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Die Rektorin gab sich vordergründig verständnisvoll. »Abgemacht. Ich respektiere Ihre Bedenkzeit und werde Herrn von Werdenberg informieren, dass Sie sich morgen für ein erstes Treffen an sein Büro wenden. Die Kontaktnummer werden wir Ihnen zukommen lassen. Jetzt sollten Sie sich aber beeilen, in wenigen Minuten beginnt Ihre Vorlesung.«

Nach einem Blick auf die Uhr blieb Philipp keine Zeit mehr, auf den geschickten Schachzug der Rektorin zu reagieren. Er griff nach seinen Unterlagen und eilte davon.

War er gerade über den Tisch gezogen worden?

Der Vorlesungsraum war zum Bersten voll. Das ganze Ausmaß wurde ersichtlich, als sich Philipp zum Rednerpult durchgekämpft hatte. Der Raum war maßlos überfüllt, vollgestopft wie ein Pendlerzug in Mumbai. Am Eingang hatte sich bereits ein längerer Rückstau gebildet. Die Scheiben waren von innen angelaufen und die Luft war feucht wie in einer Waschküche. Der Sauerstoffpegel lag deutlich unter dem Lärmpegel. Philipp konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen – die Menschenansammlung war seine Rettung. Unter solchen Umständen war an eine reguläre Durchführung der Vorlesung gar nicht zu denken. Er breitete die Arme aus, wie Jesus bei der Bergpredigt. »Guten Morgen. Ich muss Sie leider enttäuschen. Die Autogrammstunde von George Clooney wurde abgesagt. Hier wird nun stattdessen die Vorlesung ›Geschichte der Schweizer Banken seit 1945‹ abgehalten.«

Schallendes Gelächter.

»Nun gut. Ein Versuch war es wert. Aber ich möchte Sie dennoch warnen. Grundlage meiner Vorlesung ist dieses Buch.« Philipp hob seine soeben veröffentlichte Forschungsarbeit in die Höhe. »500 Seiten. Trocken wie ein alter Zwieback.« Er legte den Schmöker vor sich auf das Pult und fuhr fort. »Ich freue mich natürlich außerordentlich über das rege Interesse an meiner Forschung. Mit diesen prekären Platzverhältnissen können wir heute allerdings keine reguläre Vorlesung abhalten. Ich werde versuchen, bis nächste Woche einen größeren Raum zu organisieren. Lesen Sie bis dahin die ersten beiden Kapitel meines Buches. Sie können es kostenlos auf der Webseite meines Instituts herunterladen.«

Anerkennendes Klopfen. Philipp klemmte sich seine Sachen unter den Arm und blickte dann nochmals ins Plenum. »Die zwei Kapitel beleuchten die Entstehung des Finanzplatzes. Ich lege in meinen Vorlesungen und Seminaren großen Wert auf ein profundes Verständnis der historischen Zusammenhänge. Man lebt das Leben zwar vorwärts, aber verstehen kann man es nur rückwärts. Ich wünsche allen einen guten Semesterstart.«

Philipp atmete erleichtert aus. Er konnte noch nicht ahnen, was auf ihn zukommen würde. Vorwärts gesehen.

Der Auftraggeber

»Hat er angebissen?« Seine Stimme klang tief und weich, wie eine Felldecke.

»Ja«, sagte die Rektorin. »Aber genau genommen habe ich zugebissen.«

»Gut, wir bleiben in Kontakt.« Er beendete zufrieden das Telefongespräch. Fries war zuverlässig. Wobei das bei der Summe, die er in Aussicht stellte, zu erwarten gewesen war. Er erhob sich aus seinem imposanten Bürosessel und drückte den Rücken durch. Die Schmerzen waren an diesem Morgen fast unerträglich. Die Bandscheibe und das schlechte Wetter – eine unheilvolle Allianz. Trotzdem fühlte er sich wohl in seiner Haut. Er hatte gelernt, mit dem Leiden umzugehen, und wollte es mittlerweile nicht mehr missen. Die Schmerzen waren das untrügliche Zeichen, dass er noch am Leben war. Nichts setzte so viel Adrenalin im Körper frei. Außer vielleicht Todesangst, das reinste Doping. Und wenn man in seinem Leben so viele Stresshormone durch den Körper gejagt hatte wie Alexander von Werdenberg, konnte man schon süchtig danach werden. Sorgfältig entfernte er einen Fussel am Ärmel seinen Jacketts, zupfte das weiße Einstecktuch zurecht und goss sich dann zufrieden ein Glas trockenen Sherry ein. Alles lief nach Plan.

Bis jetzt.

Bahnhofstrasse

Zürich, 17. September

Schon am nächsten Nachmittag stand Philipp an der Bahnhofstrasse und betrachtete den Eingang der Privatbank von Werdenberg. Zwischendurch ratterte eine der blau-weißen Trams vorbei und versperrte ihm für kurze Zeit die Sicht. Der geheimnisvolle Bankier hatte ihn bei ihrem Telefongespräch freundlich gebeten, gleich wenige Stunden später zu ihm ins Büro zu kommen. Der Hauptsitz der Bank lag, wie nicht anders zu erwarten, an der Straße mit den teuersten Uhren der Welt. Mit dem Einzug der beliebigen Kleiderketten und den weltweit bekannten Marken war die Exklusivität der 1,4 Kilometer langen Bahnhofstrasse zwar verschwunden, aber die gediegene Architektur und das schöne Panorama, vor allem dort, wo sich die Sicht auf den See und die Berge zu öffnen begann, waren geblieben.

Philipp betrachtete interessiert die Fassade des stattlichen Gebäudes, das die Privatbank von Werdenberg beherbergte. Vielleicht hatte hier vor hundert Jahren eine wohlhabende Familie gelebt, die ihr Geld in der Industrie gemacht hatte? Wer weiß. Heute gehörten die Gebäude an der Bahnhofstrasse Banken, Versicherungen, ausländischen Konsortien und vermehrt auch Pensionskassen, die ihr Geld im Betongold anlegten.

Philipp war früh dran und flanierte ein wenig durch die Gegend, die lange Zeit seine Heimat gewesen war. Es fühlte sich seltsam fremd und sogar etwas einsam an, wie wenn man nach vielen Jahren einen alten Freund wiedersieht und sich nichts mehr zu sagen hat. Philipp überquerte den fast menschenleeren Bürkliplatz. Die Mittagspause war schon vorbei und der Feierabend stand erst noch vor der Tür. Die meisten der kaufmännisch Angestellten arbeiteten also gerade oder taten zumindest so. Ein junges Elternpaar war mit seinen Kindern unterwegs, ein Hund schnupperte an einem Hydranten und wollte sich von seinem Herrchen partout nicht zum Weitergehen überreden lassen. Ein asiatisches Paar begutachtete die Einkäufe. Zwei Rentner genossen nach dem verregneten Wochenstart die milden Temperaturen auf einer Parkbank und unterhielten sich ruhig mit lauter Stimme. Das Gespräch drehte sich um die Misere eines Zürcher Fußballklubs. Philipp lächelte – sein Sohn David besaß ein Trikot des Rekordmeisters.

Am Seebecken blinzelte Philipp in die Sonne und genoss das herrliche Panorama. Die Berge schienen an diesem föhnigen Tag wie gemalt und zum Greifen nah. Der See roch nach Wasser mit einer Prise Tang. Laute Musik wummerte aus einem vorbeifahrenden Auto. Möwen kreischten und missgönnten sich jede Brotkrume.

Sehr menschlich, diese Tiere.

Philipp entschied sich, einen Kaffee im Hotel Storchen zu sich zu nehmen, und ging zum Weinplatz hinunter. Da Zürich durch keinen der großen Kriege versehrt worden war, konnte das Hotel Storchen auf eine über 600-jährige Geschichte zurückblicken. Es hatte schon illustre Persönlichkeiten wie Richard Wagner oder Grimmelshausen beherbergt. Dank des schönen Wetters und der milden Temperaturen standen einige Tische vor dem Hotel auf dem Weinplatz. Philipp setzte sich auf einen freien Platz und bestellte eine Tasse Kaffee. Genüsslich zog er die frische Luft tief in seine Lungen. Er überlegte kurz, sich eine Zigarette anzuzünden, ließ dann aber davon ab. Er wollte bei seinem ersten Treffen mit von Werdenberg nicht nach kaltem Rauch stinken. Stattdessen studierte er die Gegend und ließ die Seele baumeln. Das Grossmünster präsentierte sich auf der anderen Flussseite unter dem strahlenden Himmel in seiner ganzen Pracht und die beiden blau-weißen Fahnen auf den charakteristischen Doppeltürmen bewegten sich sanft im Wind. Philipp glaubte fast, ihr Flattern zu hören. Die Kirche soll der Legende nach von keinem Geringeren als Karl dem Großen gegründet worden sein. Und heute war Kaiserwetter. Postkartenidylle.

Vor dem Hotel herrschte Fahrverbot. Eigentlich. Ein Elektroradfahrer schoss ohne Rücksicht auf Verluste in halsbrecherischem Tempo an den Fußgängern vorbei. Er war dabei so auf die Beherrschung seines Gefährts konzentriert, dass er die eindeutige Geste des Kellners, den er beinahe überrollt hatte, nicht bemerkte. Die militanten Radfahrer waren zu einer regelrechten Plage geworden, fand Philipp. Was ihn vor allem ärgerte, war deren heuchlerische Selbstgerechtigkeit, das Gefühl moralischer Überlegenheit gegenüber allen, die sich anders fortbewegten. Dabei bleibt ein Idiot ein Idiot, egal ob er im Auto, auf einem Fahrrad oder sonst wo sitzt. Die Szene war aber in dem Moment schon wieder Geschichte, als Philipp den Kaffee serviert bekam. Sein Lieblingsgetränk, einmal von Rotwein abgesehen, war schon lange zu einer Sucht geworden. Er nahm sofort einen kleinen Schluck. Kaffee musste heiß sein. Kalter Kaffee war für ihn ungenießbarer als die Zeitung von gestern.

An einem Nebentisch saßen einige Banker in dunklen Anzügen. Sie tuschelten und schauten zu Philipp hinüber. Er nickte ihnen kurz zu. Wahrscheinlich hatten sie ihn erkannt oder sogar für ihn gearbeitet. Die Gesichter kamen ihm nicht bekannt vor. Als CEO hatte er viele tausende Mitarbeiter unter sich gehabt. Es konnte allerdings auch an diesen unsäglichen Hipsterbärten liegen, die sie allesamt trugen, dass er sie nicht unterscheiden konnte. Ursprünglich vielleicht einmal als Zeichen von Individualität gedacht, waren die Bärte mittlerweile nur noch Mainstream. Was mochte wohl die Botschaft sein: Hallo, ich bin eigentlich ein unerschrockener Hockeyspieler?

Nun gut.

Philipp schloss die Augen und atmete tief durch. Nicht negativ werden. Er hatte nach seinem Abschied als CEO der Zürcher Investment Bank vor rund vier Jahren einige Zeit gebraucht, um all den Stress und schizophrenen Verfolgungswahn loszuwerden. Er hatte nicht vor, sich wieder dort hineinziehen zu lassen, und zündete sich jetzt doch eine Zigarette an. Er war gespannt auf die erste Begegnung mit dem legendären von Werdenberg. Die Webseite der Bank hatte nicht viel preisgegeben. Es war von einigen hundert Mitarbeitenden zu lesen, die meisten davon arbeiteten in der Peripherie. Lediglich der innerste Zirkel hielt sich an der Bahnhofstrasse auf. Ansonsten fand man die üblichen Floskeln. Transparent wolle man sein. Nichts versprechen, was man nicht einhalten könne. Man konzentriere sich auf die Dinge, die man beeinflussen könne. Philipp kannte die Marketingsprüche bestens aus eigener Erfahrung. Schlussendlich kochten aber alle Finanzinstitute nur mit Wasser. Die einen besser als die anderen, keine Frage. Und die Privatbank von Werdenberg gehörte definitiv zu denen mit vielen Gault-Millau-Punkten.

30 Minuten, zwei Zigaretten und eine weitere Tasse Kaffee später machte sich Philipp auf den Weg zu seinem Termin. Vor dem Gebäude kontrollierte er Krawatte, Hemd, Jackett und Schuhe. Der anthrazitfarbene Anzug saß perfekt, wie gestern gekauft. Die Krawatte hatte er mangels Übung dreimal binden müssen, bis die Länge passte, bündig mit der Gürtelschnalle. Keinen Zentimeter länger, keinen kürzer. Er trat näher an den Eingang heran. Keine Tafel oder sonstige Beschriftung wies darauf hin, dass sich hier ein Geldinstitut befand. Offensichtlich war man nicht an Laufkundschaft interessiert. Und Diskretion hatte in diesem Geschäft bekanntlich noch nie geschadet.

Philipp drückte den unscheinbaren Klingelknopf, nachdem er vergeblich nach einer Klinke Ausschau gehalten hatte. Als habe man bereits auf ihn gewartet, öffnete sich die gusseiserne Tür und er betrat das Gebäude. Dort empfing ihn eine Sicherheitsschleuse mit Gegensprechanlage und einer kleinen Überwachungskamera.

»Sie wünschen?«, ertönte eine sonore Stimme aus dem Nichts.

Philipp bückte sich leicht in Richtung des Mikrofons. »Humboldt. Herr von Werdenberg erwartet mich.« Mit einem lauten Summen, gefolgt von einem metallenen Klicken, wurde die Glastür entriegelt. Auf einer massiven Bronzeplatte stand geschrieben, was alle, die es bis hierhin geschafft hatten, ohnehin schon wussten: »Privatbank von Werdenberg«. An der weißen Wand war ein herrliches Bergrelief abgebildet, wahrscheinlich eine Szenerie aus dem Engadin. Die Werdenberg-Brüder, so viel hatte Philipp in Erfahrung bringen können, hatten dort ein Internat besucht. Das Bild mochte daher eine Reminiszenz an diese Jugendzeit sein. Oder die Marketingabteilung versuchte mit einer guten Portion Swissness davon abzulenken, dass die Privatbank von Werdenberg deutsche Wurzeln hatte.

Philipp ging zum Empfang im ersten Stock. Seine Schritte hallten laut durch das Gebäude. Zu seiner Überraschung wurde er oben an der Treppe nicht von einer der für das Private Banking sonst üblichen ansehnlichen Empfangsdamen begrüßt. Stattdessen nahm ihn ein imposanter älterer Herr mit dem Händedruck eines Holzfällers in Empfang.

»Grüß Gott, Herr Professor Humboldt. Alexander von Werdenberg. Ich freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen.«

»Die Freude ist meinerseits«, erwiderte Philipp freundlich. Neugierig betrachtete er den geheimnisvollen Bankier. Von Werdenberg musste in seiner Jugend eine geradezu furchteinflößende Erscheinung gewesen sein, denn noch heute war er kräftig, vital und strotzte vor Gesundheit. Er war trotz seines Alters immer noch gleich groß wie Philipp, der mit seinen 1,90 Meter nicht zu den Kleinsten gehörte. Die Augen des Patrons leuchteten klar und wach, ohne Anzeichen einer Eintrübung. Die Körperhaltung aufrecht, Rücken und Schultern durchgestreckt. Das scharfe Rasierwasser von Werdenbergs stach Philipp sofort in die Nase, keine Spur von dem leicht süßlichen Geruch, der bei Menschen ab einem gewissen Alter oft wahrzunehmen war. Von Werdenberg war ohne Zweifel der rüstigste Senior, den sich Philipp vorstellen konnte. Was mochte wohl sein biologisches Alter sein? 65? Höchstens. Seine Konstitution war geradezu beängstigend.

Von Werdenberg war sich seiner Wirkung zweifellos bewusst und kam dem obligaten Kompliment zuvor: »Ich war Schwimm- und Fechtmeister an der Universität. Aber das ist lange her. Mittlerweile bin ich auf der falschen Seite der 80. Mein Gelenke knacken am Morgen wie ein antiker Holzstuhl.« Seine Stimme war tief und warm.

Philipp quittierte seine Aussage mit einem ehrlichen Lachen.

Von Werdenberg legte die Hand schwer auf Philipps Schulter und schob ihn vom Treppenhaus in den offiziellen Empfangsbereich. Das Gebäude war in einem Topzustand, als wäre erst gestern eine umfassende Renovierung abgeschlossen worden. Frisch gebohnerte Holzböden, weiße Steinwände, schwarze Designermöbel. An den Wänden hingen Bilder des sonst so fotoscheuen Bankiers, die von Werdenberg mit bekannten Persönlichkeiten zeigten: von Werdenberg kaffeetrinkend mit Helmut Kohl, von Werdenberg in einer Bibliothek neben Johannes Paul II., von Werdenberg zigarrerauchend mit Franz Josef Strauß, von Werdenberg lachend in einer größeren Gruppe um Ronald Reagan, der noch junge von Werdenberg mit sieben älteren Herren, Philipp erkannte Willi Ritschard und Kurt Furgler. Daneben gab es noch kleinere Bilder mit Willy Brandt, François Mitterrand, Margaret Thatcher, Prinzessin Diana und Elizabeth Taylor. So viel Intimität war ungewöhnlich für die sonst auf Diskretion bedachte Privatbank.

Von Werdenberg stellte sich neben Philipp. »Zugegebenermaßen etwas eitel von mir. Alles Unikate. Die Negative liegen in meinem Safe und es gibt keine weiteren Abzüge. Ich habe immerhin gewartet, bis die Damen und Herren von uns gegangen sind. Also eine zweifelhafte Ehre, hier zu hängen.«

»Da haben wir ja dann schon einige Seiten für Ihre Firmengeschichte«, sagte Philipp.

»Sie kommen ja gleich zur Sache, junger Mann. Das gefällt mir. Keine Lebenszeit vergeuden. Vor allem, wenn – wie bei mir – der obere Teil der Sanduhr bald leer ist.« Von Werdenberg sprach ohne Wehmut, eher wie ein Wissenschaftler, der nüchtern ein Faktum erklärt. »Aber diese Persönlichkeiten werden natürlich nicht in unserem Buch auftauchen. Glauben Sie mir, Professor, ich hätte nicht viel Spannendes über die Herrschaften zu berichten, im Gegensatz zu den Damen.« Für einen kurzen Augenblick huschte ein Ausdruck von Melancholie über sein Gesicht.

Von Werdenberg erinnerte Philipp an einen Schauspieler, dessen Name ihm partout nicht einfallen wollte. Es blieb keine Zeit nachzudenken, denn zwei Frauen traten aus einem der Sitzungszimmer, die sternförmig um den Empfangsbereich angeordnet waren. Beide waren dunkel gekleidet. Die eine trug ein elegantes schwarzes Deux-Pièces. Mit den hohen Schuhen und kurzgeschnittenen blonden Haaren hätte sie auf das Titelbild jeder Bankbroschüre gepasst. Die andere wirkte in ihrem schwarzen Hosenanzug und mit den offenen langen Haaren eher wie eine Künstlerin oder Journalistin.

Von Werdenbergs Augen strahlten noch heller. Er winkte die Frauen zu sich. »Darf ich Ihnen vorstellen: Da wäre einmal Julia von Werdenberg, meine Tochter, und Frau Loppacher, freischaffende Journalistin, aber de facto schon fast eine feste Mitarbeiterin bei uns. Frau Loppacher wird Sie beim Schreiben unserer Firmengeschichte unterstützen. Sie ist quasi Ihre Ghostwriterin und wird die relevanten Informationen rasch in eine gut leserliche Form bringen.«

Philipp nickte den Damen zu. »Na dann, auf eine gute Zusammenarbeit«, sagte er freundlich zu der Frau mit den offenen Haaren. Diese quittierte mit einem verlegenen Lächeln und schielte zu ihrer Begleiterin. Philipp bemerkte seinen Fauxpas.

Von Werdenbergs Tochter reagierte souverän. »Es hat mich gefreut, Sie kennenzulernen, Herr Professor Humboldt. Wir lassen Sie jetzt in der Obhut meines Vaters. Sie haben sicher einiges zu besprechen.« Sie drückte den Knopf des Personenaufzuges. Julia von Werdenberg hielt offensichtlich wenig von Smalltalk.

Sehr sympathisch.

Sie verabschiedeten sich und Philipp betrat mit von Werdenberg den Lift. Der Patron hielt eine Karte an den Sicherheitssensor und drückte auf den Knopf neben der Aufschrift »Privat«. Danach verschwanden die Damen hinter der Fahrstuhltür, die sich mit einem sanften Summen schloss.

Der Privatraum des Firmenchefs beherbergte eine stattliche Bibliothek. Die schwarzen Regale mit den glänzenden Chromstahlverstrebungen waren perfekt auf das moderne Design des Raumes abgestimmt. Von Werdenberg war offensichtlich jemand, dem die Details wichtig waren. Er schätze hier oben, hoch über der hektischen Bahnhofstrasse, die Kraft der Ruhe, erklärte von Werdenberg. Das habe nichts mit seinem Alter zu tun, schob er rasch nach. Schon zu Beginn seiner Karriere habe er Menschenansammlungen nach Möglichkeit gemieden. Diesen Wunsch nach Diskretion teile er mit vielen seiner Kunden. Leider hätten in letzter Zeit eitle Selbstinszenierung und schlechte Manieren die Oberhand gewonnen. Er selbst habe sich immer an den Maximen orientiert, die Marc Aurel in seinen Aphorismen formuliert habe: hart an sich arbeiten und die einem auferlegten Pflichten erfüllen. Er ging zur Bücherwand, die sicher einige hundert Werke umfasste, und winkte Philipp zu sich. Mit sichtlichem Stolz wies er darauf. »Alles Erstausgaben. Einige datieren bis ins Mittelalter zurück.«

Philipp war ehrlich beeindruckt. »Nach welchen Kriterien haben Sie Ihre Sammlung angelegt?«

Von Werdenberg nickte zufrieden. »Endlich jemand, der die richtigen Fragen stellt und nicht mit irgendwelchen Gemeinplätzen seine Unwissenheit zu kaschieren versucht.« Beinahe zärtlich strich er mit der Hand über die ledernen Buchrücken. »Der Schwerpunkt der Sammlung befasst sich mit den verschiedensten Aspekten der Macht und des Bösen. Ein erfolgreicher Manager, der nicht mindestens einmal Machiavelli gelesen hat? Undenkbar. Ein CEO, der nicht mit den Schattenseiten des Lebens Erfahrungen gesammelt hat? Unwahrscheinlich.« Der Patron war in seinem Element. Sei es denn nicht die Kraft und die Vitalität des Bösen, die uns Menschen fasziniere? Hätten nicht alle eine dunkle Seite in sich, der man nur zu gerne einmal Auslauf gewähren würde? Wer wolle nicht aus den tristen Routineabläufen ausbrechen, die einem von Kindesbeinen an durch Eltern, Schule, Staat und Kirche vorgegeben würden? Die Beschäftigung mit dem Bösen bedeute doch nur, dass man sich selbst auf der Spur sei. Man stelle sich Faust ohne Mephisto vor oder den Fledermausmann ohne den Joker. Kafka habe mit Fug und Recht behauptet, dass das Gute allein trostlos sei. »Aber verzeihen Sie, Herr Professor. Ich langweile Sie sicher mit dem dummen Geschwätz eines alten Mannes.«

Philipp war elektrisiert. Er hatte den Ausführungen von Werdenbergs nichts hinzuzufügen. Jeder hat seine dunkle Seite, niemand wusste das besser als er selbst. Philipp zeigte sich als guter Zuhörer. »Nein, Sie langweilen mich gar nicht, im Gegenteil. Ich muss gestehen: Machiavelli habe ich mehrmals gelesen. Bücher haben mich immer fasziniert. Schon mein Deutschlehrer am Gymnasium hat uns geraten, niemandem zu trauen, dessen Fernseher größer ist als die Bibliothek.«

Der Patron lachte herzhaft.

Damit war das Thema abgehakt. Von Werdenberg setzte sich ohne weitere Worte in einen modernen italienischen Designerstuhl und wies Philipp an, ebenfalls Platz zu nehmen. Er goss beiden einen Whiskey ein und trank nach britischer Manier, ohne anzustoßen. Das Getränk roch nach Torf und Holz. Das lodernde Feuer in von Werdenbergs Augen war verschwunden und professioneller Nüchternheit gewichen. Der Verkauf seines Lebenswerks an die Zürcher Investment Bank sei für ihn, so von Werdenberg, nach langer Überlegung die beste Lösung. Er wolle »die vom Paradeplatz« aber noch etwas zappeln lassen und den Preis in die Höhe treiben. Die Schallgrenze von einer Milliarde Schweizer Franken sei durchaus realistisch. Er zeigte sich jetzt als der knallharte Geschäftsmann, der er war. Das Geld sei ihm so wichtig, weil der größte Teil des Erlöses in die Stiftung seiner Tochter fließen solle. Eine fundierte Publikation über sein Unternehmen käme ihm und vor allem seiner Tochter gelegen.

»Sie sehen also, Herr Professor, ich will etwas Positives hinterlassen. Es geht um nichts Geringeres als mein Vermächtnis.« Von Werdenberg machte eine kurze Pause und drückte den Rücken durch. »Meine Tochter will das Familienunternehmen nicht weiterführen. Nicht aufgrund fehlender Fähigkeiten, sondern weil sie andere Interessen hat. Das Sein war für sie schon immer wichtiger als das Haben. Ganz die verstorbene Mutter. Ich muss den letzten Schritt nun initiieren, solange ich den Prozess noch selber in der Hand habe. Ich konnte mich bis jetzt auf meine robuste Gesundheit verlassen, aber machen wir uns nichts vor. Ich bin in einem Alter, in dem man bei jeder Todesanzeige unwillkürlich auf den Jahrgang des Verstorbenen blickt.«

Es wurde kurze Zeit still wie in einem vollbesetzen Wartezimmer. Dann nahm von Werdenberg den Faden wieder auf. »Bitte erzählen Sie mir doch einmal, warum Sie vor vier Jahren die Zürcher Investment Bank als CEO verlassen haben. Ihr mutiger Schritt hat für einigen Wirbel gesorgt auf dem Bankenplatz. Gibt es irgendwelche Leichen im Keller der Bank, von denen ich wissen müsste?«

»Nein, es sind keine Leichen begraben«, log Philipp, ohne zu zögern. »Die Zürcher Investment Bank ist kerngesund«, ergänzte er wahrheitsgetreu. »Ich wollte damals aus meiner Komfortzone ausbrechen. Etwas Neues ausprobieren, Adrenalin spüren, spannende Dinge lernen. Und vor allem mehr Zeit für meine Familie haben. Bereut man dereinst nicht die Dinge, die man nicht getan hat?«

Von Werdenberg nickte kaum wahrnehmbar. »Sie haben so recht, mein lieber Professor. Die meisten Menschen kleben in ihrer Komfortzone wie die Fliege im Netz. Und erst die Ausreden, warum man nicht das Leben führen kann, von welchem man als Kind geträumt hat: Immer ist es gerade zu heiß, zu kalt, zu früh, zu spät, zu einfach oder zu kompliziert, um sein Leben in die eigene Hand zu nehmen.«

Eine Frage brannte Philipp unter den Nägeln: »Warum ist Ihre Wahl auf mich gefallen? Es gibt sicher Professoren und Journalisten, die mindestens so gut, wenn nicht sogar besser für die Aufgabe geeignet wären.«

Von Werdenberg zögerte keine Sekunde mit der Antwort. »Sie kennen die Zürcher Investment Bank und deren Führungsetage wie kein Zweiter. Ich kann mir beim besten Willen keinen idealeren Sparringspartner vorstellen. Und als ehemaliger Topmanager können Sie mit Zeitdruck umgehen. Die Arbeit muss Ende Januar fertiggestellt sein. Besser schon früher. Wir wollen ja nicht den Pulitzer-Preis gewinnen.«

Philipp legte die Stirn in Falten. »Das wird sehr knapp werden.«

Von Werdenberg machte deutlich, dass der Termin nicht verhandelbar sei. »Alle Informationen liegen auf dem Tisch. Wir werden uns so oft treffen, wie Sie es für nötig halten. Bei diesen Meetings werde ich Ihnen alle Fragen beantworten. Ihr Team wird Zugang zu meinem Bankarchiv erhalten. Wir haben bereits viele Unterlagen aufgearbeitet. Alle bekannten Hintergrundinformationen findet man in den üblichen Pressearchiven. Darüber hinaus werden wir Ihnen ja Frau Loppacher zur Seite stellen. Sie werden von ihr begeistert sein. Und Sie haben sicher einen Assistenten, den Sie abkommandieren können. So werden Sie in kurzer Zeit ein Manuskript verfassen. Ich besitze einen eigenen Verlag in Deutschland, der die Abschlussarbeiten übernehmen wird. Ich will das Projekt vorantreiben, solange ich noch kann. Jeder stirbt an einem Tag.«

»Aber an allen anderen nicht«, dachte Philipp laut.

»Schön gesagt! Von wem ist dieser Satz? Shakespeare?«

»Nein. Snoopy …«, antwortete Philipp trocken.

Von Werdenberg hob die Augenbrauen und zögerte einen Moment. Dann lachte er schallend und nahm einige Dokumente aus einer Ledermappe. »Hier sind die üblichen Formulare hinsichtlich Vertraulichkeit. Ich bitte Sie, diese zu unterschreiben und an uns zu retournieren. Es wartet leider ein Kunde auf mich. Haben Sie sonst noch Fragen, Herr Professor Humboldt?«

»Nein. Aber ich möchte mich nochmals für Ihr Vertrauen und die großzügige Spende bedanken. Ich hoffe, ich werde alles zu Ihrer Zufriedenheit erledigen.«

»Daran habe ich keine Zweifel. Wir haben Ihre Karriere mit großem Interesse verfolgt, Herr Humboldt. Wir sind uns ähnlich. Ähnlicher, als Sie ahnen.«

Philipp nahm diese Aussage als Kompliment. Dass sie auch eine versteckte Drohung sein könnte, wäre ihm zu diesem Zeitpunkt nie in den Sinn gekommen.

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22 декабря 2023
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9783839268629
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