksamkeit der Anthroposophie begründet. Erfahrungen, die man mit einem Spruch wie dem oben zitierten machen kann, gehören beispielsweise zu den Grundlagen der Waldorfpädagogik.

Es wäre interessant, die Haltung gegenüber anderen Menschen, die durch das Umgehen mit einem solchen Spruch entsteht, mit der achtsamen Haltung des Buddhisten zu vergleichen. Der Spruch soll ja nicht zu einem Konzept werden, mit dem ich mein Gegenüber belege. Auch der anthroposophisch Meditierende wird versuchen, sein Gegenüber so umfassend wie vorurteilslos wahrzunehmen. Er macht dabei aber die Erfahrung, dass die Wahrnehmung eines anderen Menschen sich vertieft und sinnvoll sich auszusprechen beginnt. Womöglich befähigt der Umgang mit einem solchen Spruch, die Erfahrungen mit anderen Menschen näher an das wahre Wesen des Menschen heranzurücken?

Und das Ego?

Und was geschieht derweil mit dem Ego? Wenn ich Steiner recht verstehe, ging es ihm auch gegenüber dem Ego weniger darum, es loszulassen, als es der Sphäre des von allen Identifikationen gereinigten Ich näherzubringen. Denn hinter jedem Schatten steht ein Licht, hinter jedem Egoismus eine selbstlose Fähigkeit. Im Ego drückt sich aus, wie sich der Tropfen aus dem Meer des Sinnes in dieser konkreten Person bisher manifestiert hat. Es bringt die eingegangenen Verbindungen und Identifikationen zum Ausdruck. Nur sind diese zunächst eben nicht bewusst, sondern wirken mit Eigendynamik und damit egoistisch.

Die Öffnung des Schattens zum Licht hin hat aber die Auflösung der Identifikation des eigentlichen Ich mit dem Ego zur Voraussetzung. Steiner gibt dazu eine elementare Übung: man möge abends noch einmal auf den Tag zurückschauen, dabei aber die Ereignisse rückwärts durchgehen.18 Warum? Erinnere ich vorwärts, ist sofort die Dynamik des Erlebten wieder da, ein unbedachtes Wort macht wieder wütend, eine Verletzung schmerzt erneut. Das ist beim Rückwärts-Erinnern nicht der Fall. Ich nehme die Emotion zwar wahr, werde aber nicht wieder in sie hineingezogen.

Das klingt sehr ähnlich wie die Prozesse, die Michael von Brück im Hinblick auf die Befreiung vom Leiden beschrieben hat. Für die Diesseits-Spiritualität der Anthroposophie ist es mit dem Loslassen und der Befreiung von den Anhaftungen noch nicht getan. Denn hier geht es ja gerade darum, sich mit der Welt ganz konkret zu verbinden, und das ist das genaue Gegenteil einer unwillkürlichen Anhaftung: Ich suche aktiv und frei eine neue Verbindung. Die Freiheit von den Anhaftungen soll zur Freiheit für eine Aufgabe werden.

Aber der Übergang von der unwillkürlichen Anhaftung zur frei ergriffenen Aufgabe ist heikel. Allzu leicht leben sich doch immer wieder nur die alten Anhaftungen in den angeblich neu ergriffenen Aufgaben aus. Wir leben andauernd auf dem schmalen Spalt zwischen Anhaftung und frei ergriffener Aufgabe. In der Rückschau-Übung übt sich das Ich darin, sich von den alten Anhaftungen unabhängig zu machen, indem es sie rückwärts anschaut. Dadurch behält es sie im Blick und löst doch gleichzeitig die Identifikation. Es gibt sie frei, um sich in einem neuen, lichtvolleren Zusammenhang neu zu konstituieren.

Gegenseitige Bereicherung

Das anthroposophische Konzept von Meditation ist komplex, gerade durch seine Sinnorientierung. Je besser ich die östlichen Methoden der Meditation kennenlerne, desto mehr scheint es mir, dass sie für den anthroposophisch Meditierenden eine gute Voraussetzung, ja vielleicht sogar eine Bedingung für gelingendes Meditieren sind. Die buddhistische Achtsamkeit verkörpert das Stadium zwischen vorgegebenen Sinnkonzepten und neuem sinnstiftenden Zugreifen, dem sich dann die anthroposophische Meditation zuwendet. Es erscheint mir sinnvoll, sich auf dieser Schwelle zwischen der gewordenen Welt und der strömenden Sinnhaftigkeit der geistigen Welt halten zu können: alte Anhaftungen und Sinnkonzepte abstreifend, ohne gleich wieder eine neue Verbindung eingehen zu müssen. Denn greife ich zu schnell zum Sinn, etwa weil ich das Zwischenstadium nicht aushalte, ist damit nur wieder eine neue, verfeinerte Form des Egoismus gegeben. Sich halten zu können auf der Schwelle zwischen Anhaftung und neuer Sinnstiftung scheint mir eine gute Voraussetzung für sinnstiftende anthroposophische Meditation zu sein.

1 Siehe Michael von Brück: Zen – Geschichte und Praxis, München 2007.

2 Rudolf Steiner: Die Geheimwissenschaft im Umriß (GA 13), Dornach 1989, S. 66.

3 Dies wurde als kleine angeleitete Meditation auf das Wort «Ich bin» während des Vortrages auch durchgeführt.

4 Diese Übung ist als «Erste Nebenübung» bekannt und im Anhang wiedergegeben.

5 Die Übungen mit dem sogenannten «versatilen Dreieck» oder der «Rot-Grün-Vertauschung» sind ebenfalls im Anhang wiedergegeben.

6 Vortrag vom 20. April 1923, S. 94 in Rudolf Steiner: Was wollte das Goetheanum und was soll die Anthroposophie? (GA 84), Dornach 1986.

7 Die Geheimwissenschaft im Umriß (GA 13), S. 70.

8 Siehe dazu ausführlich das Kapitel ‹Alles in der Welt ist bewusst› in diesem Buch, S. 183ff.

9 An diese halten wir uns hier, denn nur sie sind unabhängig von einer Lehrerpersönlichkeit, die Steiner ja auch war. Alle persönlich gegebenen Meditationen haben einen menschlichen Zusammenhang, der heute kaum noch zu rekonstruieren ist.

10 Diese drei Meditationen sind im Anhang enthalten.

11 Diese beiden Vorgänge sind in der Meditationswissenschaft vielfach als «focused attention» und «open monitoring» beschrieben worden.

12 Zum Beispiel der Zyklus von 52 Sprüchen, die den Wochen des Jahres zugeordnet sind und den Naturlauf der Erde mit dem seelischen Rhythmus zwischen Wahrnehmung und Denken in Verbindung bringen, in Rudolf Steiner: Wahrspruchworte (GA 40), Dornach 2005, S. 19ff.

13 Ebd., S. 140.

14 Joh 19,5.

15 Siehe hierzu Rudolf Steiner: Die Philosophie der Freiheit (GA 4).

16 Vgl. Gernot Böhme: Bewusstseinsformen, München 2014, S. 197ff. Böhme hatte den Eröffnungsvortrag auf der Tagung gehalten.

17 Rudolf Steiner: Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung (GA 2), Dornach 2003, S. 125.

18 Auch diese Übung findet sich im Anhang.

«Die Umrisse der Anthroposophie als eines Ganzen» Der Geheimwissenschaft im Umriß zum Hundertsten

Die Geheimwissenschaft beendet Steiners inhaltsreiche Phase, in der Anthroposophie noch Theosophie hieß – ab 1911 erscheinen knappe, meditativ orientierte Bücher, die die Leser zur Eigenaktivität anregen sollen. Die Geheimwissenschaft bleibt aber zentral, Steiner bearbeitet sie für neue Auflagen immer wieder. Im Mittelpunkt der Geheimwissenschaft steht die Rosenkreuz-Meditation: Sie leitet über vom Aufnehmen des Inhaltlichen zu produktiver Eigenaktivität. Als sie Hundert wurde, entstand dieser Überblick über das umfangreiche Buch.

Die Geheimwissenschaft im Umriß enthält, so schreibt Rudolf Steiner im Januar 1925 in seiner letzten Vorrede zu diesem Buch, «ja die Umrisse der Anthroposophie als eines Ganzen […] Alles, was ich seither sagen konnte, erscheint, wenn es an der rechten Stelle diesem Buche eingefügt wird, als eine weitere Ausführung der damaligen Skizze.»1 Das (nach Die Rätsel der Philosophie) umfangreichste Buch Steiners: eine Skizze? Diese Zuschreibung ist in der Tat nur berechtigt, wenn man das spätere Werk Steiners in die Geheimwissenschaft zu integrieren versucht. Nur dann bemerkt man, dass die Charakteristik von Luzifer und Ahriman – in der Geheimwissenschaft erstmals (schriftlich) niedergelegt – in den Folgejahren sowohl in Büchern wie in Vorträgen reiche Ausarbeitung erfuhr, was in noch reicherem Maße für das in der Geheimwissenschaft zwar an zentraler Stelle, tatsächlich aber nur knapp beschriebene Mysterium von Golgatha gilt. Das Wesen des Hüters der Schwelle wird bis zu Steiners Tod immer wieder neu charakterisiert, wer sich über die Prinzipien der Wirksamkeit der Planeten, über die Ätherarten oder die vorchristlichen Mysterien aufklären will, findet in der Geheimwissenschaft Grundlegendes, und natürlich sind die Anthropologie und der Reinkarnationsgedanke zeitlebens zentrale Themen gewesen, an denen Rudolf Steiner immer weiter gearbeitet hat.

Dennoch, der heutige Leser wird das Buch kaum als Skizze erleben. Bereits das Kapitel ‹Schlaf und Tod› enthält Weitungen, die der folgen wollenden Aufmerksamkeit nicht ohne Weiteres zugänglich sind, und das Kapitel ‹Die Weltentwickelung und der Mensch›, mit 160 Seiten schon äußerlich sehr umfangreich, birgt eine Stofffülle, die als Ganze nur von Spezialisten bewältigt wird. Insbesondere in diesem Kapitel sind implizit eine große Menge an Bezugnahmen enthalten, speziell auf Haeckels Evolutionsgedanken sowie auf die entsprechenden theosophischen Gedanken Blavatskys, Sinnetts oder Scott-Elliots. Diese Bezugnahmen, die damals sozusagen in der Luft lagen, sind dem heutigen Leser nicht mehr zugänglich und erschweren die Lektüre. Die «Maulbeere» des alten Saturn, der durch Absonderung entstandene zweigliedrige Mensch zum Beginn der Sonnenentwicklung und die «Eichelfrucht» im Beginn der Erdentwicklung sind «sinnlich-übersinnliche Bilder»2, die für sich selbst sprechen. Aber um wie vieles deutlicher wird diese Sprache, wenn man die Anspielung auf Haeckels Beschreibung der pflanzlichen Keimesentwicklung durch Morula, Blastula und Gastrula versteht! Und um wie vieles transparenter wird die Erdentwicklung und die ausgiebige, komplexe und übrigens 1913 grundlegend überarbeitete Schilderung des sogenannten «Sündenfalls» in der lemurischen Zeit, wenn man weiß, dass für H.P. Blavatsky und infolgedessen für die theosophischen Leser der «Sündenfall» im Mittelpunkt der Menschheitsentwicklung stand. Das war die Folie, vor der Steiner dem Mysterium von Golgatha seine Mittelpunktsstellung verlieh.3

Auch 1910, beim Erscheinen der Geheimwissenschaft, ist das Buch sicherlich nicht als Skizze erlebt worden. Viel eher dürfte es als Zusammenschau von Steiners bisherigem theosophisch-anthroposophischen Schaffen rezipiert worden sein. Denn es fasst die Veröffentlichungen Steiners seit der Übernahme des Generalsekretär-Postens der Theosophischen Gesellschaft unter einem einheitlichen Gesichtspunkt zusammen.

Da war 1904 zunächst die Theosophie erschienen. Sie bereits enthält eine Anthropologie, den Reinkarnationsgedanken, Ausführungen zur Seelenwelt und zum Geisterland sowie eine allererste Fassung des anthroposophischen Schulungsweges. Mit Ausnahme der Evolution sind also alle Themen der Geheimwissenschaft bereits angeschlagen. Die Theosophie ist komponiert nach der Dreigliederung von Leib, Seele und Geist, und die Dreigliederung wird auch zur Grundlage der Entwicklung des Reinkarnationsgedankens ebenso wie für die Schilderung von Seelenwelt und Geisterland. In den folgenden Jahren bis 1908 hat Rudolf Steiner die angeschlagenen Themen ausgearbeitet und als Aufsätze in der Zeitschrift Lucifer-Gnosis veröffentlicht, woraus später Sonderdrucke sowie Bücher – einige allerdings erst nach Rudolf Steiners Tod – erstellt wurden. Eingegangen sind die Aufsätze in die Bücher Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? (Sonderdruck 1907, Buchausgabe 1909), Die Stufen der höheren Erkenntnis (Sonderdruck 1908, Buchausgabe 1931) und Aus der Akasha-Chronik (Sonderdruck 1907, Buchausgabe 1939). So hat die Darstellung des Schulungsweges nach der Theosophie große Veränderungen erfahren, zunächst mit der Hinzunahme der Natur als Übungsfeld und überhaupt einer großen Fülle von Übungsanregungen in Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?. Die Systematisierung der höheren Erkenntnisstufen als Imagination, Inspiration und Intuition erscheint erst in Die Stufen der höheren Erkenntnis. Ganz neu tritt nach der Theosophie das Thema Evolution und Weltentwicklung hinzu, das in den Aufsätzen Aus der Akasha-Chronik erstmals durchgearbeitet wird (sowie natürlich parallel in Vorträgen).

In der Geheimwissenschaft werden nun alle angeschlagenen Themen zusammengefasst: die Anthropologie im Kapitel ‹Wesen der Menschheit› (II), der Reinkarnationsgedanke und die Darstellung von Seelenwelt und Geisterland im Kapitel ‹Schlaf und Tod› (III), der Evolutionsgedanke im Kapitel ‹Die Weltentwickelung und der Mensch› (IV), fortgesetzt im Kapitel ‹Gegenwart und Zukunft der Welt- und Menschheits-Entwickelung› (VI), und zwischen diesen beiden Kapiteln zum Evolutionsgedanken der umfangreich und systematisch dargestellte Schulungsweg im Kapitel ‹Die Erkenntnis der höheren Welten (Von der Einweihung oder Initiation)› (V). Abgeschlossen wird das Buch von ‹Einzelheiten aus dem Gebiete der Geisteswissenschaft› (VII), die einige Themen vertieft aufgreifen. Und sieht man dann noch das Einleitungskapitel der Geheimwissenschaft, in dem es um den ‹Charakter der Geheimwissenschaft› (I) geht, als eine für die theosophisch-anthroposophischen Verhältnisse umgearbeitete Erkenntnistheorie an, so ist in der Tat in die Geheimwissenschaft das gesamte vorangegangene philosophische und theosophisch-anthroposophische Schaffen Steiners eingegangen.

Ein einheitlicher Gesichtspunkt

Neu sind in der Geheimwissenschaft insofern weniger die Inhalte, die im Einzelnen schon bekannt waren und den Mitgliedern in den genannten Aufsätzen und in Vorträgen immer wieder dargebotene Grundlagen der Anthroposophie enthalten. Neu ist insbesondere der Gesichtspunkt, unter dem Rudolf Steiner sein bisheriges Schaffen nun zusammenfasst: der der Viergliederung des Menschen in physischen Leib, Ätherleib, Astralleib und Ich und der Verwandlung der drei Leibesglieder in Geistesglieder.

So beginnt das Kapitel ‹Wesen der Menschheit› nicht mit der Dreigliederung nach Leib, Seele und Geist, sondern mit dem Aufbau der vier Wesensglieder entlang der Naturreiche, gipfelnd in der Zusammenfassung:

«Wie der physische Leib zerfällt, wenn ihn nicht der Ätherleib zusammenhält, wie der Ätherleib in der Bewußtlosigkeit versinkt, wenn ihn nicht der Astralleib durchleuchtet, so müßte der Astralleib das Vergangene immer wieder in die Vergessenheit sinken lassen, wenn dieses nicht vom «Ich» in die Gegenwart herübergerettet würde. Was für den physischen Leib der Tod, für den Ätherleib der Schlaf, das ist für den Astralleib das Vergessen. Man kann auch sagen: dem Ätherleib sei das Leben eigen, dem Astralleib das Bewußtsein und dem Ich die Erinnerung4

Es folgt die Differenzierung der Ich-Tätigkeit in Empfindungs-, Verstandes- und Bewusstseinsseele, die dann vertieft wird in die geistige Dreiheit von Geistselbst, Lebensgeist und Geistesmensch. Diese drei geistigen Glieder werden gebildet, wo das Ich das verborgene Geistige im Offenbaren der Leiblichkeit freilegt. (Die Dreigliederung der Theosophie wird hier also durchaus integriert.) Die verwandelnde Arbeit des Ich wird in diesem Kapitel zunächst als Kulturtatsache dargestellt:

«Im Grunde besteht alles Kulturleben und alles geistige Streben des Menschen aus einer Arbeit, welche diese Herrschaft des Ich zum Ziele hat. Jeder gegenwärtig lebende Mensch ist in dieser Arbeit begriffen: er mag wollen oder nicht, er mag von dieser Tatsache ein Bewußtsein haben oder nicht.»5

Die Vierheit von physischem Leib, Ätherleib, Astralleib und Ich wird in allen folgenden Kapiteln wieder aufgegriffen, aber unter jeweils veränderten Bedingungen. Im Kapitel ‹Schlaf und Tod› werden die vier Wesensglieder in ihrer Auflösung nach dem Tod und ihrer Neubildung vor der nächsten Geburt beschrieben. Ebenfalls findet hier eine Verwandlung von physischem Leib, Ätherleib und Astralleib statt, aber anders als im vorangegangenen Kapitel, in dem diese Verwandlung als allmählich und kontinuierlich beschrieben wurde, gehen die Wesensglieder nun durch eine völlige Auflösung: Zunächst wird mit dem Tode der physische Leib abgelegt; dann löst sich nach wenigen Tagen der Ätherleib auf, nachdem er wie ein Tableau das nunmehr abgeschlossene, zu einer Ganzheit gewordene vergangene Erdenleben als innerlich stimmiges Gemälde dem nachtodlichen Bewusstsein zur Erscheinung gebracht hat; und dann beginnt die Zeit, in der der Astralleib mit all seinen Begierden, Trieben und Leidenschaften so weit geläutert wird, dass das Ich seine Verwobenheit mit dem dem Erdenleben allzu stark zugeneigten Astralleib ablegen kann. Nun kann das von jeder Anhaftung an Irdisches befreite Ich in das Geisterland eintreten, verbunden mit allen Früchten des vergangenen Erdenlebens, die nun in Keime für das künftige Erdenleben verwandelt werden, in einer Welt, die nur aus Intentionen und schlackenfreien Urbildern besteht. Hier kann das Ich sich qualifizieren, nach Maßgabe der gefassten Intentionen einen neuen Astralleib, einen neuen Ätherleib und schließlich einen neuen physischen Leib auszubilden, die den im Geistigen gebildeten Intentionen entsprechen. Das Ich im Geisterland webt mit an den Verhältnissen der eigenen Leiblichkeit und den Welt-, Kultur- und Naturverhältnissen, in die diese Leiblichkeit eingebettet sein wird.

Und auch im Evolutionskapitel sind die vier Wesensglieder der rote Faden, der das Verstehen durch die Fülle des Stoffs hindurchführt. Der Alte Saturn schildert die Bedingungen der Entstehung des physischen Leibes und des Physischen überhaupt, auf der Alten Sonne entsteht der Ätherleib, auf dem Alten Mond der Astralleib, und auf der Erde kommt das Ich hinzu. Aber es ist eigenartig: Denn das zunächst nur als Wärme erscheinende Physische des Alten Saturn hat nahezu Ich-Qualität, das Ich des Irdischen ist ohne das nunmehr fest gewordene Physische nicht zu denken. Eins steckt im anderen drin, Physisches und Ich sind von Beginn an aufeinander bezogen.

Die Wesensglieder mit dem Ich werden geschaffen von hierarchischen Wesenheiten, die als Fluchtpunkte des Denkens die Aktivität der Schöpfung einzufangen vermögen. Aber mit dem Auftreten des Ich treten die Hierarchien zurück. Nur die Weltmächte Christus, Luzifer und Ahriman umgeben den Menschen noch, zwischen ihnen ist der Mensch mehr und mehr auf sich selbst gestellt, und vollends auf sich gestellt ist er nun, was die Fortführung der Evolution in die Zukunft hinein betrifft.

Diese Zukunft wird angedeutet im Kapitel ‹Gegenwart und Zukunft der Welt- und Menschheitsentwickelung›. Es ist so knapp, wie das in die Vergangenheit gerichtete Weltentwicklungskapitel umfangreich ist. So wie das Ich im Leben zwischen Tod und neuer Geburt die Frucht des vergangenen Erdenlebens umwandelt in den Keim des nächsten, so wandelt der an der Evolution beteiligte Zeitgenosse die Früchte der Schöpfung um in Keime für die Zukunft. Aber während man es bei den Früchten der Vergangenheit mit Tatsachen zu tun hat, denen sich das Erkennen ruhig gegenüberstellen kann, so erregt, «was in der Zukunft geschieht, […] das menschliche Fühlen und Wollen.»6 Hier ist ein ganz anderer Modus menschlicher Tätigkeit gefragt: die gewonnene menschliche Freiheit achtend bei zugleich voller Verantwortungsübernahme für das Verwirklichen zukünftiger Evolution. Soweit diese gelingt, werden die zukünftigen Weltzustände Jupiter, Venus und Vulkan Verwandlungen der vergangenen Zustände Mond, Sonne und Saturn sein – im Sinne der in die bisherige Entwicklung einverleibten Möglichkeiten: Dies ist gerade der Mensch, der Freiheit und Verantwortlichkeit miteinander verbindet, der zum «selbständigen Glied einer geistigen Welt»7 geworden ist.

Entwicklung des Bewussteins: Der Vegetationskegel der Evolution

Diese hohe Verwandlungsaufgabe des zur Freiheit herangereiften geistigen Menschenwesens, die Arbeit des Ich am Physischen, am Ätherischen und am Astralen wird in der Geheimwissenschaft in mehreren Schattierungen beschrieben: als Kulturtatsache im zweiten, als Ereignis im Leben zwischen Tod und neuer Geburt im dritten und als Resultat der ganzen Evolution im vierten Kapitel. Damit der Mensch aber diese Aufgabe tatsächlich ergreifen kann, bedarf es noch mehr als einer unterstützenden Kultur, als des im Leben zwischen Tod und Geburt vorbereiteten Schicksalswirkens, als einer Evolution, die uns an diese Stelle geführt hat. Es bedarf der bewussten und gezielten Arbeit des Menschen an sich selbst. Diese ist Voraussetzung, um die Evolution entsprechend weiterzuführen. Und diese Arbeit beginnt mit der Verwandlung des Bewusstseins. Denn immer war es das Bewusstsein, das im Mittelpunkt des Entwicklungsstrebens der Hierarchien lag. Die Entwicklung des Bewusstseins ist, vergleichsweise gesprochen, der Vegetationskegel der Evolution. Und es ist das Gebiet, in dem wir Menschen am unmittelbarsten arbeiten können: an der Entwicklung unseres Gegenstandsbewusstseins, das auf die Gegebenheiten einer geschaffenen physischen Welt ausgerichtet ist, zu einem imaginativen Bewusstsein, das Bildeprozesse, Zukunftsprozesse, Lebendiges und Werdendes angemessen zu erfassen vermag.

Dieser Arbeit ist das zwischen Vergangenheit und Zukunft der Evolution eingefügte fünfte Kapitel ‹Die Erkenntnis der höheren Welten› gewidmet. Hier wird sehr genau beschrieben, was man an diesem Vegetationskegel tun kann, um Anfangskeime der Imagination und darauffolgend der Inspiration und Intuition auszubilden, was man tun kann, um die Evolution voranzutreiben. Denn anders kann man diese Stellung des Schulungskapitels mitten im Evolutionskapitel kaum verstehen: Es ist die Schulung des Bewusstseins, die Verwandlung des Gewordenen in jedem Einzelnen, ganz konkret im Hier und Jetzt. Die Rosenkreuz-Meditation, Zentrum des Schulungskapitels, fasst diesen ganzen Zusammenhang für die verschiedenen Stufen des Bewusstseins. In ihr ist auch jener Übergang enthalten vom «Sündenfall» als der zu tiefen Verstrickung des Ich im Astralleib, der in Blavatskys Geheimlehre im Mittelpunkt stand, zum Mysterium von Golgatha, das in der Geheimwissenschaft in den Mittelpunkt rückt: als Möglichkeit, das Ich so zu ergreifen, dass es den Astralleib zu verwandeln und den «Sündenfall» zu überwinden vermag. Meditation und Schulung setzen die Evolution fort, indem sie den Meditierenden selbst verwandeln und in ihm die Fähigkeiten ausbilden, die Welt zu verwandeln, die Schöpfung fortzuführen.

Auch im Schulungskapitel begegnen uns die vier Wesensglieder wieder, auch hier wird der einheitliche Gesichtspunkt durchgetragen: Schulung beginnt im Gegenstandsbewusstsein, mit Gedanken, die das Ich mit seinem zunächst an den physischen Leib gebundenen Denken denken kann, die sich aber zugleich schon auf Geistiges richten. Sie setzt sich fort in die Imagination, die mit der Verwandlung des Astralleibes einhergeht, während die Inspiration den Ätherleib und die Intuition den physischen Leib umwandelt.8

So wird durch die ganze Geheimwissenschaft das Motiv der Verwandlung von physischem Leib, Ätherleib und Astralleib durch das Ich durchgeführt, mit wachsenden Dimensionen. Es ist dieser einheitliche Gesichtspunkt, der es erlaubt, das Erscheinen der Geheimwissenschaft mit einem gewissen Recht gleichzusetzen mit dem Zeitpunkt, in dem Anthroposophie erstmals als Ganzes, als in sich stimmiges System auftritt. Dass daraus doch kein abgeschlossenes System geworden ist, verdankt sich nicht nur der weiteren Lebensleistung Rudolf Steiners, der mit seiner – von der Theosophie durchaus verschiedenen – Dreigliederung 1917 nochmals eine neue Systematik eröffnet und damit die ganze Anthroposophie in innerer Spannung hält, es verdankt sich auch der Fassung dieses systematischen Entwurfs: Sie ist dem Denken und nur dem Denken gegeben. Das Denken wird eingeführt in die Bildeprinzipien der Welt und des menschlichen Seins. Aber welche moralischen Folgen daraus zu ziehen seien, das ist dem Denkenden anheimgegeben. Die geisteswissenschaftlichen Gedanken ermöglichen ein Eindringen in das Weltganze, das zu einem Leben im Zusammenhang mit diesem Weltganzen befähigt. Aber sie achten in jedem Fall die Freiheit des Denkenden.

Das ist mit ein Grund, warum dieses Buch so schwer zu lesen ist. Rudolf Steiner wollte vermeiden, dass sein systematischer Entwurf leichfertig dogmatisiert oder gar zur Grundlage von Fanatismus wird. Er wollte das freie Ich ansprechen, das selber entscheidet, ob es die Verantwortung, die aus geisteswissenschaftlichen Gesichtspunkten quillt, übernehmen will. Er wollte mit der Geheimwissenschaft Menschen anregen, «sich als ein selbständiges Glied einer geistigen Welt zu fühlen».9

Die Geheimwissenschaft ist singulär geblieben. Kein späteres Buch erhebt den Anspruch, Anthroposophie als Ganze darzustellen. Vielmehr werden die Bücher in den folgenden Jahren immer inniger. Sie setzen noch viel unmittelbarer auf die Aktivität des Ich. Demgegenüber treten Stofffülle und Systematik zurück. Dem Gegenstandsbewusstsein, dem Anspruch, den Gedanken vom Geistigen eine in sich stimmige und umfassende Form zu geben, die dem ans Gehirn gebundenen Denken zugänglich ist, ist mit der Geheimwissenschaft genüge getan.

Der Bewegung der Begriffe folgen

Aber die Formung der Gedanken in der Geheimwissenschaft und die Verwandlung dieser Formung durch das Buch hindurch verdient noch eine eigene Betrachtung. Denn die Geheimwissenschaft will eben nicht nur vom Geistigen reden, sondern sie will den Menschen anregen, tatsächlich ins Geistige einzudringen, sich selbst zu ihm hinzuentwickeln. Diese Anregung geschieht durch Denkformen, die immer anspruchsvoller werden, dafür aber auch ein immer reicheres Kraftpotenzial in sich enthalten.

Im Kapitel vom ‹Wesen der Menschheit› werden die Grundbegriffe entwickelt. Sie werden abgeleitet aus der Anschauung des toten, des schlafenden und des bewussten, schließlich des sich erinnernden Menschen. Es ergibt sich ein begrifflicher Zusammenhang, der oben bereits zitiert wurde, und der durch seine innere Systematik eine starke begriffsprägende Kraft hat:

«Wie der physische Leib zerfällt, wenn ihn nicht der Ätherleib zusammenhält, wie der Ätherleib in der Bewußtlosigkeit versinkt, wenn ihn nicht der Astralleib durchleuchtet, so müßte der Astralleib das Vergangene immer wieder in die Vergessenheit sinken lassen, wenn dieses nicht vom «Ich» in die Gegenwart herübergerettet würde. Was für den physischen Leib der Tod, für den Ätherleib der Schlaf, das ist für den Astralleib das Vergessen. Man kann auch sagen: dem Ätherleib sei das Leben eigen, dem Astralleib das Bewußtsein und dem Ich die Erinnerung10

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Дата выхода на Литрес:
25 апреля 2024
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ISBN:
9783772541896
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