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EIN PAAR AUFGABEN FÜR DIE THEORIE

Die Geschichte, die im Erwärmungszustand wiederkehrt, ist nicht von beschwingter modernistischer Art, kein überquellender Strom an Ereignissen, die durch Zweck und Richtung miteinander verbunden sind, und auch alles andere als ein Zug, auf den man aufspringt: Vielmehr ist sie eingefroren. Und genauso wenig kehrt die Natur als jene intakte Vielfalt wieder, wie sie Jameson in den Zwischenräumen der Moderne ausfindig gemacht hat: Eher noch scheint sie zu schmelzen. Nichtsdestotrotz handelt es sich dabei allem Anschein nach um Geschichte sowie um Natur, und es sieht so aus, als ob die Gesellschaft darunter allmählich zu straucheln beginnt, womit noch lange nicht gesagt sein will, der Erwärmungszustand konstituiere eine totale »kulturelle Logik« in Jamesons Sinne. Denn ungeachtet der Climate Fiction (oder Cli-Fi) in Film und Literatur lässt sich argumentieren, dass ein Großteil der Kultur nach wie vor die Tatsachen globaler Erwärmung ignoriert und dass das eigentliche Kennzeichen der Gegenwart die Leugnung ist, die sich von der alltäglichen Unterdrückung des Wissens darüber, was vor sich geht, über die Topografien des sozialen Lebens bis hin zu jenem Mann erstreckt, der im November 2016, gerade als die arktischen Temperaturen alles in den Schatten stellten, die Präsidentschaftswahl in den USA gewann. Was die Politik in den entwickelten kapitalistischen Ländern anbelangt, so wird der Klimawandel völlig von Fragen der Einwanderung und erstarkendem Nationalismus überschattet. Ein paar Worte zu dieser Prioritätenabfolge wollen wir uns für später aufheben. Was jedoch die Palette an kulturellen Ausdrucksformen angeht, wäre es eine schwierige Aufgabe zu zeigen, dass der Klimawandel die Art, wie wir schreiben, kommunizieren, bauen, planen, schauen und imaginieren, dermaßen grundlegend verändert, wie es laut Jameson die Postmoderne getan hat. Denn die postmoderne Blase platzte nicht einfach, als sie mit den steigenden Temperaturen in Berührung kam – im Gegenteil erweist sie sich als äußerst widerstandsfähig und immer weiter aufblasbar.

Das Zeitalter des allgegenwärtigen Bildschirms kann selbstverständlich als die höchste Stufe der Postmoderne betrachtet werden, als ein stetig wachsendes Spiegelkabinett, in dem sich, frei von jeglichem Außen, Schatten, Gedächtnis und jedweder langfristigen Erwartung, beleuchtete Oberflächen gegenseitig reflektieren. Permanente Konnektivität setzt »die kapitalistische Endzeitvision eines Posthistoire« um, schreibt Jonathan Crary in seinem scharfzüngigen Buch 24/7. Schlaflos im Spätkapitalismus: Darin zeigt sich die Vollendung einer homogenen Gegenwart, ein Raum, in dem die Vergangenheit ausgelöscht wurde und alles auf Abruf unverzüglich zugänglich ist. Nicht nur negiert dieser Raum natürliche Rhythmen, etwa das Bedürfnis nach Schlaf; er bietet zugleich ein klösterliches Leben abseits der neuen temps. »Je mehr man sich mit den elektronischen Surrogaten des physischen Selbst identifiziert, desto mehr scheint man seine persönliche Freiheit gegenüber dem planetarisch voranschreitenden Biozid zu beschwören.«30 Das heißt, je mehr man sich in den virtuellen Kokon zurückzieht, desto mehr sondert man sich von den Dingen ab, die in der Natur geschehen. Sollte diese Einschätzung zutreffen, und sollten die elektronischen Immersionstechnologien weiterhin Fortschritte machen, was gewiss zu sein scheint, dann wird der postmoderne Zustand durchaus weiterhin in der Lage sein, sein Territorium zu verteidigen und sogar auszuweiten.

Es fällt schwer, die Plage, die im Sommer 2016 auf die westliche Welt niederging, nicht als mustergültigen Beleg dieses Umstands zu verstehen. Es gab Momente, in denen man keinen Abendspaziergang durch einen Park machen konnte, ohne das Gefühl zu bekommen, dass nahezu jede:r – mit ausdruckslosem Gesicht, den Blick aufs Handy geheftet – umherirrte, auf der Jagd nach einem Ziel, das allein im virtuellen Raum existierte. Wie viele Wanderungen wurden auf diesem sich erwärmenden Planeten nun auf der Suche nach Pokémons unternommen, auch in New York und anderen von steigenden Meeren bedrohten Städten? Selten war der Zustand des digitalen Lebens – eine Sphäre ohne Zeit und ohne Natur – so weit in den öffentlichen Raum vorgedrungen, dass selbst Märsche, Massenanstürme, Zusammenkünfte und andere Formen kollektiver Pseudoaktionen losgetreten wurden, nur aus Freude daran, in der Welt zu sein, ohne tatsächlich an ihr teilzuhaben. Unter dem dichten, an Theodor W. Adorno angelehnten und entsprechend düsteren Titel »Media Moralia. Reflections on Damaged Environments and Digital Life« schreibt Andrew McMurry, dass »die neue Medienökologie hereinplatzt, um die Leere zu füllen, die die alte Natur hinterlassen hat«. Indem er dem »Schlafwandeln« neue Bedeutung verleiht, sei der postmoderne Zustand, Schritt haltend mit der Erwärmung, tiefer als je zuvor in das Denken eingesickert. »Die Außenwelt«, also der Ort, an dem die Erwärmung stattfinde, fährt McMurry fort, »ist mittlerweile zweifelhaft, größtenteils irrelevant und, sofern sie überhaupt noch wahrgenommen wird, nur von fern auszumachen«: Zwischen ihr und uns liegen die undurchdringlichen »Schleier« der digitalen Medien.31 Oder in den Worten von Kae Tempest: »Wir starren auf den Bildschirm / so müssen wir nicht sehen, wie unser Planet stirbt.«32

Doch auch wenn der postmoderne Zustand in seinem digitalen Stadium in der Lage ist, Menschen in vergeistigte Kleidung zu stecken, die sie davor schützt, mit dem Biozid in Kontakt zu geraten, entgeht er dennoch nicht dem Kampf mit einem Furcht einflößenden Gegner. Denn dem Erwärmungszustand steht ein ganzes Set an biogeochemischen und physikalischen Gesetzen zur Seite. Diese tragen dazu bei, dass seine Übergriffe immer häufiger und stärker werden; liegt es schließlich in der Naturgewalt des Prozesses, dass dem Klimawandel die Tendenz eingeschrieben ist, so gut wie alles andere zu verschlimmern und zu überschwemmen. Ob auf einem um sechs Grad Celsius wärmeren Planeten jedoch noch viele Menschen Augmented-Reality-Spiele spielen werden? Und ist nicht gerade die Verleugnung, insbesondere in ihrer unterdrückenden und zwanghaften Ausgestaltung, eine gegensinnige Affirmation, in der sich ausdrückt, dass das Ding, um das es geht, vorhanden ist, und zwar überall, nur knapp unterhalb der Oberfläche, eine beunruhigende Präsenz im kollektiven Unterbewusstsein – womöglich ist die Erderwärmung, um einen weiteren Begriff von Jameson zu verwenden, ein politisches Unbewusstes, das die Kultur schon längst durchzieht. Womöglich sind deren unerträgliche Implikationen an sich bereits genügend Anreiz, um sich in so etwas wie eine erweiterte Realität zu flüchten. Was es auch sein mag – und wir werden auf das Phänomen der Leugnung noch zu sprechen kommen –, sobald der Klimawandel ins Bewusstsein sickert, geht damit die Erkenntnis einher, dass mehr und weitaus Schlimmeres noch folgen wird. Denn letztlich richtet der Erwärmungszustand, gleich der Frau auf dem Cover von Climate Trauma, seinen Blick in Richtung Zukunft. Er wird sich bemerkbar machen. Sollte die Postmoderne also ein Missstand aus Amnesie und Verdrängung sein – als wären Zeit und Natur tatsächlich verschwunden –, dann könnten wir den Erwärmungszustand als die Realisation – im doppelten Wortsinn – einer grundlegenderen Krankheit oder eines Unrechts auf Erden betrachten.

Drei mögliche Verläufe konkurrieren derzeit darum, wie diese Realisation aussehen soll. Erstens: Das business as usual läuft weiterhin Amok, die Ziele 1,5 und zwei Grad Celsius werden verfehlt, die Temperaturen steigen innerhalb dieses Jahrhunderts Richtung drei-, vier-, sechsgradiger Erwärmung, und die materiellen Grundlagen für die menschliche Zivilisation zerfallen nach und nach. Zweitens: Die Fossilwirtschaft wird zerschlagen, vorzugsweise innerhalb weniger Jahrzehnte, die Erwärmung verlangsamt sich und lässt schließlich nach, sodass die Zivilisation weiter voranschreiten kann. Oder drittens: Es kommt zum Geo-Engineering. Zwischen- sowie Mischformen sind denkbar – besonders die Kombinationen aus zwei und drei oder eins und drei –, doch die ungeheuren Kräfte, die im Erdsystem freigesetzt wurden, sowie der langfristige Aufschub ernst gemeinter Schadensminderung schließen einen reibungslosen Ablauf hin zu erneuerter Klimastabilität mittlerweile aus. Der Zeitraum für gemäßigte Resultate und halbe Sachen ist kleiner geworden. Für den Fall, dass der zweite Pfad mit maximaler globaler Entschlossenheit eingeschlagen würde und es dadurch gelänge, die schlimmsten Szenarien zu verhindern, müssten die Transformationen technologischer, ökonomischer, politischer sowie kultureller Art derart umfassend sein, dass dem Klima zumindest für einige Zeit all das, was an menschlichem Leben noch vorhanden wäre, unterzuordnen wäre – zumindest so lange, bis die Klimadestabilisierung zur fernen Erinnerung würde. Genau diese Logik steckt hinter Naomi Kleins »Dies ändert alles«-Theorem, ganz gleich, welcher Realisationsverlauf auch eingeschlagen werden mag.

Selbstverständlich stellt die Erderwärmung nur eine der Facetten des Biozids dar, aber unter all den andauernden Umweltkrisen wohnt gerade ihr eine besondere innere Triebkraft und das Potenzial zur allgemeinen Zerstörung inne. Mit ihrer Angewiesenheit auf vergangene und zukünftige Bezüge widerspricht ihre zeitliche Logik geradewegs der hyperspatialen Postmoderne. Sie repräsentiert die auf die Gesellschaft einprasselnde Geschichte und Natur und färbt dadurch die Wahrnehmung. Eine Theorie für die Gegenwart sollte sich daher auf die Erderwärmung als eine sich entfaltende Tendenz einschießen und lernen, der Spur zu folgen, die dieser Sturm zieht. Sie sollte dem sich abzeichnenden Zustand und den grundlegenden Parametern für das Handeln darin gründlich auf den Zahn fühlen: zunächst etwa, indem sie fragt, was diese Natur ist, die da gerade zurückkehrt? Verdient sie diesen Namen überhaupt noch? Ist sie nicht bereits derart mit Kultur vermengt, dass ebendieser Begriff sich nicht mehr länger für sie eignet? Und wenn es sich tatsächlich noch um Natur handelt, was ist passiert, dass sie diese entsetzliche Gestalt annahm? Wer oder was hat dieses Sturmsystem aufgepeitscht – die Kräfte der Materie, der Menschheit oder irgendein Bindeglied, das die beiden verschmolzen beziehungsweise auseinandergerissen hat? Und auf welchem Weg ist die Geschichte bis in etwas wie das Klima des gesamten Planeten vorgedrungen, das doch einst als überzeitlich galt?

Als großer Vermenger und Eindringling fegt der Klimawandel zwischen den beiden traditionellerweise als »Natur« und »Gesellschaft« bezeichneten Bereichen hin und her. Da trifft es sich ganz gut, dass die zeitgenössische Theorie gerade intensiv mit dieser eskalierenden wechselseitigen Durchdringung beschäftigt ist und am laufenden Band Bücher, Artikel, Sonderausgaben produziert und Konferenzen sowie wissenschaftliche Tagungen aller Art veranstaltet zu einigen entscheidenden allgemeinen Fragen: Was in aller Welt ist dieses Ding namens Natur? In welcher Beziehung steht sie zur Gesellschaft? Wer sind die eigentlich mächtigen Akteur:innen in dem Drama, das die beiden miteinander verwebt; wie knüpft der Mensch an materielle Objekte an; sind es Technologien oder Verhältnisse, die die Fäden in den Händen halten; was konstituiert eine ökologische Krise; was können wir jemals über all diese Dinge wissen? Hierbei lassen sich verschiedene Formen des Konstruktionismus, der Akteur-Netzwerk-Theorie, des Neuen Materialismus, des Posthumanismus, der Metabolischen-Riss-Theorie, des Kapitalismus als Weltökologie und eine Unzahl weiterer konzeptioneller Denkansätze ausmachen, die sich mit der Verwicklung von Gesellschaftlichem und Natürlichem auseinanderzusetzen versuchen. Kann aber eine dieser Formen Orientierung bieten für den Weg, den der Sturm nehmen wird? Dieses Buch macht sich daran, ein paar jener Theorien zu überprüfen, die angesichts des Klimawandels am Kreuzungspunkt Natur/ Gesellschaft zirkulieren.

Nun mag Theorie nicht unbedingt als die dringlichste Unternehmung in einer sich erwärmenden Welt erscheinen. Man wird das Gefühl nicht los, dass die einzig sinnvolle Aufgabe momentan darin besteht, alles andere auf sich beruhen zu lassen und die Verbrennung fossiler Energieträger physisch zu unterbinden, die Luft aus den Reifen zu lassen, die Landebahnen zu blockieren, die Plattformen zu belagern und in die Minen vorzudringen. Tatsächlich liegt der einzige Nutzen von Donald Trumps Wahlsieg darin, dass er die letzten noch verbliebenen Illusionen zerstreut hat, etwas anderes als ein organisierter, kollektiver, militanter Widerstand hätte auch nur ansatzweise eine Chance, die Welt irgendwo anders hin als kopfüber, mit maximaler Geschwindigkeit, in den kataklysmischen Klimawandel hineinzustoßen. Denn gesagt wurde doch schon alles; jetzt ist es Zeit für die Konfrontation. Dieses Buch will keine Argumente zur Beschwichtigung derartiger Impulse liefern. Es wurde jedoch in der Überzeugung geschrieben, dass manche Theorien die Situation verständlicher machen können, während andere das Verständnis trüben. Denn dem Handeln ist weiterhin am besten mithilfe konzeptueller Karten gedient, auf denen die kollidierenden Kräfte mit größtmöglicher Genauigkeit verzeichnet sind, nicht mittels verschwommener Diagramme und diffusem Denken, woran, wie wir sehen werden, keinerlei Mangel herrscht. Theorie kann Teil des Problems sein. Wenn in einer sich erwärmenden Welt alles der Reevaluierung preisgegeben ist, muss das zwangsläufig auch für die Theorie gelten: Auch sie wird zur Rechenschaft gezogen, muss ihre Relevanz beweisen und ihre Beteiligung offenlegen, selbst wenn manche ihrer Produzent:innen sowie Konsument:innen nie in Betracht ziehen würden, sich an einer direkten Aktion gegen fossile Brennstoffe zu beteiligen.

Dieses Buch ist nicht das erste, das zu dieser Auseinandersetzung drängt; wie wir sehen werden, kommen die zu betrachtenden Theorien langsam überein, dass die Frage nach dem Klimawandel ihr gemeinsamer Prüfstein sein wird, eine Frage, die jede Theorie beantworten muss, um sich zu bewähren.33 Daran anschließend erst lassen sich ein paar spezifischere Kriterien aufstellen. Eine adäquate Theorie sollte in der Lage sein, das Problem als ein geschichtliches zu begreifen, als eines, das durch den Wandel der Zeit – die Geburt und fortwährende Expansion der fossilen Ökonomie – aufgekommen ist und in deren Verlauf zu Veränderungen beigetragen hat. Sie sollte den Sinn hinter dem Akt des Ausgrabens und Anzündens fossiler Brennstoffe ausmachen können. Selbst eine innerhalb des kapitalistischen Landesinneren formulierte Theorie sollte nicht zuletzt dem Umstand Rechnung tragen, dass die globale Erwärmung eingangs gerade dort vor Anker geht, wo der Modernisierungsprozess noch nicht abgeschlossen ist. Menschen, denen es an den grundlegendsten Annehmlichkeiten fehlt, die es sich nicht leisten können, sich innerhalb eines Spiegelkabinetts einzurichten, die weiterhin von jener Art Natur leben, die Jameson durch die amerikanischen Städte der 1980er ausgetilgt vorfand, stehen als Erstes in der Schusslinie. Die meisten der aus den steigenden Meeren gefischten Leichen sind die ihren.

Einem Ort wie New York City ist es möglich, sich von einem Sturm zu erholen und den Blick wieder auf die Bildschirme zu richten, wohingegen sich dem Erwärmungszustand auf den Philippinen nur schwerlich die kalte Schulter zeigen lässt. Daher auch die oft vermeldeten Ergebnisse einer Umfrage des Pew Research Center aus dem Jahr 2015: 79 Prozent der Einwohner:innen von Burkina Faso gaben an, hinsichtlich des Klimawandels »sehr besorgt« zu sein, im Vergleich zu lediglich 42 Prozent der Japaner:innen, die sich weitaus größere Sorgen (72 Prozent) hinsichtlich des Islamischen Staats machten.34 Burkina Faso wird in diesem Augenblick vom Klimawandel zerstört, Staub- und Sandstürme – vor Ort als »die roten Winde« bekannt – verschütten, was auf dem von immer unregelmäßigeren Regenfällen verdorrten Land an Nutzpflanzen noch erhalten ist.35 Beharrlich zeigt sich das Motiv größerer Besorgnis in den Entwicklungsländern. Das Bruttoinlandsprodukt korreliert negativ mit diesem Gefühl: Menschen in Ländern wie Brasilien oder Bangladesch neigen in einem viel höheren Maße als ihre Mitmenschen in den USA oder in Großbritannien dazu, das Problem als höchst gravierend einzuschätzen, auch wenn das Unbehagen im Land selbst wiederum bestimmt genauso stratifiziert ist.36 Der Erwärmungszustand als eine doppelte Realisation stellt sich zunächst innerhalb jener Massen ein, die ohnehin über kein nennenswertes Eigentum verfügen und überwiegend an den Peripherien der kapitalistischen Weltwirtschaft zu finden sind. Es handelt sich um eine Binsenweisheit, dass die menschliche Verfassung sich in ihrer konzentriertesten und verhängnisvollsten Form innerhalb der Massen ausdrückt: Gerade deshalb sollte jede Theoretisierung ihre Antennen auf sie ausrichten. Ein Ereignis wie Hurrikan Sandy ist deshalb so bedeutsam, weil es das Signal bis vor die eigene Haustür übermittelt.

Was, außer bloße Verzweiflung, kann dann aber durch eine Theorie für den Erwärmungszustand überhaupt angeregt werden? Anders ausgedrückt: Wenn sowohl die 1,5-Grad-Celsiusals auch die 2-Grad-Celsius-Leitplanken durchbrochen worden sind, sollten wir nicht einfach zu dem Schluss kommen, dass der Sturm unkontrollierbar wütet und wir genauso gut Däumchen drehen könnten? Nein. Zuallererst sollten wir den Schluss daraus ziehen, dass der Bau eines neuen Kohlekraftwerks oder der fortgesetzte Betrieb eines alten, all die Ölbohrungen, der Ausbau eines Flughafens oder die Planung einer Autobahn mittlerweile eine irrationale Gewalttat darstellen. Vieles spricht dafür, dass es sich bei der großflächigen Verbrennung fossiler Energieträger seit jeher um Gewalt gehandelt hat, fügt sie anderen Menschen und Arten schließlich Schaden zu, und dass sie, seitdem die klimawissenschaftlichen Grundlagen weitgehend bekannt sind, jedweder Vernunft zuwiderläuft. Sobald aber die Temperaturen um 1,5 Grad Celsius gestiegen sind oder ein Meeresspiegelanstieg von mehreren Metern in das Erdsystem geschleust worden ist, ist das nie gekannte, wahnwitzige Aggressionsmaß der Verbrennungen schlicht nicht mehr zu leugnen. Fiel die Auflehnung gegen fossile Brennstoffe bisher eher dürftig aus, so sollte sie nun erbittert betrieben werden: Selbst nach all dem gebt ihr nicht auf. Der Kampf besteht darin, die Verluste zu minimieren und die Überlebenschance zu maximieren. Was damit ganz konkret zu erreichen sein wird? Zu dieser Frage werden wir gegen Ende nur ein paar sehr kurze und vorläufige Überlegungen anstellen können. Vorerst aber wollen wir von der Prämisse ausgehen, dass jede sich mit dem Erwärmungszustand befassende Theorie den Kampf um Klimastabilisierung – mit der Zerstörung der Fossilwirtschaft als dem notwendigen ersten Schritt – als ihren praktischen, wenn auch nur ideellen Bezugspunkt festzusetzen hat. Denn erst dadurch wird der Weg frei sein für Handlungen und Widerstand.

KOHLEFUND AUF LABUAN

Um nun aber die Gegenwart zu theoretisieren, bedarf es eines Bilds der auf ihr lastenden Vergangenheit.

Im zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts setzte das Britische Imperium Dampfschiffe ein, um seine Gebietshoheit weiter auszudehnen und die Aneignung von Ressourcen aus der ganzen Welt zu beschleunigen. Diese Schiffe benötigten Kohle. Daher wurden Akteure der kaiserlichen Maschinerie – Offiziere, Ingenieure, Kaufleute – angewiesen, überall dort nach Kohleflözen Ausschau zu halten, wo sie auf Land treffen würden, etwa auf Borneo, wo 1837 ein Missionar auf ein paar Ausstriche stieß. Seine Entdeckung löste einen Ansturm auf das schwarze Gold dieser weit abgelegenen, jedoch geradewegs auf der Strecke zwischen Indien und China liegenden Insel aus, die das Potenzial zum Treibstoffdepot für Dampfboote barg, die nun die Küsten ebenjener Länder frequentierten. Die Reserven, die die größte Neugier entfachten, befanden sich auf einer kleinen Insel namens Labuan. Vor der nördlichen Spitze Borneos als besonders gut geeigneter Anlaufhafen gelegen, war Labuan von üppigen Tropenwäldern bedeckt, inmitten derer sich dicke Kohleadern fanden.37


Der Kapitänleutnant der Royal Navy, der die Expedition leitete, stellte die Szene später in einer Lithografie dar. Darauf sind zwei schwächliche weiße Männer abgebildet, die auf ein Kohleflöz deuten, das zwischen hohen Bäumen und einem Fluss hervorragt. Der Mann in der rechten Ecke trägt die Uniform eines Offiziers der Royal Navy: Er repräsentiert die Militärmacht, mit der das Empire in diesem Dschungel gelandet war. In einer eigentümlich aufrechten Haltung, den Blick in Richtung des Offiziers gewandt, gestikuliert der andere Mann an der Fundstelle ungestüm und enthusiastisch; höchstwahrscheinlich malt er sich die Kohle als Quelle des Glücks aus, ein Material, das sein Unternehmen gewinnen und an Dampfschiffe verkaufen kann, nicht zuletzt an die von der Navy betriebenen.38 Die Szene strahlt freudige Erregung aus, begleitet von einem Gefühl der Überlegenheit und des Anspruchs auf Eigentum. Sie erfasst jenen Moment, in dem ausländische Küsten integriert wurden in die fossile Ökonomie – bei der es sich um eine eindeutig britische Erfindung handelt, die am einfachsten als eine Ökonomie des selbsterhaltenden Wachstums definiert werden kann, die auf dem zunehmenden Verbrauch fossiler Brennstoffe und damit einhergehend auf einem anhaltenden Wachstum der CO2-Emissionen beruht.39 Nie zuvor war die Kohle von Labuan mit derartigen Bestrebungen in Verbindung gebracht worden. Die einheimische Bevölkerung wusste zwar von diesem Rohstoff, hatte ihn aber weitgehend unberührt gelassen: Erst mit der Landung der Briten wurde die Kohle in einen Kreislauf eingegliedert, der sich durch ihre Verbrennung immer weiter auszudehnen begann.

Am Anfang ruhten die Brennstoffe still und starr in der Erde; dann trat jemand ins Bild und begann, sie in der Hoffnung auf Profit und Macht abzubauen. In dieser Hinsicht liefert die Lithografie ein Urbild* der Fossilwirtschaft. Es ist, wenn man so will, das Bild des Sündenfalls (und abwärts, gleich einem Sturz in einen Erdschacht hinein, verläuft auch die Bewegung dieser Wirtschaft). Die unzähligen Wiederholungen eines solchen Aktes während der letzten beiden Jahrhunderte prägen die bezwungene Zeit, die jetzt vom Himmel herabregnet. Wie aber lässt sich dieser Prozess verstehen?

* Deutsch im Original (Anm. d. Ü.).

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9783751803489
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