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Das Spiegelbild

Alexander von Werdenberg stand am Fenster und beobachtete mit dem nachgefüllten Whiskeyglas in der Hand, wie Philipp Humboldt das Gebäude verließ und um die Ecke des Hotel Savoy verschwand. Er bemerkte gerade noch rechtzeitig die kleine Biene, die – angezogen vom intensiven Geruch des Getränks – in ebendiesem um ihr Leben strampelte. Von Werdenberg befreite das emsige Arbeitstier mit dem Zeigefinger, öffnete das Fenster und beförderte die Biene vorsichtig auf den Fenstersims, wo sie sich nach einer kurzen Verschnaufpause aus dem Staub machte.

Zufrieden ging von Werdenberg in den Nebenraum, in dem er über die Jahre unzählige Nächte verbracht hatte. Boxspringbett, Waschraum, Ankleide, ein ultramodernes Kinesis-Trainingssystem, was zum Teil seine kräftige Statur erklärte. Hinter einer weiteren Tür verbarg sich eine schmale Wendeltreppe, die das Réduit mit der privaten Tiefgarage unter dem Gebäude verband. So konnte von Werdenberg ungesehen kommen und gehen, wann er wollte. Der Bankier wusch sich sorgfältig Hände und Gesicht. Dann drehte er sich um und blickte in die Augen seines Gegenübers. In seine Augen.

»Was ist, wenn er es herausfindet? Dieser Humboldt ist nicht auf den Kopf gefallen. Und seine Visage gefällt mir gar nicht. Müsste mal bearbeitet werden.« Alexander von Werdenbergs Ebenbild hatte etwas Sardonisches, Grobes. Und die Hautfarbe war fahler als beim Original.

»Ich muss Gewissheit haben, dass unser Geheimnis nie an die Öffentlichkeit gelangt. Es ist an der Zeit, einen Schlussstrich zu ziehen. Julia kann mit ihrer Stiftung viel bewirken. Aus Bösem wird so Gutes entstehen. Wir beide sind dem Namen von Werdenberg etwas schuldig. Glaub mir, der Professor ist unser Mann.« Alexander von Werdenberg schloss die Augen und versuchte, sich an die Geschehnisse jener Zeit zu erinnern. Es war ein Abgrund, der ihn jederzeit verschlingen konnte. Hastig katapultierte er sich in die Gegenwart zurück.

Der Fahle war nach wie vor nicht überzeugt. »Um unser Geheimnis zu schützen, soll Humboldt die Firmengeschichte schreiben? Das macht keinen Sinn! Lassen wir die schlafenden Hunde ruhen. Du wirst im fortgeschrittenen Alter noch zum Reichsbedenkenträger.«

»Kann sein«, murrte von Werdenberg zurück. »Doch nur dank meiner Kunst des Zweifelns ist unser Geheimnis bislang unentdeckt geblieben. Und so soll es auch bleiben. Durch den Verkauf der Bank wird unser Name sowieso an die Öffentlichkeit gezerrt. Sollte es also wirklich schlafende Hunde geben, die unser Geheimnis kennen, will ich sie aufstöbern, bevor sie zu kläffen beginnen. Jetzt können wir noch angemessen reagieren, sie zum Schweigen bringen. Vertrau mir. Ein letztes Mal. Wenn dieses Kapitel geschrieben ist, sind wir sicher. Und wenn Humboldt uns tatsächlich auf die Spuren kommen sollte, dann hat er mindestens so viel zu verlieren wie wir. Wenn nicht mehr. Er ist wie eine Marionette in unserer Hand. Und für den Notfall haben wir ja Horowitz.«

»Es ist dein Plan. Aber er beginnt mir zu gefallen. Wenn nötig, kann ich auch selber Hand anlegen. Es wäre nicht das erste Mal!« Das Ebenbild verzog sein Gesicht zu einem bösartigen Grinsen.

Der Notar

Zürich, Winter 1952

»Da kann ich leider nichts für euch tun, Jungs. Die Bank braucht einen Totenschein. Ohne das Dokument ist nicht bewiesen, dass eure Eltern wirklich im Konzentrationslager gestorben sind. Und ohne Totenschein keine Erbübertragung. Aber macht euch deswegen mal keine Sorgen. Ich werde weiterhin im Sinne der Familie von Werdenberg agieren und euch nach bestem Wissen und Gewissen unterstützen.« Die geröteten Augen und die feisten Wangen des Notars erinnerten an einen Schweinekopf.

George Orwell lässt grüßen.

Genüsslich schloss der Wanst sein üppiges Mittagessen mit einem Schluck Portwein ab. Der Schweinekopf war durch ein imposantes Doppelkinn mit dem Körper verbunden, welcher die Nähte des maßgeschneiderten Anzugs aus edler englischer Seide arg strapazierte. Draußen pfiff ein eisiger Wind um die herrschaftliche Villa, und auf den Fensterscheiben hatten sich skurrile Eiskristalle gebildet.

Der Notar stand wankend auf und balancierte auf seinen dürren Beinen. Schulmeisterlich legte er seine fettigen, feuchten Hände auf die Schultern der beiden konsternierten Brüder und schob sie sanft ihn Richtung der herrschaftlichen Treppe. Er pflegte sein Mittagessen in der Bibliothek im ersten Stock einzunehmen. Der Salon im Parterre war für seine exklusiven Abendempfänge reserviert. »Meine Haushälterin hat Zimmerstunde. Ich bringe euch noch zur Tür. Dann müsst ihr mich aber entschuldigen. Ich hatte gestern einen strengen Abend und möchte mich ein wenig hinlegen. Das schreckliche Wetter ist Gift für meine Gelenke«, jammerte der Wanst weinerlich.

Alexander von Werdenberg blieb abrupt stehen und schüttelte den Kopf. Er konnte seinen Ärger nicht mehr zurückhalten. »Wie stellen Sie sich das denn vor? Mein Gott – unsere Eltern wurden von den Nazis umgebracht. Meinen Sie etwa, man hätte in den Konzentrationslagern feinsäuberlich Totenscheine ausgefüllt?«

Der Notar lächelte scheinheilig und legte theatralisch seine Handgelenke übereinander. »Mir sind leider die Hände gebunden. Der Bankdirektor der Schweizerischen Bankgesellschaft war diesbezüglich unmissverständlich. Ich begreife ihn. Da könnte ja jeder kommen und …«

Er war nicht in der Lage, den Satz zu Ende bringen. Der jüngere der von Werdenbergs hatte den selbstherrlichen Gauner am Kragen gepackt und schrie ihn an. »Du verdammter Kriegsgewinnler! Wir sind nicht irgendwelche Dummköpfe, die sich von dir noch länger an der Nase rumführen lassen. Du hast lange genug auf unsere Kosten gefressen und rumgehurt! Dir werde ich es zeigen …«

Der Notar war tot, bevor er unten an der Treppe ankam. Wahrscheinlich hatte er sich bereits beim ersten Aufprall das Genick gebrochen. Fett schützt nun einmal weniger gut als eine robuste Muskulatur. Das rechte Bein stand in einem unnatürlichen Winkel ab. Die Brille lag zerschlagen ein Stück weiter Richtung Tür, und um den leblosen Körper bildete sich rasch eine Pfütze mit gelber Flüssigkeit.

Nicht jedem ist ein so schneller und schmerzloser Tod vergönnt.

Die beiden Windhunde des soeben verstorbenen Notars trotteten aus dem Salon, schnupperten an dem leblosen Bündel und schlichen mit eingezogenem Schwanz zu ihren Wolldecken neben der Eingangstür. Dort legten sie sich ruhig und elegant hin, als wären sie Komparsen eines Filmsets, die auf ihren Einsatz warteten.

»Na, bravo, kleiner Bruder! Gut gemacht. Glaubst du, wir kommen jetzt schneller an unser Geld?« Alexander von Werdenberg schaute seinen Bruder tadelnd an.

Dieser zuckte nur mit den Schultern. »Dir wird schon etwas einfallen. Lass uns schnell verschwinden, bevor die Haushälterin auftaucht. Ich würde die nette Dame nur ungern ins Jenseits befördern.«

Sie traten hinaus, schlugen den Mantelkragen hoch und verschwanden im heftigen Schneesturm.

Stöck, Stich, Wyss

Kilchberg, 3. Oktober

»Vierblatt«, sagte Martin laut und deutlich. Es war kurz vor Mitternacht und es ging nun um alles oder nichts. »Alles« war in diesem Fall die Ehre, »nichts« der Abwasch. Er warf die Karte mit einer schwungvollen Handbewegung auf den grünen Spielteppich.

Philipp atmete laut aus. »Nein, das darf doch nicht wahr sein. Jetzt schnappen die uns den Sieg vor der Nase weg.« Resigniert spielte er seine Karte.

Vincent, Martins Spielpartner, ballte seine freie Hand euphorisch zu einer Becker-Faust. »Endlich! Ich habe schon geglaubt, nur die anderen beiden schnorren ihre Punkte heute Abend … Aber Qualität setzt sich eben langfristig immer durch. Auch beim Jassen!«

Er knallte seine Karte genussvoll auf den Tisch, und Armand, der Vierte im Bunde, folgte ihm, wenngleich weniger theatralisch.

»So, das sollte reichen«, griente Vincent zufrieden. Er zählte sorgfältig die Punkte auf der schwarzen Schiefertafel zusammen und blickte triumphierend in die Runde. »Geschafft! Meine Herren, viel Spaß beim Abwaschen!«, sagte er schadenfreudig.

»Stopp, stopp, stopp. Nicht so eilig«, intervenierte Armand mit ruhiger Stimme, fast schon staatsmännisch. »Ich will ja nicht den Spielverderber geben, aber hier und heute gilt doch die Regel: ›Stöck, Stich, Wyss‹ – oder habe ich mich da vor fünf Stunden verhört?«

Er versuchte, seine Euphorie zu unterdrücken, was ihm misslang. Er strahlte über das ganze Gesicht. Der Staatsmann war dem Kinde im Mann gewichen. Vincent sah ihn ungläubig an und rechnete nach. Seine Mundwinkel zeigten gegen Süden. Sein Körper verlor an Spannung und sank leicht nach vorne, als wollte er Abbitte leisten. Die Euphorie war so rasch verschwunden, wie sie gekommen war.

»Das darf nicht wahr sein. Sag mir, dass das nicht wahr ist. Bitte!«, flehte Vincent seinen Freund an.

Doch alles Bitten half nichts. Armand hielt den Trumpfkönig und den passenden Ober in die Luft, was zum Sieg reichte. Er bedankte sich nun seinerseits, was beim Jassen so viel bedeutet wie: »Wir haben gewonnen!«

Philipp und Armand sprangen auf und klatschten sich ab. Nur wer mit dem traditionellen Schweizer Kartenspiel vertraut ist, kann diese spontane Emotion nachvollziehen. Am ehesten ist sie vergleichbar mit dem Siegestor in letzter Sekunde bei der Fußballweltmeisterschaft. Obwohl das Glück einen maßgeblichen Einfluss auf das Spiel hat, ähnlich wie beim Fußball, wo oft lediglich Zentimeter über Glück oder Unglück, Sieg oder Niederlage, ewigen Ruhm oder Depression und dies notabene einer ganzen Nation entscheiden – also trotz oder vielleicht gerade wegen all dieser Zufälligkeiten, die man sicherlich mit Können und geschickten strategischen Winkelzügen beeinflussen kann –, ist für einen eingefleischten Kartenspieler an einem kompetitiven Abend nichts so wichtig wie der Sieg. Ein Sieg, der zu genau diesem Zeitpunkt alles andere in den Schatten stellt – Karriere, Familie, Stress, Probleme jeglicher Art – und der sich in ebendieser kurzen Euphorie entlädt, die von der Dauer her in etwa mit einem Feuerwerksvulkan mittlerer Größe (Modell Everest) vergleichbar ist.

Nachdem diese Zeit verstrichen war, zeigten sich Vincent und Martin – beides enge Freunde Philipps aus der gemeinsamen Studienzeit – als gute Verlierer und machten sich zügig an den Abwasch, wobei die größte Arbeit die Spülmaschine übernahm, die nichtsdestotrotz sorgfältig gefüllt werden musste.

Währenddessen schenkte Philipp sich und Armand den letzten Schluck Guado al Tasso ein. Die drei leeren Flaschen zeugten von einem gemütlichen Abend im Freundeskreis und hatten das Rinderfilet mit Risotto perfekt begleitet. Der Kartenabend fand heute turnusgemäß bei Philipp zu Hause statt. Da er der beste Koch der Männerrunde war und sich bei der Weinauswahl nie lumpen ließ, war dieser Anlass für sie ein Jahreshighlight. Sophie und die Kinder hatten den Abend in den anderen Räumen des großzügigen Hauses verbracht.

Armand hielt seinem Freund eine Zigarette hin, und die beiden gingen in den Garten hinaus, um im Schutz der Lounge zu rauchen. Armand trat kurz ans Küchenfenster, klopfte und hob jubelnd die Arme in die Höhe. Vincent quittierte, über die Spülmaschine gebückt, mit dem Wetzen von zwei Fleischmessern.

»Lass es gut sein, Armand, sonst macht unser Vinc heute Abend kein Auge zu.«

Philipp öffnete nochmals die Verandatür, um den Beagle rauszulassen, der an der Scheibe gekratzt hatte. Philipp erinnerte sich gerne daran, wie er die kleine Bella vor einigen Jahren im Appenzellerland zum ersten Mal gesehen hatte. Diese Rasse sei, so die Leiterin des Tierheims, ausgesprochen familienfreundlich, intelligent und treu. Bella im Speziellen sei immer fröhlich, spielbereit und pflege einen äußerst harmonischen Umgang mit ihrem Herrchen. Sogar von einer unglaublichen Problemlösungskompetenz war die Rede. Alle Attribute stellten sich als wahr heraus, einmal abgesehen von der Problemlösungskompetenz. Bella war jedenfalls zu einem festen Bestandteil der Familie geworden. Das nasskalte Wetter behagte der alten Hundedame wenig, sodass sie nach einem kurzen Abstecher ins Gras sogleich wieder in die warme Stube verschwand.

»Schwupp und weg. Schläft neuerdings bei unserem Jungen im Bett. Dort hören sie zum Einschlafen zusammen die Geschichten der Drei ???. Wir haben den Widerstand aufgegeben. Chancenlos.«

»In meinem nächsten Leben wäre ich auch gerne ein Hund. Aber nur bei euch. Fressen, saufen, schlafen, ein bisschen die Beine vertreten und rund um die Uhr verwöhnt werden. Und zum Einschlafen dann sogar noch Justus, Peter und Bob! Was will man mehr …«

Philipp lachte laut auf. Er hielt die Zigarette in der hohlen Hand, um sie vor dem Wind zu schützen, nahm einen tiefen Zug und blies den Rauch in den trüben Nachthimmel.

»Gehe ich recht in der Annahme, dass du und Verena nach wie vor Stress habt? Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, warum du sonst aus einem Napf unter meinem Tisch fressen willst.«

Ein trauriges Lächeln huschte über Armands Gesicht. Er blickte gedankenverloren auf die andere Seeseite. Nur wenige Lichter brannten um diese Zeit, sodass sich dunkle Löcher in die exklusiven Hügel der Goldküste fraßen.

»Gut geraten, Sherlock. Ich glaube, Verena wird mich verlassen. Vielleicht hat sie das schon getan und ich habe es einfach nicht gemerkt. Wer kann es ihr verdenken? Sie hat sich in einen Priester verknallt und einen Bullen bekommen. Früher habe ich den armen Teufeln die Beichte abgenommen, heute jage ich sie.«

Philipp suchte nach tröstenden Worten für seinen Freund. Den Gemeinplatz, dass jede zweite Ehe geschieden werde und die Trennungsquote von unverheirateten Paaren wie bei ihnen noch wesentlich höher liege, nahm Armand schweigend zur Kenntnis. Auch die Vorschläge, es mit einer längeren gemeinsamen Reise zu versuchen, hellten seine Stimmung nicht auf. Trübsinnig fuhr er fort.

»Als wir uns in meiner Priesterzeit kennenlernten, hat Verena etwas in mir gesehen, etwas in mich hineininterpretiert, was ich nun mal nicht bin. Vielleicht hat auch das Verbotene damals einen gewissen Reiz ausgeübt. Gereist sind wir übrigens zur Genüge: Argentinien, Kanada, Japan, Paris, Rom, London, Lissabon … Du hast mich ja finanziell gut unterstützt.«

Philipp wiegelte ab. Die Sache mit der Tasche hatte ihr erstes gemeinsames Abenteuer beendet. Philipp hatte sich damals bei Armand großzügig für dessen Hilfe bedankt. Mit einer Sporttasche – gefüllt mit Tausendernoten. Die beiden Freunde sprachen selten darüber. Eine informelle Abmachung.

»Versteh mich richtig, Philipp, Verena und ich werden hoffentlich Freunde bleiben. Aber unsere Beziehung hat keine Zukunft. Sie muss ihr Leben neu sortieren und ich meines.«

Sie standen eine Weile still unter dem Vordach und lauschten dem Geschirrgeklapper in der Küche.

»Genug Trübsal geblasen«, sagte Armand und drückte seine Zigarette im Gras aus. »Wie geht es der Familie? Die haben sich ja gut versteckt heute.«

Philipp nickte schmunzelnd. »Gut erzogen halt.« Dann drückte er seine fast runtergerauchte Zigarette ebenfalls aus, hielt Armand die offene Hand hin und entledigte sich beider Kippen in einem leeren Blumentopf. »Die Kleine ist Zucker. Mit zwölf zwar kurz vor der Pubertät, aber da mache ich mir keine Sorgen. Michelle ist gut im Gymnasium, weiß, was sie will, und kommt ganz nach ihrer Mutter. Die zwei sind ein Herz und eine Seele. Ich könnte sie tagelang nur ansehen und es würde mir keine Sekunde langweilig werden. Und Sophie als Rechtsprofessorin hat zu Hause natürlich immer Recht. Na ja, das kennst du ja.«

»Und der kleine Wildfang?«

Philipp atmete laut aus und schnorrte vor der Antwort eine weitere Zigarette von Armand. Ratlos zog er die Schultern und Augenbrauen hoch. »David kommt definitiv nach mir! Mit neun ist er natürlich noch voll in der Persönlichkeitsentwicklung. Er steht sich manchmal selbst im Weg und ist unkontrollierbar wie eine V2-Rakete. Er hat zwei Gesichter. Einmal farbig, dann wieder schwarz-weiß, wie die Seiten bei den alten Micky-Maus-Taschenbüchern. Neulich hat er den Sohn des Dorfmetzgers verdroschen, der notabene einen Kopf größer ist als er selbst. Anscheinend hat der Junge unsere Michelle auf dem Schulhof gehänselt, und das kann David nicht leiden. Weckt seinen Beschützerinstinkt.«

»Ist doch super, wenn er seine Schwester verteidigt«, sagte Armand und versuchte, sein Patenkind in Schutz zu nehmen.

»Schön und gut. Aber deshalb muss man ja nicht gleich zuschlagen. Weißt du, was er zu dem Metzgersohn gesagt hat, als dieser mit blutiger Nase unter ihm am Boden lag? Ob es denn gern noch ein bisschen mehr sein dürfe …«

Sie mussten laut lachen. Die Erinnerungen an die Metzgereibesuche in ihrer eigenen Jugendzeit waren noch sehr präsent. Armand klopfte seinem Freund auf den Rücken.

»Mach dir mal keine Sorgen, das wird alles gut mit dem Kleinen. Und sonst hat er ja einen strengen Patenonkel! Apropos Sorgen.« Armand dämpfte die Stimme. »Mir gefällt dein neuer Nebenjob bei dieser Werdenberg Bank überhaupt nicht. Als du vor einigen Jahren die Zürcher Investment Bank verlassen hast, war das der richtige Schritt zum idealen Zeitpunkt. Du führst jetzt das Leben, das du immer wolltest. Warum etwas riskieren? Lass deine Vergangenheit hinter dir. Ich habe echt ein ungutes Gefühl. Es ist gefährlich, in trüben Gewässern zu fischen, man weiß nie, was man an Land zieht.«

Philipp hatte geahnt, dass sein Freund ihm bei der erstbesten Gelegenheit ins Gewissen reden würde. Armand war es damals gelungen, Philipp zu helfen, seine Dämonen zu kontrollieren. Philipp hatte ihn dafür aus der scheinheiligen Welt der Engel befreit, in der er sich als Priester bewegt hatte. Daraus war eine tiefe Freundschaft entstanden. Er vertraute seinem Freund blind. Beide hatten den Schritt aus ihrer Komfortzone gewagt und ihr Outfit getauscht – Philipp den Anzug gegen die Tweedjacke und Armand den Talar gegen die Polizeiuniform. Die Kriminalpolizei Zürich hatte ihren ehemaligen Beamten gerne wieder aufgenommen, trotzdem musste sich Armand wegen seines Abstechers in die klerikale Welt so einige Sprüche anhören.

Die zwei Freunde betrachteten eine Weile die Lichter auf der gegenüberliegenden Seeseite. Die Löcher in der weihnachtlichen Lichterkette waren noch größer geworden. Philipp versuchte, seinen Freund zu beruhigen.

»Ich habe mir das Projekt nicht ausgesucht. Die Rektorin hat mir sozusagen die Pistole auf die Brust gesetzt. Aber die Vorteile sprechen für sich. Die Universität bekommt ein riesiges Legat und ich mein eigenes Institut. Das ist eine einmalige Gelegenheit, bei der ich einfach zugreifen muss. Und vor allem geht es bei diesem Projekt ja nicht um meine Vergangenheit, sondern um die der Familie von Werdenberg. Da wird schon nichts passieren. Alexander von Werdenberg ist ein Patron alter Schule, der könnte keiner Fliege etwas zuleide tun. Aber ich werde vorsichtig sein. Versprochen.« Er legte seinem Freund die Hand auf die Schulter. »Und glaub mir, ich habe nicht vor, die alten Geister wiederauferstehen zu lassen.«

Armand nickte nachdenklich, war allerdings nicht wirklich beruhigt. »Vielleicht habe ich auch eine kleine Paranoia entwickelt, seit ich wieder bei der Polizei bin. Déformation professionnelle. Ich habe mich jedenfalls ein bisschen umgehört und außerdem meine Assistentin auf die Privatbank von Werdenberg angesetzt.«

»Und?«

»Die Bank scheint tatsächlich nie in große Skandale verwickelt gewesen zu sein. Keine Bußen wegen Geldwäsche, keine Berichte über nachrichtenlose Vermögen, keine Kartellabsprachen. Einzig im Zusammenhang mit einigen verschwundenen Personen ist sie indirekt erwähnt worden.« Armand legte eine Kunstpause ein. Mit Erfolg.

»Das musst du mir erklären«, sagte Philipp prompt.

»Meine Assistentin ist nicht nur Profilerin, sondern auch ein richtiger Computerfreak. Sie ist zufällig darauf gestoßen, als sie alle Personen, die im Zusammenhang mit der Bank von Werdenberg irgendwo elektronisch erfasst sind, mit unserer Datenbank bei der Kriminalpolizei abgeglichen hat. Frag mich bitte nicht, wie sie das gemacht hat. Auf jeden Fall sind zwischen 1980 und 2016 vier vermögende Personen spurlos verschwunden, die als großzügige Spender bei der Werdenberg Stiftung verdankt worden sind. Wahrscheinlich hat das nichts mit der Bank zu tun. Jedenfalls wurden die Fälle damals von den jeweiligen Staatsanwaltschaften untersucht, die Erben bekamen ihr Geld und es gab keine Verdachtsfälle irgendwelcher Art gegen die Bank. Wo kein Motiv, da keine Tat. Lektion eins in der Polizeischule.«

Philipp schüttelte den Kopf. »Multimillionäre und Milliardäre können exzentrisch sein. Ich kenne das aus eigener Erfahrung. Muss wirklich nichts bedeuten. Vielleicht wurden sie von ihren korrupten Regimen aus dem Weg geräumt und leben heute irgendwo in der sibirischen Tundra.«

Armand lachte. Die Unbeschwertheit seines Freundes hatte ihn beruhigt. »Wenn es dir recht ist, werde ich weiterhin die Ohren offenhalten. Nur für den Fall, dass dieser von Werdenberg doch etwas im Schilde führt.«

Die Freunde nickten sich zu und gingen wieder ins Haus. Im Wohnraum zog sich Vincent gerade seine Jacke über. Martin und Armand taten es ihm gleich. Armand klopfte Vincent dabei kräftig auf den Rücken.

»Glück im Spiel, Pech in der Liebe – oder umgekehrt. Ich gehe jetzt in meine verwaiste Bude und Vincent zu seinem Unterwäschemodel.«

Der Angesprochene griente über beide Ohren. »Und weißt du, was das Beste ist? Sie schläft nie in ihrer Arbeitskleidung.«

Lachend verabschiedeten sie sich von ihrem Gastgeber.

Philipp hatte es sich auf dem Sofa gemütlich gemacht und unvernünftigerweise noch eine Flasche Wein geöffnet. Er wusste, dass er es am nächsten Tag bereuen würde. Bereits der letzte Schluck war einer zu viel gewesen und der davor ebenfalls. Aber es ging ihm zu viel durch den Kopf. Ruhig schwenkte er die dunkle Flüssigkeit in dem tiefen Glas und sog den würzigen Duft ein. Die letzten Jahre waren die glücklichsten in seinem Leben gewesen. Obwohl viel passiert war und seine Kinder unglaublich schnell heranwuchsen, spürte Philipp ein behagliches Gefühl von Zeitlosigkeit, als wenn sein Leben immer so bleiben würde. Es ging stetig bergauf, vorwärts. Sein Rucksack füllte sich mit Erfahrungen und Eindrücken, positiven und negativen, wurde dabei jedoch auf seltsame Weise leichter. Philipp war dankbar für sein Leben. Nicht auf eine religiöse Art und Weise, es war einfach nur eine tief empfundene Zufriedenheit, sein Glück auch als solches wahrzunehmen und sich nicht an unbedeutenden Kleinigkeiten aufzureiben. Neid oder Unzufriedenheit hatte er seit Ewigkeiten nicht mehr verspürt. Konnte man sich das antrainieren oder wurde einem diese Gabe in die Wiege gelegt? Philipp wusste es nicht.

Er nahm einen großen Schluck Rotwein. Seine Gedanken schweiften zur Privatbank von Werdenberg. Philipp hatte die Bankenwelt mit ihren Statussymbolen und Eitelkeiten nie vermisst und die Kontakte seiner alten Netzwerke über die Zeit einschlafen lassen. Alle seine Erinnerungen lagen im Keller in einer kleinen Kartonschachtel: Visitenkarten mit seinen vielen Beförderungsstufen, Präsentationen aus der Anfangszeit, Erinnerungsstücke von exotischen Geschäftsreisen, einige Werbegeschenke. Dennoch freute er sich auf das zeitlich beschränke Projekt in seinem alten Milieu. Er hatte der Bankenwelt schließlich einiges zu verdanken, was er nie vergessen hatte. Und wie er bereits Armand gesagt hatte – das Projekt ermöglichte ihm, auf dem Weg zum Professorenolymp einige Etagen zu überspringen.

Sophie gesellte sich zu ihm und setzte sich auf seinen Schoß. Sie nahm seinen Kopf in beide Hände und küsste ihn auf die Stirn.

»Die Kinder schlafen tief und fest. Und Bella ist wieder in Davids Bett gehüpft …«

Philipp lachte. Als Sophie einmal ein Wochenende mit den Kindern zu ihren Eltern gereist war, hatte er den Hund zu sich in Bett gelassen. Das war aber sein Geheimnis geblieben. Er konnte die kindliche Freude seines Sohnes über die Gesellschaft des treuen Vierbeiners daher nur zu gut verstehen.

Sophie nahm Philipp das Weinglas aus der Hand und trank einen Schluck. Ihr Pyjama fühlte sich warm und flauschig an. Philipp liebte den Geruch ihrer Bodylotion – er musste dabei immer an Zuckerwatte denken.

»Na, wie geht es meinem schlagfertigen Professor Jones?« neckte Sophie ihn und zeigte dabei die kleine Zahnlücke zwischen ihren Schneidezähnen, die bei Philipp auch nach so vielen Jahren noch ein wohliges Kribbeln auslöste – wie bei ihrem ersten Date in der Oper. Das sanfte, kaum wahrzunehmende Lispeln erinnert ihn an das Summen einer Honigbiene.

Er sah seine Frau ehrlich überrascht an. »Von wem hast du das denn? Ist dir unsere gute Rektorin zufälligerweise über den Weg gelaufen? Sie nannte mich neulich sogar einen Krieger.«

»Nein, aber anscheinend wirst du von deinen jungen Verehrerinnen Indiana Jones genannt. Habe ich gehört. Irgendwo auf dem Flur. Du kennst ja die Uni – überall gibt es Augen und Ohren, wie in einem mittelalterlichen Schloss. Hast du dich nie gefragt, warum so viele Studenten und vor allem Studentinnen deine Vorlesungen besuchen? Am Thema kann es ja nur schwerlich liegen.«

Philipp küsste seine Frau innig und lang. »Ist da jemand eifersüchtig?«

»In your dreams. Aber warum nennt Fries dich einen Krieger? Du hast doch nicht schon wieder jemanden verprügelt?« Sie sah Philipp sorgenvoll an.

»Nein, nein«, antwortete dieser wahrheitsgetreu. »Schelbert, die Ökonomieprofessorin, nennt mich so, weil ich gemäß ihren Aussagen alles kriege, was ich will.«

»So, so, die Schelbert. Wenn sie dir zu nahe kommt, kriegt sie auch etwas. Nämlich ein Problem – mit mir!« Sophie lachte laut.

»Ich glaube, das Gegenteil ist der Fall. Ich bin der Schelbert sicher ein Dorn im Auge und traue ihr nicht so richtig über den Weg. Du arbeitest doch in dieser interdisziplinarischen Kommission mit ihr zusammen. Verhält sie sich dir gegenüber korrekt? Sonst kriegt sie es mit mir zu tun«, sagte er schmunzelnd. Es war ihm ernst. Für seine Familie würde er alles tun.

»Danke, dass du mich verteidigen würdest, mein kleiner Raufbold. Aber ich kann mich gut selber wehren und bis jetzt hat sie sich immer freundlich verhalten.«

Sie küssten sich lange und innig. Philipp liebte es, in den dunkelblauen Augen seiner Frau zu versinken.

»Dafür weiß ich jetzt, was ich dir zu Weihnachten schenke.«

»Eine Peitsche wie Indiana Jones?«, fragte Philipp freudig.

»Nein, einen Filzhut«, antwortete Sophie fröhlich und zog ihn an sich.

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22 декабря 2023
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243 стр. 6 иллюстраций
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9783839268629
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