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Der Zusammenhang

«Aber das Nötige geschieht schon, wenn man nur Geisteswissenschaft studiert und richtig bewusst versteht»

2011 wurde der 150. Geburtstag von Rudolf Steiner gefeiert – die Beiträge in großen Zeitungen erweckten damals den Eindruck, dass die Anthroposophie im öffentlichen Leben der Gegenwart angekommen ist. Die Zeitschrift die Drei veröffentlichte damals unter der Überschrift ‹Treffpunkt Steiner› eine Serie vieler verschiedener Zugangsweisen zu Persönlichkeit und Werk Rudolf Steiners – eine Gelegenheit, sich den eigenen biographischen Zugang zu vergegenwärtigen.

«Denken 1979/80» habe ich vorne in mein Exemplar von Steiners Grundlinien einer Erkenntnistheorie (1886) geschrieben, und dieser Eintrag stammt aus der Zeit des ersten anthroposophischen Lesekreises, an dem ich teilnahm, ganz privat, mit Musikerfreunden und unter Anleitung eines etwas älteren ehemaligen Waldorfschülers. Mit Philosophie und Erkenntnistheorie hatte ich, die ich gerade das Abitur hinter mich gebracht hatte, bisher nicht viel zu tun gehabt, aber mit Denken schon. Denken war eine gern ausgeübte Beschäftigung, nicht nur in den Leistungskursen Mathematik und Latein, sondern auch in Gesprächen über den Sinn des Lebens, ein eventuelles Leben nach dem Tod und die damals stets gegenwärtige Frage, ob die Schulkameraden den Kriegsdienst verweigern sollten oder nicht.

Vor diesem Hintergrund war ich einigermaßen vorbereitet, Steiners Gedankengänge zu verstehen und ihnen selber denkend zu folgen, bis dahin, wo das Denken in seiner auf sich selbst beruhenden Natur als einheitlicher «Seinsgrund»1 der Welt erkannt wird. Der ist mannigfaltig ausgegossen und differenziert in den einzelnen Bewusstseinen und den einzelnen Welttatsachen, aber das Differenzierte ist – einer Formulierung in den Anthroposophischen Leitsätzen (1924) folgend – als «Geistiges im Menschenwesen» und als «Geistiges im Weltenall»2 doch mit diesem einheitlichen Seinsgrund verbunden, enthält ihn, ist seiner inne. Ich konnte mitvollziehen und ahnend erleben, wie ich im Denken selber tätig bin und zugleich etwas Objektives zur Erscheinung bringe und wie dieses tätige zur Erscheinung-Bringen etwas ist, das sich selber trägt und auf sich selbst beruht, in meinem Denken als auf sich selbst beruhender Seinsgrund anwesend ist.

Ich hätte diese Erfahrung damals wohl nicht genau beschreiben können, aber sie nahm in diesem ersten Lesekreis ihren Anfang, sich bis heute erneuernd und vertiefend. Es war die erste ahnungsweise Erfahrung dessen, wonach, wie ich heute weiß, alle spirituellen Strömungen suchen und was als Absolutes, als Geist, als Gott, als Weltengrund, Brahman oder als Selbst bezeichnet wird.

Der in den Grundlinien gefundene Zugang zum Seinsgrund führt – auch das war mir damals in seiner Bedeutung nur anfänglich klar – durch das Denken, durch das, was in mir in seiner letzten Äußerungsform als Denken erscheint und was zurückgeführt werden kann zu der Kraft, die nicht nur in mir als Denken zur Erscheinung kommt, sondern auch die Welttatsachen schöpferisch zur Erscheinung gebracht hat und bringt. Dass dieser Grund durch das menschliche Denken – wenn es sich denn entsprechend vertieft – zugänglich ist, charakterisiert die ganz spezifische Geistigkeit, die Rudolf Steiner in der Anthroposophie zum Ausdruck gebracht hat, zutreffend. Ich fühlte mich dadurch mit einem Grund verbunden, der sich selbst trägt, der nicht mehr hinterfragbar ist, der in seiner tiefsten, absoluten Natur das Wesen und der Sinn der Welt ist.

Es war diese Erfahrung, die die achtziger Jahre hindurch meinen Umgang mit Rudolf Steiners Werk bestimmte, im Anthroposophischen Studienseminar bei Frank Teichmann, in der anthroposophischen Studentenarbeit, im Frankfurter Zweig der Anthroposophischen Gesellschaft. Es ging mir darum, die Denkbewegungen im Hinblick auf die zentrale Erfahrung des Seinsgrundes immer aktiver und bewusster zu vollziehen – hier lagen auch meine ersten Erfahrungen mit anthroposophischer Meditation. Die Inhalte der Anthroposophie spielten demgegenüber für mich zunächst gar keine große Rolle, wenn auch die anthroposophischen Grundbegriffe wie die Wesensglieder, die Kulturepochen, Mysteriengeschichte und Weltentwicklung und der Reinkarnationsgedanke doch hängenblieben, sich quasi absetzten durch immer erneutes Durchdenken. Sie setzten sich allerdings weniger als Gewusstes ab denn als Struktur, als Organ, bereit zum Wahrnehmen und Ordnen geistiger Wirklichkeit, bereit zum Auffinden des Seinsgrundes in der Welt. Zunächst äußerten sie sich wie ein noch ganz allgemeiner Sinn für Sinn, für Stimmigkeit, für Geistgemäßheit.

Das Ende des 20. Jahrhunderts

Erst, als ich 1989 für das Arbeitszentrum Frankfurt der Anthroposophischen Gesellschaft die Aufgabe übernahm, herauszufinden, was Rudolf Steiner alles über das Ende des 20. Jahrhunderts gesagt hatte, rückten für mich die Inhalte im Werk Rudolf Steiners in den Vordergrund. Auf der Suche, die mit dem Jahrhundertende verbundenen inhaltlichen Motive zu verfolgen und zu verstehen, musste ich sehr viel lesen, insbesondere Vorträge von Rudolf Steiner. Mit dem Mitdenken und Verdauen kam ich kaum nach. Vom Treffen auf den Seinsgrund, der all das Dämonische, all die geschichtlichen Verwerfungen und ihre karmischen Hintergründe, die Gegenbilder und die sich daraus ergebenden Aufgaben zusammengehalten und ihnen Sinn verliehen hätte, konnte keine Rede sein. Stattdessen machte ich die Erfahrung, dass das Immer-weiter- und Immer-mehr-Lesen durchaus Unterhaltungswert haben, spannend sein, fast einen Rausch auslösen konnte, wenn ich nur das Fragen und Verstehenwollen ausschaltete. Ich machte aber auch die Erfahrung, dass ich weiterlas in der Hoffnung, dass irgendwo die Antworten stünden, dass mir doch gesagt würde, was genau am Jahrhundertende geschehen werde und wie ich mich dagegen wappnen könne. Und ich machte, da ich ja nun doch so viel gelesen hatte, auch die Erfahrung, dass ich nun begann, mein eigenes Verhalten, meine Ansprüche, meine Ziele und mein Scheitern mit der Anthroposophie zu rechtfertigen. Manchmal meinte ich nun zu wissen, wie es sei und was zu geschehen hätte, und der Fanatismus und Dogmatismus, mit dem ich dies zu vertreten begann, gesellte sich als drittes Gegenbild zum Unterhaltungswert der Anthroposophie und zu der Hoffnung, sie würde mir eigene Einsicht und Verantwortung abnehmen und Trost und Erquickung spenden.

Unterhaltungs-Anthroposophie, Trost-Anthroposophie, Privatanthroposophie mit ihrem Fanatismus und Dogmatismus – in diesen dreien spürte ich, dass sie meine seelische Gesundheit ankratzten. Die Gegenbilder des Geistigen, deren Eigendynamik am Jahrhundertende Steiner so eindrücklich beschrieb, hatten mich von dieser Seite aus kräftig am Wickel.

«Aber das Nötige geschieht schon, wenn man nur Geisteswissenschaft studiert und richtig bewusst versteht.» Es war tatsächlich die Stimme Rudolf Steiners in dem so zentralen Vortrag zum Jahrhundertende über die Tätigkeit der Engel im Astralleib3, die mich hinaushebelte aus der Verstrickung in die Gegenbilder. So vieles wurde ausgebreitet in diesem Vortrag, so viel Bedrohliches, und so gewaltige, das Fassungsvermögen übersteigende Ansprüche gestellt – und dann: «Aber das Nötige geschieht schon, wenn man nur Geisteswissenschaft studiert und richtig bewusst versteht.» Als riefe Steiner selbst mir das zu, und er dachte dabei sicherlich nicht an die gedächtnismäßige Aneignung der geisteswissenschaftlichen Begriffe und Ideen, sondern an die aktiv-denkerische Bildung innerer geistgemäßer Unterscheidungen und Zusammenhänge. Rudolf Steiner ermutigte mich, im Hinblick auf ein richtig bewusstes Verstehen seines Werkes den eigenen Fragen unverdrossen zu folgen und mit den gebildeten Begriffen wach und souverän zu leben im Sog der Gegenbilder, überhaupt in der Bewegung des Geistes, nicht nur am Jahrhundertende.

Das Zweite, worauf Rudolf Steiner mich aufmerksam machte, war die Übung am Ende dieses Vortrages, eine einfache Karmaübung: Achtet auf das, was wie durch ein Wunder in euer Leben tritt, was bei nur winzigsten Veränderungen nicht hätte stattfinden können, und auf das, was beinahe geschehen wäre, aber verhindert wurde durch winzigste Änderungen der Rahmenbedingungen. Achtet auf den verpassten Zug, den verhinderten Unfall, auf die überraschende Wiederbegegung, auf den kleinen Fingerzeig. Achtet auf das fortwährende Wunder, den Wandel in eurem Leben!

Und als Drittes wurde ich gefragt, was denn nun das Jahrhundertende eigentlich sei? Wirklich nur eine profane Zeitangabe? Sollte Steiner tatsächlich Zukunftsvorhersagen à la Nostradamus gemacht haben? War das Jahrhundertende nicht auch ein Symbol für krisenbelastete Schwellensituationen, wie die Zeitrechnung sie wohl am Jahrhundertende hervorbringt, die ihrem Wesen nach aber weit darüber hinausreichen?

Diese Hinweise Steiners auf die denkaktive Begriffsbildung, auf Übung und Schulung und auf die dadurch ermöglichte geistige Forschung eröffneten mir die Perspektive, mich aus der Klammer der Gegenbilder zu lösen. Das hatte etwas Befreiendes. Ich erlebte darin eine Umstülpung von der Inhaltsfülle der Anthroposophie mit all ihren Gefahren hin zu eigener innerer, auf Verwandlung und Entwicklung gerichteter Arbeit. Aus der inhalts- und vergangenheitsorientierten Erkenntnisseite der Anthroposophie entbindet sich Moral – aber keine vorgegebene, sondern eine aus dem Verbundensein mit dem Seinsgrund, dem Geistigen in mir und in der Welt entstehende selbstverantwortete, mich und die Welt verwandelnde Moralität. Es entbindet sich Zukunft, aber keine vorgegebene, sondern eine, die aus geistesgegenwärtigem Tun entsteht. Das Jahrhundertende ist ein Bild für diese Umwendung.4

In dieser Umwendung trifft Anthroposophie mich an der Schwelle zwischen Bindung und Freiheit, zwischen fertiger und werdender Welt, zwischen gewordenem und sich entwickelndem Mensch-Sein. Und damit ging für mich auch eine verstärkte Pflege von Meditation und anthroposophischer Schulung einher.

In Rudolf Steiners Werkstatt

Im neuen Jahrhundert dann trat für mich die Frage in den Vordergrund: Wie hat Rudolf Steiner das eigentlich gemacht? Wie hat er ein Werk geschaffen, das die durch Denken gehende Erfahrung eines einheitlichen Seinsgrundes in mir und in der Welt ermöglicht und dabei zugleich individuelle Freiheit, Moral und Zukunft entbindet, ein Werk, das durch ebendiese Eigenart, Erkenntnis in Moral, Gegebenes in Werdendes zu verwandeln, ganze Lebensfelder inspiriert hat?

Ich entdeckte, wie Rudolf Steiner grundlegende Begriffe und Inhalte der Anthroposophie, zum Beispiel die höheren Erkenntnisstufen der Imagination, Inspiration oder Intuition oder die Meditation des Rosenkreuzes, keineswegs offenbart, auch selber nicht offenbart erhalten hat, sondern über Jahre entwickelt, erforscht, ausprobiert, verändert – man kann das in den Vorträgen, die der schriftlichen Niederlegung vorangehen, nachverfolgen. Dabei stützt er sich oft auf Inhalte, die er der esoterischen oder kulturellen Tradition entnommen hat – auch wenn er nur selten die Quellen angibt.5 Aber dann arbeitet er daran, den Inhalten eine auf sich selbst beruhende Gestalt zu geben, eine innere Stimmigkeit, die es unmöglich macht, aus der sozialen Dreigliederung eine Viergliederung oder aus den sieben Wesensgliedern des Menschen sechs oder acht zu machen. Die von Steiner geprägten geisteswissenschaftlichen Begriffe tragen sich gegenseitig, und dadurch kann durch sie alles Einzelne in Zusammenhang gebracht werden mit der Ganzheit des Wesens des Denkens, mit dem Seinsgrund.

Mir wurde klar, wie Rudolf Steiner nicht einfach über irgendetwas spricht, sondern wie er das, worüber er spricht, zugleich tut. So gibt es zum Beispiel einen Vortrag aus dem Jahre 1924 über den Prozess der Einweihung, der, ausgehend von Mythos und Bild über deren Verstehen und das Einleben in die Vorgänge, von denen Mythos und Bild reden, schließlich in die Erfahrung der zugrundeliegenden geistigen Realität mündet.6 Aber Steiner spricht nicht nur davon, sondern er baut den ganzen Vortrag nach diesen Stufen auf, er vollzieht diese Stufen im Sprechen von diesen Stufen fortwährend. Er tut, wovon er spricht, Inhalt und Form, Erkenntnis und Moral werden eins. Vielleicht kann man die besten Vorträge Steiners als Performances der Geistesgegenwärtigkeit bezeichnen, im Augenblick entstehende Realisationen eines anwesenden Geistes.

Ich begann zu verstehen, wie Steiner seiner Aufgabe, ja, seiner Mission, Welt und Mensch ausgehend vom Denken transparent zu machen für ihren sie verwandelnden geistigen Grund und Zusammenhang, treu geblieben ist von den Grundlinien am Anfang bis zu den Anthroposophischen Leitsätzen am Ende seines Werkes. Aber er hat dieser seiner Mission so unterschiedliche Ausdrucksformen gegeben, dass man sie kaum einem einzelnen Menschengeist zuordnen kann: die philosophische Form bis zur Jahrhundertwende, gipfelstürmend, anarchistisch, persönlich; die theosophische Form bis 1912, inhaltsstrotzend, allwissend, manchmal widersprüchlich, immer allerwichtigst; und dann der Parallelgang: in den internen Vorträgen behält er, den Bedürfnissen seiner Zuhörer entsprechend, viel Theosophisches bei, während er in den öffentlichen Schriften die Inhaltsfülle abstreift und sie ganz auf das Mitdenken-Wollen zuspitzt. 1917 erfindet er mit der Dreigliederung die Anthroposophie noch einmal neu – ein weiterer Versuch, den theosophischen Sockel abzustoßen. Immer nüchterner werden in seinen geschriebenen Werken die Ausdrucksformen für das, worum es ihm von Anfang an zu tun war: wie das Geistige im Menschenwesen und das Geistige im Weltenall sich im Hier und Jetzt treffen können.

Treffpunkt Steiner

Rudolf Steiner hat ein Werk hinterlassen, das sich, insbesondere in den geschriebenen Büchern, mit seiner in sich stimmigen, auf sich selbst beruhenden Begrifflichkeit selbst trägt – auch wenn die Denkaktivität, auf der diese Erfahrung ruht, heute vielleicht immer mehr quasi propädeutisch erst erübt werden muss. Es zeigt sich aber auch, dass viele Inhalte, vieles an dem Stoff, den Steiner insbesondere in den Vorträgen bearbeitet hat, zeitbedingt ist und der Kontext manchen Gedankens doch zu lange vergangen ist, um auf Dauer Bestand zu haben – auch wenn die künstlerische Gestalt, die Steiner seinen Denkbewegungen gab, anregend bleibt. Der Wandel in den Ausdrucksformen, in die Rudolf Steiner seine Mission gegossen hat, macht deutlich, wie vielfältig, wie reich der geistige Impuls ist, dem Steiner sein Werk gewidmet hat.

Rudolf Steiner selbst aber treffe ich heute da, wo ich mich übend und forschend selber auf die Suche mache nach der Verbindung zwischen dem Geistigen in mir und dem Geistigen in der Welt. Da begleitet er mich, wie ich ihn in den Spuren seines Werkes kennengelernt habe: diesen unermüdlichen Charakter, voller Phantasie, voller Schöpfergeist, voller Mut, voller Ernst. Er hält mir die Türe auf zum Seinsgrund, aus dem Welt und Mensch erschaffen sind, und er regt mich an, diesen Schöpfungsstrom fortzusetzen. Aber eintreten, den Schritt machen ins Freie, wo Erkenntnis sich umwendet in Moral und zur Grundlage schöpferischer Geistesgegenwärtigkeit wird, muss ich selbst.

1 Rudolf Steiner: Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung (GA 2), Dornach 1987, S. 84.

2 Rudolf Steiner: Anthroposophische Leitsätze (GA 26), Dornach 1998, S. 14.

3 Vortrag vom 9. Oktober 1918; Was tut der Engel in unserem Astralleib? in Rudolf Steiner: Der Tod als Lebenswandlung (GA 182), Dornach 1996.

4 Aus dieser Beschäftigung mit dem Jahrhundertende ist meine nur noch antiquarisch erhältliche Zusammenstellung Das Ende des 20. Jahrhunderts im Werk Rudolf Steiners (Dürnau 1993) hervorgegangen sowie mein Aufsatz Vom Jahrtausendende und der Jahreszahl 1998 in Die Christengemeinschaft 1/1998.

5 Unzählige Beispiele finden sich in Helmut Zander: Anthroposophie in Deutschland, Göttingen 2007.

6 Vortrag vom 19. April 1924 in Rudolf Steiner: Mysterienstätten des Mittelalters (GA 233a), Dornach 1991.

Anthroposophische Meditation: Die denkende Individualität als Ausgangspunkt

Im März 2015 fand in Stuttgart eine von der Agentur ‹Von Mensch zu Mensch› organisierte Tagung zum Thema «Meditation in Ost und West – Buddhismus und Anthroposophie im Gespräch» statt. Das war die erste große Meditationstagung, der sich in den Folgejahren weitere anschließen sollten. Die buddhistische Meditation wurde von dem Religionswissenschaftler und Zen-Lehrer Michael von Brück vertreten, mein anschließende Beitrag zur anthroposophischen Meditation ist hier wiedergegeben.

Die denkende Individualität als Ausgangspunkt für einen meditativen Weg – das dürfte für die meisten Menschen, die mit östlicher Meditation vertraut sind, eine Provokation sein. Geht es doch dort zumeist darum, wie wir auch eben von Michael von Brück gehört haben,1 der Welt ohne fertige Gedanken zu begegnen und sich weder mit dem eigenen Körper noch mit Erinnerungen, Wünschen oder Urteilen zu identifizieren, also das Denken und die Individualität gerade nicht als Ausgangspunkt einer inneren und meditativen Entwicklung zu setzen. Meine Aufgabe ist es, den anthroposophischen Ansatz der Meditation so darzustellen, dass der Unterschied zu östlichen Ansätzen deutlich wird. Und da scheinen mir Denken und Individualität bzw. das Ich die Besonderheiten anthroposophischer Meditation am prägnantesten zu bezeichnen – auch wenn wir sehen werden, dass diese Begriffe ihren Schwerpunkt gegenüber dem gewöhnlichen Gebrauch ein wenig verlagern.

Inhalt, Vollzug und Sinn

Beginnen wir mit einer «einfachen Tatsache», auf die Steiner hinweist und

«die nur in ihrer umfassenden Bedeutung gewürdigt werden muß. Es ist diejenige, daß es im ganzen Umfange der Sprache einen einzigen Namen gibt, der seiner Wesenheit nach sich von allen andern Namen unterscheidet. Dies ist eben der Name ‹Ich›. Jeden andern Namen kann dem Dinge oder Wesen, denen er zukommt, jeder Mensch geben. Das ‹Ich› als Bezeichnung für ein Wesen hat nur dann einen Sinn, wenn dieses Wesen sich diese Bezeichnung selbst beilegt. Niemals kann von außen an eines Menschen Ohr der Name ‹Ich› als seine Bezeichnung dringen; nur das Wesen selbst kann ihn auf sich anwenden. ‹Ich bin ein Ich nur für mich; für jeden andern bin ich ein Du; und jeder andere ist für mich ein Du.› Diese Tatsache ist der äußere Ausdruck einer tief bedeutsamen Wahrheit. Das eigentliche Wesen des ‹Ich› ist von allem Äußeren unabhängig; deshalb kann ihm sein Name auch von keinem Äußeren zugerufen werden.»2

Versuchen wir einmal, diese «einfache Tatsache» nicht nur als Information aufzunehmen, sondern sie zu realisieren.3 Wir können versuchen, diesen Moment des Ich-Sagens zu verlängern, zu verstärken und zu halten. Wir bemerken sofort, welche Kraft es braucht, nicht unmittelbar in irgendwelche Identifikationen – ich bin die und die, ich bin so und so, ich habe dies oder das – zurückzufallen. Die Kraft, die es braucht, um sich im Ich-Sagen zu halten, müssen wir erst trainieren, wie einen ungeübten Muskel. Dann bemerkt man, dass diese Kraft, die zu sich selbst Ich sagt, Bestand haben kann – freilich nur, so lange ich sie betätige – und dass sie so lange eine gänzlich von allen Identifikationen befreite Existenz hat. Es ist keine subjektive, persönliche Kraft, vielmehr geht sie jeder Identifikation voraus. Sie ist ihrer inneren Natur nach überpersönlich und in der Lage, Identifikation einzugehen. In der Regel finden wir sie als bereits identifizierte Kraft, als Ego in uns vor. Ihrem Wesen nach aber ist sie unabhängig von all diesen Identifikationen. Und doch hat sie eine eigene Existenz.

Aber eine solche Erfahrung braucht doch einige Übung. Denn wir müssen unser Bewusstsein aufrecht erhalten können, während es im Vollzug bleibt und sich nicht auf einen Inhalt fixieren kann. Unser gewöhnliches Bewusstsein ist vollständig inhaltlich fixiert, es bildet die Welt ab, urteilt, konzeptionalisiert und läuft in habitualisierten Bahnen ab – der dahinterstehende Vollzug bleibt in der Regel völlig unbeobachtet. Um den Weg vom Inhalt zum Vollzug zu finden, hat Steiner einige Übungen gegeben, die den Vollzug stärken, indem man sich auf einen ganz einfachen Inhalt richtet. Dafür möge man, so schlägt Steiner vor, für einige Minuten «seine Gedanken an einen alltäglichen Gegenstand (z.B. eine Stecknadel, einen Bleistift usw.) wenden und während dieser Zeit alle Gedanken ausschließen, welche nicht mit diesem Gegenstande zusammenhängen».4 Es kann auch ein Dreieck sein oder eine einfache Form, die sich verändert5 – wichtig ist, dass es sich um einen Inhalt handelt, den man selber völlig überschaut und der deshalb inhaltlich eigentlich nicht anspruchsvoll ist. Gerade deshalb braucht es Kraft, um ihn im Bewusstsein zu halten, und daran tritt der sonst immer unbeobachtet bleibende Vollzug in Aktion und ins Bewusstsein.

Was wir da tun, wenn wir uns für einige Minuten konzentriert mit einem Bleistift oder einem Dreieck beschäftigen, ist immer noch Denken – aber ein normalerweise im Hintergrund bleibender Aspekt:

«Da werden Sie allmählich gewahr werden, daß Denken heißt: geradeso innerlich etwas tun, wie etwas äußerlich tun heißt, seine Hand gebrauchen, seinen Arm gebrauchen. Wenn Sie Ihren Arm gebrauchen, das spüren Sie. Nun müssen Sie spüren lernen, was es heißt: die Gedankenkräfte gebrauchen.»6

Wir üben in solchen ersten Schritten, unser Denken nicht nach unserer Organisation, unseren Gewohnheiten und unseren Vorlieben einzusetzen, sondern es innerlich zu ergreifen, in dem wir es an einem Thema, einem Zusammenhang entlang führen, ganz unabhängig von uns selbst, von unserem Ego. Das Denken bildet dann Unterschiede und Zusammenhänge und verbindet sie zu sinnvollen Ganzheiten. Sonst könnten wir keinen Bleistift von einem Füller unterscheiden und sie beide als Schreibgeräte erkennen.

Indem wir uns also denkend an einem einfachen Sinnzusammenhang betätigen, erüben wir eine innere Aktivität, die so selbstbewusst ist wie der Moment des Ich-Sagens. So löst sich das Ich von seinen Identifikationen, aber nicht, indem es jeden Inhalt loslässt, sondern indem es sich mit innerer Aktivität auf einen überpersönlichen Sinnzusammenhang richtet.

Und in dieser Aktivität erfährt das Ich sich gleichermaßen Sinn-erfahrend und Sinn-stiftend. Das Ich ist «wie ein Tropfen aus dem Meere der alles durchdringenden Geistigkeit»7, schreibt Steiner. Hier könnten wir uns vielleicht sogar mit dem Buddhismus treffen. Aber für Steiner ist das Meer der alldurchdringenden Geistigkeit nicht leer, sondern – hier steht er wohl dem Hinduismus näher – innerlich sinnvoll, es besteht sozusagen ganz aus Sinn.

Das Ich hat teil an diesem umfassenden Sinn, gehört ihm selbst an. In dieser Perspektive kann der Tropfen des Ich nun das Meer möglicher Sinnstiftungen, das Steiner «Geistige Welt» nennt, zu erforschen beginnen. Und hier fängt die anthroposophische Meditation eigentlich erst an. Sie richtet sich auf das Einleben des Tropfens in das Meer. Sie richtet sich darauf, die Vereinzelung des Egos zu überwinden und das befreite Ich in der Welt des Sinnes zu beheimaten.8

Meditation

So gründet anthroposophische Meditation auf dem denkenden Ich, das sich meditierend in die Welt des Sinnes einzuüben und einzuleben vermag. Anthroposophische Meditation hat immer diesen Sinnbezug. Es geht aber nicht darum, Sinn zu konzeptionalisieren und theoretisieren, sondern Sinn gleichsam von innen zu erfahren, als innerste Natur der Welt und des Ich.

Es gibt gar nicht so viele Meditationen, die Steiner für die Öffentlichkeit bestimmt hat.9 Die wichtigsten, ausführlich und methodisch beschriebenen Anleitungen finden sich in der sogenannten Rosenkreuz-Meditation, in einer Meditation über die Prozesse des Sprießens und Welkens in der Natur oder in einer Meditation, die sich auch inhaltlich ganz in der Qualität des Denkens hält und die in der Formel «Ich empfinde mich denkend eins mit dem Strom des Weltgeschehens» zusammengefasst wird.10 Im Grunde aber ist alles meditationsfähig, jeder Stein und jeder Baum, jede Frage und jedes Problem. Die Kunst ist, das Thema einer Meditation so in den Mittelpunkt des Bewusstseins zu rücken, dass Thema und meditierendes Ich konvergieren, zusammenfließen, in der Meditation ineinander übergehen. Auch hier also: das Gegenteil von Loslassen! Stattdessen aktives Ergreifen und bewusstes Versenken in einen Inhalt, um ihn von innen, seiner innersten Wesenheit nach, zu erfahren. Andernfalls steht man vor einem vielleicht interessanten Zusammenhang, der aber äußerlich bleibt, in den man nicht eindringen kann. Es geht aber gerade darum, sich ganz aus der inneren gereinigten Ich-Kraft heraus dem Meditationsinhalt quasi von innen zuzuwenden.

Um die entsprechenden inneren Handgriffe zu erüben, sind die von Steiner methodisch angeleiteten Meditationen außerordentlich fruchtbar. Man durchläuft dabei einen Prozess von der zunächst vor allem denkenden Aktivierung des Inhaltes über ein immer mehr auch das Fühlen einbeziehendes Ein- und Zulassen – wobei das Fühlen einen ähnlichen Reinigungsprozess durchläuft wie zuvor das Denken – bis hin zu einem willentlichen, existentiellen Ineinander-Aufgehen, einer Einheitserfahrung, die sich in der Sinn-Erfahrung auftut. Steiner beschreibt diese Schritte als verschiedene Bewusstseinsstufen, die er Imagination, Inspiration und Intuition nennt. Durch diese Stufen hindurch tritt die innere Aktivität zunehmend in den Hintergrund zugunsten einer offenen Empfänglichkeit.11

In der Praxis haben für viele Anthroposophen solche Meditationen die größte Bedeutung, die nicht ein Symbol, einen Naturvorgang oder einen Gedanken zum Thema haben, sondern einen zumeist mehrzeiligen, sehr sorgfältig gestalteten und oft als Mantram bezeichneten Spruch.12 An einem Beispiel möchte ich zeigen, wie ein solcher Spruch so gebaut sein kann, dass er nicht nur über etwas spricht, also einen Inhalt präsentiert, sondern ihn in seiner ganzen Gestalt vergegenwärtigt und tut, also vollzieht, wovon er spricht:

«Ecce homo

In dem Herzen webet Fühlen,

In dem Haupte leuchtet Denken,

In den Gliedern kraftet Wollen.

Webendes Leuchten,

Kraftendes Weben,

Leuchtendes Kraften:

Das ist – der Mensch.»13

Der Spruch hat sieben Zeilen, von denen die ersten drei und die zweiten drei jeweils parallel gebaut sind. Die ersten drei Zeilen beginnen jeweils mit einer Ortsangabe, die sich auf die menschliche Gestalt bezieht: Herz, Haupt, Glieder. Es sind Substantive, die einerseits uns selbst meinen, die aber auch gegenständlich und in bestimmter Weise gestaltet vorgestellt werden können. Die Zeilen enden mit substantivierten Verben: Fühlen, Denken und Wollen, zu denen wir nun nur noch einen inneren Zugang haben, die uns aber doch bekannt und sogar vertraut sind. Auch der Bezug vom Fühlen zum Herz, vom Denken zum Kopf und vom Wollen zu den Gliedern ist nachvollziehbar. Das dritte Element der ersten drei Zeilen sind die Verben: weben, leuchten, kraften. Sie weisen auf die Aktivität, die hinter den Seelentätigkeiten steht, die ihrerseits in der menschlichen Gestalt manifest werden. Diese Aktivitäten sind uns normalerweise gerade wegen ihres Vollzugscharakters ganz unbewusst.

Die zweiten drei Zeilen halten sich dann ganz in diesen Vollzügen und verweben jeweils zwei dieser Vollzüge miteinander: als Adjektiv und substantiviertes Verb. Und die letzte Zeile fasst dieses ganze Geschehen in einem einfachen Satz zusammen, der allerdings durch seine lateinische Form «Ecce homo» eine weitreichende Bedeutung bekommen hat: denn so hat Pontius Pilatus von Jesus Christus gesprochen.14

Ein solcher Spruch wird vom Objekt des Nachdenkens zur Meditation, indem wir zunächst innerlich ergreifen, wovon er spricht. Hierbei ist immer noch das Denken beteiligt: nicht aber, um über den Inhalt nachzudenken, sondern um ihn wach im Bewusstsein zu halten und zugleich aufmerksam zu sein auf die Qualität der inneren Kraft, die sich dabei entwickelt. Das ist vielleicht die größte Klippe der anthroposophischen Meditation: den Übergang zu finden vom Nachdenken zum innerlich wach beobachtenden Mittvollzug. Können wir also in der Zeile «In dem Haupte leuchtet Denken» das runde Haupt in seiner abgeschlossenen Gestalt vor uns sehen und dabei die nur innerlich zu erfahrende Qualität des Denkens im Blick haben, die sich in der Form des Hauptes einen Ausdruck schafft, ihrer inneren Natur nach aber Licht ist? Und können wir dann weiter diesen Zusammenhang einlassen in unser Fühlen, nicht nur wissend und vollziehend, sondern spürend und erlebend? Können wir schließlich das Bewusstsein aufrechterhalten, wenn wir uns diesem Zusammenhang völlig ausliefern und ihn wie von innen nicht nur erfahren, sondern sind? Wenn zwischen uns und dem ursprünglich ganz äußerlichen Inhalt kein Unterschied mehr besteht?

Das muss und kann geübt werden. Immer gesättigter wird dann die innere Erfahrung, immer triftiger, immer realer wird der in einem solchen Spruch eingeschlossene Sinn.

Diesseits-Spiritualität

Aber wird in einer solchen Meditation nicht einfach ein bestimmter Sinn vorgegeben? Die Frage ist berechtigt, und man kann sie eigentlich an alle von Steiner gegebenen Meditationen stellen. Und doch verfehlt sie das Wesen dessen, was hier mit «Sinn» oder von Steiner mit «Geistige Welt» gemeint ist. Der meditative Umgang mit einem solchen Spruch oder auch schon die Erfahrung, die man mit anhaltendem Bedenken eines Bleistiftes machen kann, führt nämlich zu der Einsicht, dass Sinn nicht fertig vorliegt, weder in Form von Begriffen noch in Form von Wesen, wie auch immer man diese bestimmen mag. Und die Welt liefert uns ihren Sinn schon gar nicht als fertigen mit. Wäre das der Fall, gäbe es keine Fragen und keine neuen Ideen. Sinn ist vielmehr ein Kontinuum, ein Möglichkeitsraum, der elastisch Sinnstiftungen ermöglicht, die sich im Laufe der Zeit, durch die Kulturen und durch Individuen wandeln können.

Dass wir so oft den Eindruck haben, wir würden den Sinn von etwas mit unseren gewöhnlichen fünf Sinnen einfach aufnehmen, liegt vor allem daran, dass wir die Basis der alltäglichen Sinnstiftungen bereits im Kindesalter anlegen und habitualisiert haben. Jedes Rätsel aber zeigt uns, dass Sinnstiftung immer Eigenleistung ist, und jeder Streit zeigt uns, dass Sinn ganz unterschiedlich und doch berechtigt beigelegt werden kann.

1 818,46 ₽
Возрастное ограничение:
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Дата выхода на Литрес:
25 апреля 2024
Объем:
261 стр. 3 иллюстрации
ISBN:
9783772541896
Издатель:
Правообладатель:
Bookwire
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