Читать книгу: «Am Ende des Schattens», страница 3

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Eine Woche später meldete sich endlich das Kaiser-Wilhelm-Institut. Ob er gleich vorbeikommen könne, wollte die Vorzimmerdame wissen, Professor Fischer sei nur heute im Büro und dann wieder für mehrere Wochen verreist.

Unverzüglich machte Dolphin sich auf den Weg. Als er aus dem Wagen stieg und sich dem Gebäude näherte, sah er einen Bronzekopf der Minerva, die, als Hüterin der Weisheit, den Eingang mit undurchschaubarer Miene bewachte. Er trat ein und wurde von einer Mitarbeiterin in Empfang genommen, die ihn in den Ostflügel geleitete. Als sie schließlich die Tür öffnete, saß Professor Eugen Fischer gerade am Schreibtisch vor einer Unterschriftenmappe. Ohne den Kopf zur Seite zu wenden, signierte er mit schwungvoller Geste und präsentierte dabei sein Profil, das in gezackten Schwüngen Nase und Spitzbart verband. Das schräg einfallende Licht arbeitete plastisch seine Denkerstirn heraus, die Wimpern senkten sich wie Schirme. Er ließ sich Zeit. Dann stand er endlich auf und hieß den Gast willkommen.

Nachdem er Kaffee und Cognac hatte servieren lassen, sah er, begleitet von allerlei Geplauder, die Zeit gekommen, grundsätzlicher über sein Metier zu sprechen. Er bezeichne sich zwar als Anthropologe, aber im Grunde sei er überzeugter Rassenhygieniker, auch wenn die derzeitige Regierung das Wort Rasse lieber vermeide. So trage man diesen politischen Empfindlichkeiten Rechnung, wobei sich an der Ausrichtung seiner Forschungen seit 1908 wenig verändert habe. Damals habe er in der Kolonie Südwestafrika, in der Gegend um Rehoboth, Menschen untersucht, deren Vorfahren aus Weißen, die meisten davon Buren, sowie Schwarzen bestanden, in der Landessprache Khoikhoi, im Deutschen besser bekannt als Hottentotten. Im Felde habe er Köpfe vermessen, Fotografien angefertigt und Sippentafeln erstellt, um die Wirkung von Umwelt und Erbe zu erforschen, was ihn zu dem Schluss kommen ließ, dass sich menschliche Rassen ebenso nach den Mendelschen Regeln kreuzten wie zahllose Pflanzen- und Tierrassen.

Plötzlich stand Fischer auf und trat vor das Regal, aus dem er einen Folianten herauszog und vor sich auf den Tisch legte. »Gestatten Sie mir, Mr. Dolphin«, sagte er mit einem gewinnenden Lächeln, »dass ich die wenige Zeit, die uns heute bleibt, dazu nutze, Ihnen meine Forschungsergebnisse etwas genauer darzulegen?«

Und während er den Band öffnete, begann er von der Rassenmischung der Rehoboter Bastards zu sprechen, die man als eine Zwischenstufe zwischen überlegenen Weißen und unterlegenen Schwarzen definieren müsse. Aus diesem Grund hatte er selbst ein strenges Apartheidsystem vorgeschlagen, nach dem die Mischlinge den Kolonialherren, unter anderem als Sicherheitskräfte, zu dienen hätten. Jetzt blätterte er in dem Buch hin und her, bevor er mit einem Mal Dolphin ansah und mit leiserer Stimme fortfuhr. Auch wenn man es heute nicht so deutlich sagen könne, gelte immer noch, dass Mischlinge im Grunde nur ein Lebensrecht hätten, wenn es im Interesse der Kolonialmacht sei. Und dann bat er darum, eine Passage aus seiner Studie vorlesen zu dürfen, was Dolphin mit einem aufmunternden Nicken beantwortete. Fischer befeuchtete seinen Zeigefinger, bevor er weiterblätterte, und schließlich fand er jene Stelle, die er als seine Conclusio bezeichnete.

Also gewähre man ihnen eben das Maß an Schutz, was sie als uns minderwertiger Rasse gebrauchen, um dauernd Bestand zu haben, nicht mehr und nur so lange, als sie uns nützen – sonst freie Konkurrenz, das heißt Untergang.

Der Professor machte eine Pause, um die Worte nachklingen zu lassen. Und dann fügte er hinzu, dass diese zugegebenermaßen kompromisslose Schlussfolgerung nur vor dem Hintergrund des hinterhältigen Hereroaufstands zu verstehen sei, dessen Niederschlagung, mit aller gebotenen Härte, die heilige Pflicht der deutschen Schutzmacht gewesen sei, um die Zivilisierung in diesem Teil der Erde weiter voranzutreiben, eine Mission, unter Erbringung beträchtlicher Opfer, die leider mit Kriegsbeginn beendet werden musste.

Kurzes Klopfen war zu hören, dann erschien die Sekretärin mit der Mitteilung, das Taxi warte bereits. Im Hinausgehen entschuldigte sich Fischer, dass er sich leider verabschieden müsse. Er hoffe aber, zum Ausdruck gebracht zu haben, wie wichtig ihm das Interesse einer so renommierten wie international weitverbreiteten Zeitung an seiner Arbeit sei. Er verspreche hoch und heilig, dass Mr. Dolphin es nicht bereuen werde, wenn sie sich das nächste Mal träfen und dann wirklich alle Zeit hätten, in die Tiefe zu gehen, wie es dem journalistischen Anspruch eines Daily Standard angemessen sei.

Es kostete Dolphin Mühe, sich ein Lächeln abzuringen, als Fischer ihm die Hand gab.

Wie würde Lord Bakerfield reagieren, wenn er die Nachricht bekam, dass die Anregung seines Freundes Churchill noch immer nicht Eingang in die Wochenendausgabe fände?

In Gedanken versunken fuhr er zum Savignyplatz und kaufte die Abendblätter. Verstohlen drehte er sich um und schaute zu dem Kriegsinvaliden hinüber, der wie immer an der Hauswand lehnte. Bei jedem Wetter trug er seinen abgeschabten Militärrock, das Eiserne Kreuz seltsam nach unten verrutscht auf jene Höhe, wo sich die Leber befinden musste. Am verstörendsten jedoch war sein Gesicht. Sein Kinn schien zu einer ballonartigen Geschwulst aufgedunsen, die den einen Mundwinkel grotesk nach oben zog. Der schiefe Mund war stets ein Stück weit geöffnet, als strömten Schreie aus ihm heraus, die niemand hören konnte. Dolphin griff in die Manteltasche, um eine Münze herauszuholen. Er schüttelte den Kopf, als der Veteran auf die ausgebreiteten Waren am Boden deutete. Auf Sicherheitsnadeln konnte er vorerst verzichten.

Zu Hause versuchte er, ein Stichwortprotokoll anzufertigen. Es galt festzuhalten, was Fischer preisgegeben hatte. Lord Bakerfield, so viel war sicher, würde auf dem Artikel bestehen, egal wie mühsam die Recherche auch sein mochte.

7

Nach unruhigen Träumen erwachte Dolphin am frühen Sonntagmorgen und stand auf, um sein Frühstück zuzubereiten. Als er sein Ei löffelte, befleckten Spritzer flüssigen Dotters seinen Hausmantel. Er fluchte und versuchte, sie abzuwischen, ohne rechten Erfolg.

Der Stoff mit dem Paisleymuster hatte ihm sofort gefallen, als er das Kleidungsstück in der Savile Row entdeckt hatte, und seitdem war es wie zu einer zweiten Haut geworden, die er sich an den Wochenenden überstreifte. Es war Teil seines Frühstücksrituals, wie das Zubereiten eines speziellen Darjeelingtees, den seine Mutter aus England schickte. Doch viel zu selten gelang es ihm in letzter Zeit, sich zu entspannen. Selbst am Sonntag arbeitete er wie besessen und suchte in Journalen und Beilagen nach Anregungen, die er womöglich für die Leser des Sunday Standard aufbereiten konnte. Lord Bakerfield, so hatte es ihm kürzlich erst der Chef vom Dienst gesteckt, vermisste neuerdings Themen der kontinentalen Lebensart im Blatt. Wer weiß, welcher Berater ihm das eingeflüstert hatte. Aber warum meldete er sich nicht selbst? Es gehörte zu seinem schwer durchschaubaren Führungsstil, dass er mal großzügig Lob verteilte und teure Geschenke machte, dann wieder nicht zu sprechen war, wenn man ihn dringend zu erreichen versuchte, bis er plötzlich selbst zum Hörer griff, um einen Auftrag zu erteilen oder gar die baldige Abkommandierung zu verkünden. Oder man erhielt gelegentlich vom Chef von Dienst einen diskreten Wink, wie der Herausgeber sich offenbar die weitere Entwicklung seines Blatts vorstellte. Man konnte nie sicher sein, was er als Nächstes tat und dachte, und diese Unberechenbarkeit speiste die Aura seiner Macht.

Dolphin trank einen Schluck Tee und griff in den Zeitungsstapel, der vor ihm auf dem Tisch lag. Eine Frau in Badetrikot zierte das Titelbild von Das Leben. Ella blätterte gerne in der Illustrierten. Mode, Kosmetik und Filmstars interessierten sie. Und Skifahren in den Alpen. Vor ein paar Tagen war sie auf Einladung einer Münchner Freundin nach Garmisch aufgebrochen, ohne auch nur einmal anzurufen, bis zu ihrer Rückkehr gestern Abend. In dürren Worten teilte sie ihm mit, sie wolle ihn am Nachmittag sehen. Fast war er erleichtert. Es musste eine Entscheidung geben.

Er zog eine Beilage des Berliner Tageblatts heraus. Eine Überschrift erregte seine Aufmerksamkeit. Die chemisch gefärbte Frau. Darunter der Name der Verfasserin: Claire Goll. Kürzlich hatte er sie im Romanischen Café gesehen, zusammen mit ihrem Mann, natürlich im Bassin für Schwimmer. Dolphin strich über das Papier. Es hatte eine bessere Qualität als das gewöhnlicher Tageszeitungen. Unverrückbar waren die Blockbuchstaben. Er roch daran. Der Duft von Petroleum war nur noch zu erahnen.

Mit einem Mal stand wieder das Bild des Invaliden vor ihm, wie er, in Sichtweite des Kiosks, auf dem Boden lag. Einmal, als er ihm eine Münze in die Hand drückte, hatte Dolphin sich gezwungen, ihn anzuschauen. Er sah in ein Gesicht, das in unzähligen Operationen zusammengeflickt sein musste, zusammengehalten, wie ihm ein Professor aus der Charité einmal erklärt hatte, von Aluminiumgerippen und Prothesen aus Gelatine. Sein Träger schien sich mit trotzigem Aberwitz gegen die Auflösung der Welt zu wappnen. Den Blick starr nach vorne gerichtet, lehnte er an der Wand. Und alles, was er auf der Filzdecke feilbot, ob Bindfäden, Heftpflaster oder Reißverschlüsse, war dazu da, die Dinge zusammenzuhalten. Doch keine Sicherheitsnadel hatte die Schwimmerin festhalten können. Selbst Hugo von Lustig war ratlos über ihren Verbleib. Womöglich, so spekulierte er, sei sie zu ihrer Geliebten in die Schweiz gefahren.

Er zündete sich eine Zigarette an und griff zu Golls Artikel. Sie hatte Strände an der Côte d’ Azur besucht und beschrieb die neue Leidenschaft der Damenwelt für schwarzbraunen Teint. Hier zeige sich der Sieg der Neger über die Weißen.

Dolphin runzelte die Stirn. Da war er wieder, dieser hochgezüchtete Feuilleton-Stil, der im Bassin für Schwimmer gepflegt wurde. Und in gewohnt ironischem Ton ging es weiter, als Goll über chemische Färbereien für Menschenhaut in Paris schrieb, die weiße Damen in ihr Idol Josephine Baker verwandeln sollten.

Das Gewebe, das uns umhüllt, wird chemisch mit einem wasserdichten Braun durchtränkt. Und man behauptet, dass diese Tinkturen gewisser Schönheitsinstitute ebenso haltbar seien wie deutsche Anilinfarben. Die neue Modefarbe ist garantiert waschecht. Fett fleckt nicht darauf ab, geküsste Stellen werden nicht blasser, sogar Rotwein kann von dem braunen Crêpe de Chine spurlos entfernt werden, ohne Zitrone oder Kleesalz, also ohne Gefahr, Löcher zu hinterlassen.

Wider Erwarten amüsierte es ihn. Die Techniken der Schönheit im Chemiezeitalter. Er zückte sein Notizbuch und füllte etliche Seiten, ohne den Stift abzusetzen.

Zur Belohnung öffnete er eine Flasche Champagner und las in seinen Notizen. So könnte es klingen, sein Berlin-Buch. Rasant, wie Fitzgeralds jazz age. Genießerisch kritzelte er in seinen Anmerkungen herum und leerte Glas um Glas, bis nervöse Schöpferlaune in Müdigkeit umschlug und er auf sein Sofa zusteuerte und sich zu einem Mittagsschläfchen niederlegte.

Es passte nicht zu Ella, dass sie darauf bestanden hatte, Dolphin im Sportpalast zu treffen, ebenso wenig, seinen Einwand, dort sei es viel zu laut, einfach in den Wind zu schlagen. Außerdem kam Ella, die Pünktliche, mit mehr als einer Viertelstunde Verspätung auf die Tribüne. Sie hielt eine Papiertüte wie ein Schutzschild vor der Brust.

Das Radrennen war in vollem Gange, seine Begrüßung ging im Getöse unter. Die Massen feuerten einen Spanier an, der um den Ring raste, mit der Zwangsläufigkeit einer Maschine schwangen seine Oberschenkel auf und nieder.

Ella sah gut aus in ihrem kornblumenblauen Mantel, der das volle blonde Haar zur Geltung brachte, doch sie wehrte ab, als er ihr beim Ablegen behilflich sein wollte. Ein Gürtel umschloss ihre Taille. Dolphin bot ihr, da er nichts anderes hatte, einen Schluck Berliner Weisse an, worauf sie angewidert den Kopf schüttelte.

Er machte ihr ein Zeichen, dass er gleich zurück sei, und ging in Richtung des Getränkeausschanks. Als er zurückkam, war sie verschwunden. Auf seinem Sperrsitz lag eine Tüte vom Kaufhaus Wertheim. Er fand ein Kuvert und eine Schachtel darin. Im Briefumschlag kam ihm eine abgerissene Karte des UFA-Theaters in der Friedrichstraße entgegen. Das indische Grabmal. Er stieß auf weitere Kinobilletts der letzten Monate. Dann öffnete er den Karton. Darin stak eine fast volle Flasche Tabu.

Er schaute in das Flutlicht, das hinter einem Schleier aus Zigarettenrauch verschwand. Wie aus dem Nichts kam der Spanier angeschossen und wurde durch die Steilwandkurve katapultiert. Dann tauchte er wieder auf, in halsbrecherischer Schräglage, auf spiegelnder Bahn. Auch wenn es eine Ellipse war, man bewegte sich bloß im Kreis.

Als er kurz darauf auf die Straße trat, begann es zu schneien. Langsam segelten Flocken aus der Unendlichkeit der Wolkendecke herab. Gebannt schaute er nach oben. Er konnte den Blick nicht abwenden. Eine hypnotische Bewegung, von ganz weit oben hinab ins Bodenlose, wo sich das Bewusstsein in einem weißen Flimmern auflöst.

Er gab sich einen Ruck, trocknete mit einem Taschentuch die tränenden Augen und ging zum Auto. Nach einigen Versuchen gelang es ihm, den Motor zu starten, und vorsichtig fuhr er los, als spürte er noch die Langsamkeit der Flocken.

8

Am nächsten Morgen wurde er von einem Anruf des Kaiser-Wilhelm-Instituts überrascht. Professor Fischer war persönlich am Apparat und unterbreitete ihm das Angebot, seinen besten Doktoranden zu treffen. Leider sei er selbst verhindert, es würde ihm jedoch Vergnügen bereiten, wenn sein Promovend dem Korrespondenten des Standard die in der Fachwelt hoch gerühmte anatomische Sammlung zeige, zu der auch er, Fischer, sein Scherflein beigetragen habe, eine Sammlung mit teils aufsehenerregenden Präparaten, die von unschätzbarem Wert für die moderne Anthropologie sei.

Nachdem der Professor eingehängt hatte, kam Dolphin ins Grübeln. Hatte es Sinn, sich mit einem Subalternen zu treffen, dazu noch ohne Fotografen? Letzterer war bei dieser Thematik ohnehin unabdingbar, wenn es zu einer Titelgeschichte im Sunday Standard kommen sollte. Aber da gerade ein Interviewtermin im Reichstag geplatzt war, entschied Dolphin sich, zum Institut zu fahren.

Im weißen Kittel des Wissenschaftlers stand Hubert Bleichert schon vor dem Eingang, um ihn in Empfang zu nehmen. Lebhaft gestikulierend führte ihn der pausbäckige Mann die Treppen hinauf zum Dachgeschoss, wo sich die anatomische Sammlung befand. In dem Speicher lagerten, dicht gedrängt in Regalreihen, Tausende von Skeletten und Knochen, von denen viele aus dem damaligen Deutsch-Südwestafrika stammten, wie Bleichert stolz bemerkte. Dolphin wurde flau im Magen. Vielleicht lag es an der stickigen Atmosphäre, vielleicht an dem undefinierbaren Geruch mit einem Stich ins Modrig-Süßliche, der über allen Dingen lag. Um sich Luft zu verschaffen, musste er etwas sagen, und da ihm nichts Besseres einfiel, wollte er von dem Anthropologen wissen, wie diese Sammlung zustande gekommen sei.

Bleicherts Augen leuchteten. Er schien auf diese Frage gewartet zu haben und begann, vom früheren Direktor des Berliner Völkerkundemuseums zu erzählen, der kurz nach Niederschlagung des Hereroaufstands angeregt habe, ohne Erregung von Ärgernis, wie er sich ausdrückte, Leichenteile für die Wissenschaft zu retten. Und so sandten Forschungsreisende Schädel von verdursteten Herero an das Museum, die nach der Schlacht am Waterberg von den deutschen Schutztruppen in die Omaheke-Wüste getrieben worden waren, um dort den Tod zu finden. In einem anderen Fall, und jetzt trat Bleichert an das Regal heran und deutete auf gelbliche Knochenreste, handelte es sich um die Gebeine von Arbeiterinnen, die versucht hatten, der Farm eines deutschen Kolonisten zu entfliehen, und dementsprechend ihrer gerechten Strafe zugeführt wurden, und nachdem die Leichen als Corpus Delicti ans Obergericht in Windhuk gelangt waren, schickte sie die Kolonialverwaltung nach dem Gerichtsprozess zu Forschungszwecken nach Berlin.

Dolphin setzte der Geruch zu. Er griff nach seinem Taschentuch und hielt es sich vor die Nase. Unbeeindruckt davon fuhr Bleichert fort. Nur durch Unterstützung von Kolonialbeamten, Rassekundlern, Schutztruppenärzten und Missionaren sei es gelungen, noch in letzter Minute, ehe weitgehende Vernichtung und der Einfluss der modernen Kultur den ursprünglichen Sachverhalt weiter verwischten, die sterblichen Überreste für die Wissenschaft zu sichern. So erst konnte man, vor allem anhand von Schädelreihen, die Merkmale primitiver Rassen genauer bestimmen.

Als der Doktorand kurz innehielt, nutzte Dolphin die Unterbrechung, um auf seine Armbanduhr zu deuten und von einer unaufschiebbaren Telefonkonferenz mit London zu sprechen. Mit Bedauern nahm Bleichert dies auf und führte ihn hinunter zum Eingangstor.

Dolphin atmete tief durch. Er war froh, draußen auf der Straße zu sein, sog die Luft ein, den Geruch von Benzin und Braunkohle. Er sah Bleichert vor sich, mit geröteten Wangen, die sich beim Sprechen zu blähen begannen. Das fanatische Leuchten in seinen Augen, das einen unweigerlich abstieß, als seien Ideen alles und die Objekte seiner Wissenschaft nichts. Und Dolphin wusste nicht, wie er auf den Gedanken kam, der Forscher trage den Ausdruck eines Menschen auf dem Gesicht, der etwas gestohlen hatte.

Zurück im Büro erreichte ihn ein Anruf von Bakerfields Sekretärin, die einen Besuch des Verlegers in der Reichshauptstadt ankündigte. Schon morgen Nachmittag lande er auf dem Zentralflughafen und beabsichtige, im Hotel Adlon abzusteigen. Als Redaktionsleiter werde er gebeten, sich zur Verfügung zu halten.

Dolphin spürte, wie Nervosität in ihm aufstieg. Wie sollte er diese Visite deuten? Bislang hatte der Verleger sich noch nie im Berliner Büro blicken lassen. Kam er, um ihn womöglich noch früher abzuziehen? Oder ging es um die Themen kontinentaler Lebensart? Vielleicht wollte er auch nachschauen, wie weit die Recherche gediehen war. Im Moment verfügte Dolphin lediglich über die wenigen Informationen, die er sich stichwortartig bei den Gesprächen mit Fischer und Bleichert notiert hatte. Ohne ein weiteres Interview mit dem Institutsdirektor, ohne hochwertige Fotos von der Sammlung und eventuell auch historischen Aufnahmen aus Deutsch-Südwest, ergänzt durch aktuelle Auskünfte des Direktors des Völkerkundemuseums, konnte er die Titelgeschichte unmöglich publizieren. Und es gab noch nicht einmal den vereinbarten Folgetermin mit Fischer, der sich, wieder einmal, auf Reisen befand.

Für alle Fälle wies Dolphin die Sekretärin an, Kuchen zu kaufen, denn, so viel wusste er, der Lord liebte Süßigkeiten. Er selbst fuhr zum Kaufhaus des Westens, um dort Bakerfields Lieblingswhisky zu besorgen. Danach saß er lange in seinem Bürosessel, in das kahle Geäst vor seinem Fenster starrend, um vielleicht dort Klarheit zu finden, was dieser Besuch bringen würde.

9

Vorsorglich hatte seine Sekretärin eine Kaffeetafel hergerichtet, als am folgenden Nachmittag das Telefon klingelte und Dolphin ins Adlon beordert wurde. Mit einem Schulterzucken verabschiedete er sich von ihr und sprang in ein Taxi. Als er Dolphin in seiner Suite empfing, war der Verleger von Freunden umringt, die ihn wie einen Kranken umsorgten. Er stellte ihm den Schriftsteller Anthony Bentley vor, der kaum ein Wort sagte, und einen rotgesichtigen Mr. Castleton, der sich, wie er mit einem anzüglichen Lächeln bemerkte, von dem Abstecher nach Berlin Anregungen für seine Kolumnen im Sunday Standard erhoffte.

Zur Begrüßung ließ Bakerfield den mitgebrachten Whisky servieren und äußerte dann, unter reger Anteilnahme seiner Entourage, den Wunsch, dass der hiesige Redaktionsleiter ihnen zunächst einmal das sagenumwobene Berliner Nachtleben zeigen sollte. Dolphins Vorschlag, den Abend mit einem Opernbesuch einzuleiten, stieß auf einhellige Ablehnung, was ihn zur Frage führte, ob ihnen vielleicht eher der Sinn nach Pikanterem stünde. Ein Blick in die Gesichter reichte, um die Kühnheit zu besitzen, einen Tisch im Eldorado zu reservieren.

Der Abend wurde ein voller Erfolg. Die britischen Gäste ließen schnell alle Reserviertheit fahren, ergötzten sich an einem mädchenhaften Afrikaner, der bis auf Schamgurt und Brustschilde seinen ölglänzenden Körper präsentierte, rätselten über dessen täuschend echte Weiblichkeit und sein wahres Geschlecht, bis sie es schließlich anderen Herren gleichtaten und sich den Genuss leisteten, zwischen den Darbietungen mit effeminierten Männern in Frauenkleidern zu tanzen.

In angeheitertem Zustand bat Castleton ihn, Homosexuellen- und Nacktkulturmagazine zu besorgen. Am nächsten Tag, nach einem Katerfrühstück im Adlon, meldete sich auch der schweigsame Bentley. Dolphin bemerkte den prüfenden Blick der Frau am Zeitungsstand, als er zum zweiten Mal erschien. Beim nächsten Botengang, den er im Auftrag des Lords erledigte, schaute sie ihm direkt in die Augen. Es war ihm egal.

Gleich nachdem er Bakerfield und seine Entourage zum Flughafen begleitet hatte, fuhr Dolphin hinaus zum Wannsee. Er atmete tief durch. Der Besuch war völlig anders geendet, als er sich es jemals hätte vorstellen können.

Er genoss es, bei geöffnetem Verdeck, die Sonnenbrille im Gesicht, in seinem Cabriolet zu sitzen, und summte leise einen Schlager. Man konnte, so kurz vor Weihnachten, einfach nur staunen über diese ungewöhnliche Wärme.

Als er in sein Ruderboot stieg, fühlte er sich an seine Kindheit erinnert. Ein Tag wie aus dem Bilderbuch. Mit Segelbooten auf einem tintenblauen See, die sich beim Aufklappen in den Horizont hineinstellten. Ein Häuschen aus Karton richtete sich am Ufer auf, das war die Villa des Malers Liebermann, davor der Rasen, auf dem Birken sich entfalteten mit den letzten Blättern, zitternd wie Papierschnipsel, in blinkendem Gold.

Dolphin hatte diese Bilderbücher geliebt, die Landschaften, Städte und Ritterburgen aus Pappe hochschnellen ließen, wenn man sie öffnete, und in Sekunden eine Welt hervorbrachten, auf die man wie ein Riese herabblicken konnte. Und er hatte den Wannsee geliebt, wo er zum ersten Mal mit seinem Vater rudern gewesen war. Die Szenerie hatte sich kaum verändert, wenn man sie vom Wasser aus betrachtete. Er sicherte die Ruderblätter, nahm das Handtuch und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Da war der Teepavillon am Ufer und der Garten. Man sah das Anwesen des Malers, der es vermochte, die Wahrnehmung so zu manipulieren, dass die Wirklichkeit hinter das Kunstwerk zurückfiel. Liebermanns Birkenallee im Wannseegarten nach Westen war nicht zu übertreffen. Nun lag es in einer entlaubten Fassung vor ihm.

Eine Störung ging von diesem Bild aus. Einige Birken standen mitten auf dem Weg, als habe der Gärtner sie vor vielen Jahren übersehen. Sie waren, so schien es, einfach aus der Reihe getanzt. Dass der Künstler sie stehen gelassen hatte, zeugte von Großzügigkeit und einem traumwandlerischen Sinn für Komposition. Als Betrachter fühlte man sich geborgen, wenn die Wirklichkeit hinter dem Bild verschwand. Schob sie sich zurück in den Vordergrund, war man wieder mit sich allein. Es war ein Gefühl, das jenem ähnelte, nachdem die Schwimmerin verschwunden war. Mit einem Mal war der Zauber erloschen, und es blieb nur die Erinnerung an eine flirrende Begegnung, die ebenso gut eine Illusion hätte sein können. Falls er sie niemals wiedersähe, wovon auszugehen war, läge es jetzt nicht mehr an Lord Bakerfield. Der Verleger hatte ihn zum Abschiedsessen ins Adlon eingeladen und bei Whisky und Zigarren schließlich verkündet, er sei mittlerweile zu der Einschätzung gekommen, dass Berlin doch in vielerlei Hinsicht aufregender und auch journalistisch ergiebiger sei, als man es von der Insel aus wahrnahm. Es sei eine Art Labor des modernen Lebens, das sicherlich auch auf andere Weltmetropolen ausstrahlen werde, und diese Experimente, die vielfach in neue Dimensionen vorstießen und mit althergebrachten Konventionen brächen, müssten auch die britischen Leser interessieren, wo doch das Reich auch verkehrstechnisch immer näher rücke. Man müsste es ja nicht so weit treiben wie die Schriftsteller Isherwood und Auden, die er gestern Abend zufällig in dem famosen Cosy Corner in der Zossener Straße getroffen habe, denn die Jungautoren seien gleich ganz von London aus übergesiedelt und hätten sich hier, und dabei hob er connaisseurhaft die Augenbrauen, zu Inspirationszwecken niedergelassen.

Er jedenfalls ermutige Dolphin ausdrücklich, neben der politischen Berichterstattung auch an die Themen der kontinentalen Lebensart zu denken, und nach allem, was er nun gesagt habe, werde es seinen Gastgeber nicht verwundern, wenn er dessen Vertrag doch für drei Jahre verlängere und den frisch gebackenen Doktor aus Oxford erst einmal zum Parlamentskorrespondenten mache. Außerdem sei es nun an der Zeit, im Berliner Redaktionsbüro mit einem festangestellten Fotografen zu arbeiten. Das Visuelle gewinne heutzutage immer mehr an Bedeutung. Ohne suggestive Bilder, die zudem exakte Recherche mit Anschaulichkeit und Evidenz untermauerten, sei kein Blumentopf mehr zu gewinnen. Und als Zugabe hatte er ihm, unter dem vielsagenden Nicken von Castleton und Bentley, einen Black Label Blended Scotch aus dem Jahr 1918 überreicht.

»Warum Black Label?«, wollte Dolphin wissen.

»Jetzt enttäuschen Sie mich«, schmunzelte Bakerfield.

Er schaute ihn fragend an.

»Keine Idee?«

»Der Afrikaner im Eldorado?« Dolphin wagte ein schüchternes Grinsen,

Lachend schüttelte der Verleger den Kopf. »Kommen Sie«, sagte er und nickte aufmunternd, »das Datum.«

Als Dolphin immer noch schwieg, platzte es aus ihm heraus: »Totale Niederlage, Verlust aller Kolonien, Exil.«

Unter dem Gelächter seiner Freunde öffnete Lord Bakerfield die Flasche, und sie tranken auf den abgedankten Kaiser Wilhelm, dem sein Verrat an der englischen Großmutter einen wenig heldenhaften Abgang beschert hatte.

»Was für ein Hurensohn«, lachte der Verleger, »aber in Holland ist er gut aufgehoben, bevor er in die Grube fährt.« Und dann legte er Dolphin die Hände auf die Schulter, als segne er ihn, und flüsterte: »Ich habe noch Großes mit Ihnen vor.«

Dolphin beugte sich über den Bootsrand und schaute ins Wasser. Hatte Bakerfield es ernst gemeint? Oder war es nur einer Laune entsprungen wie dessen Besuch in Berlin?

Mit dem Schlag des Ruderblatts zerstörte er sein Spiegelbild, das im Kräuseln der Wellen unterging. Und dann legte er sich in die Riemen und ruderte so lange, bis er völlig außer Atem war und die Wirklichkeit von keinem Bild mehr eingeholt wurde.

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Дата выхода на Литрес:
22 декабря 2023
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304 стр. 8 иллюстраций
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9783963115929
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